Es geht auch darum, einzuschätzen, wie weit wir uns von einigen klassischen soziologischen und historischen Themen entfernt haben. Natürlich bleiben die Unterschiede in der Herangehensweise und mehr oder weniger gravierende Meinungsverschiedenheiten bestehen: es kann also keine Rede davon sein, dass wir zu einem gemeinsamen Schluss kommen. Überspitzt ausgedrückt, könnte ich sagen, dass Wallerstein dieses Mal viel weniger »optimistisch« ist als ich, geht er doch davon aus, dass das »Gruppen«-Bewusstsein notwendigerweise die Oberhand über das »Klassen«-Bewusstsein gewinnt oder zumindest die notwendige Form seiner historischen Realisierung darstellt. Es meint zu Recht, dass sich die beiden Begriffe an der (»asymptotischen«) Grenze der Transnationalisierung der Ungleichheiten und Konflikte treffen. Ich glaube allerdings nicht, dass der Rassismus der Ausdruck der Klassenstruktur ist, sondern dass er eine typische Form der politischen Entfremdung ist, die den Klassenkämpfen auf dem Feld des Nationalismus innewohnt und besonders ambivalente Ausprägungen annimmt (die Rassisierung des Proletariats, der Ouvrierismus, der Konsens »zwischen den Klassen« in der aktuellen Krise). Es ist richtig, dass ich bei meinen Überlegungen vor allem das Beispiel der Situation und Geschichte Frankreichs vor Augen habe, wo die Erneuerung der internationalistischen Praxis und Ideologie heute eine unsichere Frage ist. Es ist auch richtig, dass die »proletarischen Nationen« der Dritten Welt oder, genauer gesagt, ihre pauperisierten Massen und die »neuen Proletarier« Westeuropas – bei all ihrer Unterschiedlichkeit – in der Praxis den gleichen Gegner haben: den institutionellen Rassismus und sein politisches Durchschlagen auf die bzw. seine politische Vorwegnahme durch die Massen. Und sie haben die gleiche Hürde zu nehmen: die Vermengung des ethnischen Partikularismus oder des politisch-religiösen Universalismus mit Ideologien, die an sich einen befreienden Charakter haben. Das ist wahrscheinlich das Wesentliche, das wir mit allen interessierten Menschen außerhalb der universitären Zirkel weiter zu bedenken und zu erforschen haben. Ein gleicher Gegner bedeutet indessen weder die gleichen unmittelbaren Interessen noch die gleichen Bewusstseinsformen und noch viel weniger die Zusammenfassung der Kämpfe zu einem Ganzen. Denn dies ist nur eine Tendenz, der strukturelle Hindernisse entgegenstehen. Für ihre effektive Durchsetzung bedarf es günstiger Umstände und praktischer politischer Konzepte. Daher vertrete ich in diesem Buch die Auffassung, dass die (Re-) Konstituierung einer Klassenideologie auf neuen Grundlagen (und vielleicht in neuen Begriffen), die geeignet ist, dem galoppierenden Nationalismus von heute und morgen entgegenzuwirken, einen effizienten Antirassismus zur Voraussetzung hat, wodurch ihr Inhalt bereits bestimmt ist.
Zum Schluss möchten wir den Kollegen und Freunden danken, die zu unserer Freude an dem Seminar mitgearbeitet haben, das diesem Buch zugrunde liegt: Claude Meillassoux, Gérard Noiriel, Jean-Loup Amselle, Pierre Dommergues, Emmanuel Terray, Véronique de Rudder, Michèle Guillon, Isabelle Taboada, Samir Amin, Robert Fossaert, Eric Hobsbawm, Ernest Gellner, Jean-Marie Vincent, Kostas Vergopoulos, Françoise Duroux, Marcel Drach, Michel Freyssenet. Wir danken ebenfalls allen, die sich an den Diskussionen beteiligt haben. Wir können sie nicht alle nennen, aber ihre Beiträge sind nicht vergebens formuliert worden.
Anmerkungen
1 Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass u. a. die Forschungen von Yves Duroux, Claude Meillassoux und Suzanne de Brunhoff über die Reproduktion der Arbeitskraft und die Widersprüche der »Lohnform« einen entscheidenden Einfluss auf diese Überlegungen gehabt haben.
2 Wie es Wallerstein vor allem in Der historische Kapitalismus (Hamburg, Argument Verlag, 2. Aufl. 1989, S. 65ff.) darlegt.
3 Meines Erachtens wird durch diesen Gesichtspunkt auch die Perspektive einer »Konvergenz« der »antisystemischen Bewegungen« in Zweifel gezogen (zu denen Wallerstein zugleich die sozialistischen Bewegungen der Arbeiterklasse und die nationalen Befreiungsbewegungen, den Kampf der Frauen gegen den Sexismus und den Kampf der unterdrückten – insbesondere dem Rassismus ausgesetzten – Minderheiten zählt; sie alle sind potenzieller Teil einer einzigen »Weltfamilie der systemfeindlichen Bewegungen«, Der historische Kapitalismus, a.a.O., S. 96): denn diese Bewegungen erscheinen mir nicht als untereinander »zeitgemäß«, als bisweilen unvereinbar, an universelle, aber unterschiedliche Widersprüche gebunden, mit sozialen Konflikten verknüpft, die in verschiedenen »gesellschaftlichen Formationen« ungleich gewichtet sind. Ich sehe ihre Verdichtung zu einem einzigen historischen Block nicht als eine langfristige Tendenz, sondern als ein durch die Umstände bedingtes Zusammentreffen, dessen Dauer von politischen Innovationen abhängig ist. Das gilt zu Allererst für die »Konvergenz« von Feminismus und Klassenkampf: es wäre interessant, sich zu fragen, warum es praktisch nur in den gesellschaftlichen Formationen eine »bewusste« feministische Bewegung gegeben hat, in denen es auch einen organisierten Klassenkampf gab, wenngleich sich diese beiden Bewegungen niemals hätten verbinden können. Liegt das an der Arbeitsteilung? Oder an der politischen Form der Kämpfe? Oder am Unbewussten des »Klassenbewusstseins«?
4 Ich verwende im Französischen lieber den Begriff embourgeoisement anstelle des von Wallerstein benutzten Begriffs bourgeoisification, obwohl der Ausdruck möglicherweise mehrdeutig ist (ist sie eigentlich so sicher? So wie sich die Militärs aus zivilen Kreisen rekrutieren, stammen die Bürger in der x-ten Generation aus nichtbürgerlichen Kreisen).
Kapitel 1
Gibt es einen »Neo-Rassismus«?*
Étienne Balibar
Wieweit ist es heute angebracht, von einem »Neo-Rassismus« zu sprechen? Das aktuelle Geschehen, dessen Formen von Land zu Land etwas verschieden ausfallen, aber doch deutlich erkennen lassen, dass es sich um ein transnationales Phänomen handelt, zwingt uns dazu, diese Frage zu stellen. Allerdings können dieser Frage zwei verschiedene Bedeutungen gegeben werden: Einerseits die, ob wir heute vor einer historischen Erneuerung der rassistischen Politiken und Bewegungen stehen, die ihre Erklärung in einer Krisenlage oder etwa auch in anderen Ursachen findet, andererseits die, ob es sich hinsichtlich der von ihm besetzten Themen und seiner gesellschaftlichen Bedeutung um einen neuen Rassismus handelt, der sich nicht auf die früher aufgetretenen »Modelle« reduzieren lässt. Ich werde im Folgenden vor allem der Frage in der zweiten Bedeutung nachgehen.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Hypothese, es handele sich um einen »Neo-Rassismus« – jedenfalls in Bezug auf Frankreich – im Ausgang von einer immanenten Kritik der Theorien, der Diskurse, entwickelt worden ist, die auf der Ebene einer Anthropologie oder einer Geschichtsphilosophie dazu beitragen, eine Politik der Ausgrenzung zu legitimieren. Dabei ist nur wenig Mühe darauf verwandt worden, eine Verbindung zwischen der Neuartigkeit der vorgetragenen Thesen und dem neuen Charakter der politischen Situationen bzw. den gesellschaftlichen Veränderungen herzustellen, die dazu geführt haben, dass diese neuen Thesen überhaupt »greifen«. Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass die theoretische Dimension des Rassismus heute wie damals zwar historisch relevant, aber weder eigenständig noch primär ist. Der Rassismus gehört vielmehr – als ein wahrhaft »totales soziales Phänomen« – in den Zusammenhang einer Vielzahl von Praxisformen (zu denen Formen der Gewaltanwendung ebenso gehören wie Formen der Missachtung, der Intoleranz, der gezielten Erniedrigung und der Ausbeutung) sowie von Diskursen und Vorstellungen, die nichts weiter darstellen als intellektuelle Ausformulierungen des Phantasmas der Segregation bzw. der Vorbeugung (d. h. der Notwendigkeit, den Gesellschaftskörper zu reinigen, die Identität des »eigenen Selbst« bzw. des »Wir« vor jeder Promiskuität, jeder »rassischen Vermischung« oder auch jeder »Überflutung« zu bewahren) und die sich um die stigmatisierenden Merkmale des radikal »Anderen« (wie Name, Hautfarbe und religiöse Praxisformen) herum artikulieren. Im Rassismus geht es demgemäß darum, Stimmungen und Gefühle zu organisieren (deren zwanghaften Charakter, aber auch deren »irrationale« Ambivalenz die Psychologen vielfach beschrieben haben), indem sowohl ihre »Objekte«, als auch ihre »Subjekte« stereotypisiert werden. Aus ebendieser Kombination unterschiedlicher Praxisformen, Diskursformen und Vorstellungen