Reinhold Ruthe

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besagtem Tag war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Vorn stand ein geöffneter Sarg. Der Pfarrer bat, dass jeder nun noch einmal vor dem offenen Sarg Abschied nehmen und dann das Gebäude durch das Seitenportal verlassen sollte. Er selbst werde dann als Letzter in aller Stille die Beerdigung abschließen. Allerdings, sollten einige der Meinung sein, eine Wiederbelebung der Kirche sei möglich, dann bitte er diese, durch das Hauptportal wieder hereinzukommen. Mit ihnen würde er dann eine Lob- und Dankfeier abhalten.

      Die Besucher des Beerdigungsgottesdienstes gingen nach vorne zum Sarg, denn sie waren auch neugierig, was wohl darin liegen würde. Wie erstaunt waren sie, als sie sahen, dass in dem Sarg nicht die kalte, tote Kirche lag, sondern sie sich selbst ins Gesicht blickten. Der Pfarrer hatte nämlich einen Spiegel in den Sarg gelegt! Sie waren die Glieder dieser toten Gemeinde! Die meisten kamen durch das Hauptportal wieder in das Gotteshaus zurück.

      So ist es: Wenn die Kirche im Sarg liegt, sind in Wahrheit wir es, die drinliegen. Wenn die Kirche tot ist, sind wir es, die sie haben sterben lassen. Wenn wir die Kirche verlassen, stirbt die Gemeinde.

       So gibt es nun keine Verurteilung mehr für die,

       welche in Christus Jesus sind.

      RÖMER 8, 1

      Viele Christen leiden an sich selbst. Ihre Selbstannahme ist durchlöchert. Sie verurteilen sich gnadenlos.

      Der Begründer der Gestalttherapie, Frederick Pearls, hat mit knappen Sätzen formuliert, was die kranke Persönlichkeit von der gesunden unterscheidet: »Der Verrückte (der Geisteskranke) sagt: ›Ich bin Abraham Lincoln‹, der Neurotiker (der seelisch Gestörte) sagt: ›Ich wollte, ich wäre Abraham Lincoln‹, der Gesunde sagt: ›Ich bin ich, und du bist du.‹«

      Viele Christen glauben nicht, dass Gott sie wirklich liebt. Je größer ihre Minderwertigkeitsgefühle, desto mehr versuchen sie, sich zu profilieren. Sie vergleichen sich mit anderen, die größer, schneller, gescheiter und schöner sind. Der Geisteskranke behauptet, um etwas aus sich zu machen, er sei Abraham Lincoln. Der Neurotiker wäre es gern. Der Gesunde hat Selbstvertrauen. Er ist, wie er ist.

      Christen, die sich von Christus geliebt wissen, müssen sich nicht mehr verurteilen, klein machen und selbst diskriminieren. Sie sind wertvoll, weil Christus sie wertachtet. Sie sind liebenswert, weil Christus sie liebt. Das hat nichts mit Selbstruhm und Eitelkeit zu tun. Der Glaube an Christus und die Selbstannahme sind aufeinander bezogen. Glaubensschwierigkeiten und Selbstwertschwierigkeiten stehen in einem Zusammenhang.

      Sie müssen nicht in Sack und Asche herumlaufen. Menschen, junge und alte, die glauben, gehören zur Gottesfamilie. Gott hat sie in Christus adoptiert. Das gibt Selbstwert und Selbstvertrauen.

       Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

      3. MOSE 19, 18

      Viele Christen haben Schwierigkeiten mit dem Begriff des Angenommenseins und der Selbstliebe. Wer sich selbst liebt und bejaht, hat Selbstwertgefühl.

      Selbstliebe ist ein wesentliches Mittel, um Gott näherzukommen. Ohne ein gesundes Selbstwertgefühl sind wir ausschließlich mit uns selbst beschäftigt. Die Fähigkeit zu dienen setzt ein gesundes Selbstbild voraus.

      Ein gläubiger Psychologe schreibt über die Selbstliebe: »Ist unsere moderne Beschäftigung mit dem Selbstbild in Wirklichkeit ein trojanisches Pferd, das weltliche Vorstellungen in die christliche Kirche hineinschmuggelt? Oder ist ein gesundes Selbstbild ein Segen, der denen geschenkt wird, die Gott kennen? … Eine Prämisse, die sowohl aus biblischer als auch aus psychologischer Sicht Gültigkeit besitzt, ist die, dass wir andere nur lieben können, wenn wir uns selbst angenommen haben. Fünfmal kommt der Satz ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ in der Bibel vor. Jesus bezeichnet ihn als das zweithöchste Gebot. Zunächst müssen wir allerdings einmal zur Kenntnis nehmen, dass dieses Gebot uns nicht in erster Linie auffordern will, uns selbst zu lieben. Die Selbstliebe wird einfach vorausgesetzt.«

      Das ist der springende Punkt: ohne Selbstliebe keine Nächstenliebe, ohne Selbstbejahung keine Bejahung der anderen. Bei Menschen mit schwach entwickeltem Selbstbild beobachten wir Folgendes: Sie leiden unter einer »doppelten Erniedrigung«. Entweder erniedrigen sie sich selbst, in der Hoffnung, andere widersprechen ihnen und bauen sie auf. Oder sie erniedrigen andere Personen, damit sie größer als diese erscheinen. Das oberste Ziel ist aber nicht die Erlangung eines gesunden Selbstbewusstseins, sondern Christus in seiner ganzen Fülle kennenzulernen. Selbstwertgefühl ist das Bewusstsein, dass der Mensch fundamentalen Wert besitzt, weil er von Gott nach seinem Bilde geschaffen wurde.

       Aber Gott rief den Menschen: »Wo bist du?«…

       Der Mann erwiderte: »Die Frau, die du mir gegeben hast,

       reichte mir die Frucht, da habe ich gegessen.«

      1. MOSE 3, 9 – 12

      Wir erleben es täglich selbst, es gibt Lügen und Überzeugungen, die wir glauben.

      Dieser Lügen-Marathon begann im Paradies. Nach dem Sündenfall halten Adam und Eva nicht mehr ihre Köpfe hin. Sie drücken sich, sie reden sich heraus. Beide schieben die Schuld auf den anderen. Adam beginnt mit dem verlogenen Spiel. »Die Frau, die du mir gegeben hast.« Zwei Frechheiten in einem Satz. Und das Ungeheuerliche: Adam glaubt, was er sagt. Er ist ehrlich von dieser »subjektiven Wahrheit« überzeugt. Eva macht es ihm nach. Sie antwortete: »Die Schlange ist schuld, die hat mich dazu verführt.«

      Wir sprechen von Rationalisierungen, von Selbstrechtfertigungen, von Selbsttäuschungen und Lügen, die wir glauben.

      Der amerikanische Psychiater Chris Thurman beschreibt diesen Vorgang so: »Jemand anders ist schuld. Unsere Emotionen stehen und fallen damit, wie wir über die Ereignisse unseres Lebens denken. Die nächste Lüge … erlaubt mir, die Schuld an all meinen emotionalen Ärgernissen, was gerade greifbar ist, anderen in die Schuhe zu schieben. Sie zeigt mit dem Finger auf andere. Jede eigene Verantwortung wird abgewiesen. Wie wir reagieren, ist letzten Endes allein unsere Entscheidung.«

      Die Psychologen sprechen von einem Abwehrmechanismus, den Adam und Eva praktizieren. Sie wehren Schuld und Beschämung ab. Sie laufen vor der Verantwortung davon. Wir haben es teuflisch gut gelernt, die Schuld auf die anderen, auf die Umstände, auf die Politiker, auf den Staat, auf die Kirche, auf die Eltern und Kinder zu schieben. Es sind raffinierte Lügen, die wir glauben.

      Gott schenke uns die Kraft, jede Schuldverschiebung auf andere ehrlich und gründlich zu überprüfen.

       Da fragte der Herr ihn: »Wo ist dein Bruder Abel?«–»Was weiß ich?«,

       antwortete Kain. »Soll ich ständig auf meinen Bruder aufpassen?«

      1. MOSE 4, 10

      Bin ich das Kindermädchen für meine Mitmenschen? Oder haben wir uns vielleicht zu heillosen Egoisten entwickelt?

      Wie oft bin ich stumm gewesen, wo ich eigentlich hätte reden müssen?

      Wie oft habe ich geschwiegen, wo ich eigentlich hätte schreien müssen?

      In seinem Buch »Wer gesehen hat, muss schreien« erzählt Lindolf Weingärtner von einer alten Brücke, die eines Tages einstürzte und viele Menschen mit sich in die Tiefe riss. Nach dem Unglück geschah Folgendes: Menschen sammelten sich an beiden Ufern des Flusses. Und dann erzählte plötzlich einer mit wichtiger Miene, dass er gewusst habe, was passieren würde. Vor drei Wochen war er nämlich am Mittelpfeiler getaucht, weil sich ein Außenbordmotor seines Bootes gelöst hatte und bei der Brücke im Fluss versunken war. Dabei hatte er festgestellt, dass der Pfeiler völlig unterspült war und nicht mehr lange tragen würde.

      »Und