Reinhold Ruthe

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und Luft von der Mutter bekommt … Genauso ist es mit uns. Das Wort der Versöhnung, das Jesus Christus ist, ist diese Nabelschnur zwischen uns und unserem himmlischen Vater. Solange diese Nabelschnur uns verbindet, leben wir.«

      Versöhnung ist Leben. Feindschaft, Tod und Trennung haben ein Ende. Versöhnung ist »Osotwa«. Wir brauchen diese geistliche Nabelschnur zum Vater, durch die unser Leben garantiert ist. Diese Nabelschnur wird durchschnitten, wenn wir anderen Menschen nicht vergeben, wenn wir Mauern aufrichten und Zwietracht säen. Wir zerreißen diese Nabelschnur zum Leben, wenn wir Kränkungen nachtragen, wenn wir die Hand zur Vergebung und Versöhnung ausschlagen.

       Selig sind die Barmherzigen;

       denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

      MATTHÄUS 5, 7

      Barmherzigkeit ist keine große menschliche Tugend. Sie ist ein Geschenk Gottes. Paulus nennt Gott sogar den »Vater der Barmherzigkeit«. Die Suren im Koran beginnen jeweils mit den Worten »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«.

      Barmherzigkeit liegt uns nicht im Blut. Wir urteilen, kritisieren und verurteilen. Darum schreibt Kurt Marti in einem Gedicht mit dem Titel »Wünsche«: »Ach, dass ich, wenn´s drauf ankommt, im Gegner den Bruder, im Störer den Beleber, im Unangenehmen den Bedürftigen, im Süchtigen den Sehnsüchtigen, im Säufer den Beter, im Prahlhans den einst Gedemütigten, im heute Feigen den morgen Mutigen, im Mitläufer den morgen Geopferten, im Schwarzmaler den Licht- und Farbenhungrigen, im Gehemmten den heimlich Leidenschaftlichen erkennen könnte … Auch das, auch das gehört zur Liebe, wie Jesus sie lebte.«

      Kurt Marti bringt die Sache auf den Punkt.

      Wir sehen oft nur den Fehler und nicht die Not im Hintergrund.

      Wir sehen die Sucht und nicht die Sehnsucht.

      Wir sehen das Negative und nicht den Wunsch nach Veränderung.

      Wir sind fehlerorientiert und nicht liebeorientiert.

      Barmherzigkeit ist keine Tugend, die wir einfach nur aus der Anstrengung eines guten Willens erreichen können. Sie ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Wenn wir uns an Christus binden, ändert sich unser Denken, wir bekommen positive Augen. Wir sehen nicht mehr in erster Linie das Versagen, wir sehen die falschen Schritte eines unglücklichen Menschen.

      Barmherzig ist, wer ein Herz hat für die Armen, für die Verwaisten und Unglücklichen, für die Einsamen und Bemitleidenswerten. Barmherzigkeit üben heißt aber auch, barmherzig mit uns selbst umzugehen.

       Denn Christus ist mein Leben,

       und Sterben ist mein Gewinn.

      PHILIPPER 1, 21

      Können wir diesen Satz glauben und mit Überzeugung sagen? Der ehemalige Hamburger Theologieprofessor Thielicke fasste unsere Vorbehalte und Zweifel in Worte: »Vielleicht werden wir einmal, wenn wir von Gottes Thron aus am Jüngsten Tag zurückblicken, voller Staunen und Überraschung sagen: ›Ja, wenn ich das geahnt hätte, als ich an den Gräbern meiner Lieben stand und alles zu Ende schien; wenn ich das geahnt hätte, als ich das Gespenst des Atomkrieges auf mich zukriechen sah; wenn ich das geahnt hätte, als ich vor dem sinnlosen Geschick einer endlosen Gefangenschaft oder einer tückischen Krankheit stand; wenn ich das geahnt hätte, dass Gott durch alle diese Wehen seine Entwürfe, seine Pläne vorantreibt, dass mitten in meinem Sorgen und Mühen und Verzweifeln seine Ernten reifen und dass alles auf seinen letzten königlichen Tag zutreibt und zudrängt – wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich stiller und getrösteter, ja, dann wäre ich wohl auch heiterer und von größerer Gelassenheit gewesen.‹«

      Den Satz aus dem Philipperbrief möchte ich auch gerne ohne jegliche Einschränkung sagen können. Ich glaube an den Auferstandenen – und doch stellt diese irdische Welt noch viele Ansprüche und traktiert uns mit Skepsis und Bedenken, die unsere Gewissheit erschüttern. Helmut Thielicke hat recht, wenn er sich zu unserem Sprecher macht und unsere Zweifel und Fragezeichen formuliert. Zweifel machen unruhig, rauben unsere Heiterkeit und Gelassenheit. Zweifel lassen uns hektisch und geschäftig werden. Wir fliehen in die Zerstreuung. Wir verdrängen die Gedanken an Tod und Sterben.

      Noch ist uns der Blick aus dem Raum der Ewigkeit verwehrt. Und doch machen wir die Erfahrung: Er ist unser Leben.

       Als Johannes am nächsten Tag sah, dass Jesus auf

       ihn zukam, sagte er: »Dieser ist das Opferlamm Gottes,

       das die Schuld der ganzen Welt wegnimmt.«

      JOHANNES 1, 29

      Gott kann Schuld nicht einfach ignorieren. Seine Gerechtigkeit fordert Wiedergutmachung. Der amerikanische Prediger Josh McDowell veranschaulicht diese Gerechtigkeit Gottes anhand einer Begebenheit, die sich in Kalifornien zugetragen hat: Eine junge Frau wurde wegen eines Verkehrsdeliktes vor Gericht geladen. Der Richter verlas die Anklageschrift und fragte: »Erklären Sie sich schuldig oder nicht schuldig?« Die Frau bekannte sich schuldig. Der Richter fällte das Urteil. Es lautete auf hundert Dollar Geldstrafe, ersatzweise zehn Tage Haft. Doch dann geschah etwas Überraschendes. Der Richter erhob sich, legte seine Amtstracht ab, verließ seinen Platz, zog seine Brieftasche hervor und zahlte die Strafe. Wie lässt sich das erklären? Ganz einfach: Der Richter war der Vater der Verurteilten. Er liebte seine Tochter, war aber auch ein gerechter Richter. Seine Tochter hatte das Gesetz übertreten, und er konnte nicht einfach zu ihr sagen: »Weil ich dich liebe, verurteile ich dich nicht. Du kannst gehen.« Dann wäre er kein gerechter Richter gewesen, hätte sogar selbst das Gesetz gebrochen.

      Die Bibel macht deutlich, dass wir alle gesündigt haben. Die Strafe für unsere Sünde ist der Tod, und Gott muss das Todesurteil verkünden. Aber seine Liebe zu uns ist so unvorstellbar groß, dass er seinen Sohn als Opferlamm ausgewählt hat, um die Sünde der Welt zu sühnen.

      Der Ausdruck »Lamm Gottes« ist so wunderbar, dass er zu einem der kostbarsten Titel Jesu Christi wurde. In diesem einen Ausdruck ist alle Liebe, das ganze Opfer, das gesamte Leiden und der großartige Sieg Jesu Christi zusammengefasst.

       Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt

       mich nicht aufgenommen.

      MATTHÄUS 25, 43

      Eine fremde Stimme oder eine fremde Hautfarbe erscheinen vielen Menschen verdächtig. Sie haben das Gefühl, Fremde stehen ihnen im Weg und nehmen ihnen die Arbeit weg, weshalb sie sie ablehnen.

      Die Dichterin Elisabeth Langgässer erzählte einmal eine Begebenheit. Am Eingang eines schönen Bergdorfes wollten Arbeiter einen Pfahl aufstellen, an dessen Spitze ein großes Schild genagelt werden sollte. Sie suchten sorgfältig nach dem günstigsten Platz, um ihr Schild anzubringen, denn es sollte »gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte«, dienen. Nach langem Suchen stellten sie ihr Schild unmittelbar neben ein Wegkreuz mit dem gekreuzigten Christus. Das schien ihnen der beste Platz zu sein, denn hier konnte jeder die Inschrift lesen. Und sie hatten recht, viele Menschen kamen vorbei und lasen, was auf dem Schild geschrieben stand. Langgässer schreibt: »Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen, sie ging ihn gleichfalls an … « Und wie lautete die Inschrift? »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«

      Für Fremde ist hier kein Zuhause. Damals waren es die Juden, heute sind es Türken, Afrikaner, Übersiedler, Asylbewerber … Menschen, die eine andere Religion, andere Sitten und Gebräuche, andere Eigenarten haben. Aber gerade in ihnen begegnet uns Jesus, in den Fremden, den Heimatlosen, den Vertriebenen, den Verfolgten. Jesus hat sich immer für Ausgestoßene und Abgelehnte stark gemacht.