Anne Christina Mess

Wenn ich das geahnt hätte


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Bei Dir bleiben wir

       ganz gleich, ob wir noch leben oder schon gestorben sind.

       Aus: Was dagegen, S. 84

      Ein Selbstmord ist für Therapeuten und Mitarbeiter nicht das Gleiche wie ein natürlicher Todesfall. Er löst Enttäuschung und Selbstzweifel aus, Fragen nach evtl. Versäumnissen kommen auf. Denn auch wenn ein Helfer sich größte Mühe gegeben hat, wird er sich immer fragen, ob er nicht vielleicht doch etwas übersehen hat, ob er zu spät auf eine bestimmte Äußerung reagiert hat oder im Gespräch abgelenkt war. Hat er vielleicht nicht konkret genug nachgefragt, ob die Suizidabsichten noch bestehen bzw. warum sie nicht mehr da sind. Manchmal kommen Vorwürfe der Hinterbliebenen hinzu. Dadurch werden die Einbrüche im eigenen Selbstwertgefühl und die Zweifel an der eigenen Kompetenz noch verstärkt. Bekanntlich lassen sich viele Fehlentscheidungen und Versäumnisse im Leben rückgängig machen oder nachholen, aber das beendete Leben ist unwiederbringlich. Helfer brauchen in ihren Versagensgedanken dringend Unterstützung von anderen Menschen (durch Fachleute oder Freunde), mit denen sie reflektieren können, was passiert ist. Sie brauchen zudem Trost und Hoffnung von außen.

      Viele Menschen begegnen im Laufe des Lebens Mitmenschen, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Weg mehr sehen, als ihr Leben zu beenden. Sie sind zerrissen zwischen der Suche nach innerem Frieden in ihrem Leben und der endgültigen Flucht vor diesem Leben, in dem es leider keinen ununterbrochenen inneren Frieden geben kann.

      Durch diese Menschen erfahren hilfsbereite Gesprächspartner Grenzen: Sie werden an eigene Lebenskrisen erinnert und sehen ihre begrenzten Möglichkeiten, anderen – vielleicht besonders nahestehenden – Menschen aus ihren existenziellen Nöten herauszuhelfen. Dabei wird es immer wieder Gratwanderungen geben, d. h. es geht darum, jedes Mal neu zu erkennen, wo ein Laien- oder professioneller Helfer tatsächlich helfend eingreifen kann und wo so jemand die Kraft braucht, Unabänderliches loszulassen. Möge es dabei gelingen, innerlich den Boden unter den Füßen zu behalten.

      Aus der Feder des amerikanischen Juristen Max Ehrmann (1872 – 1945) stammt die folgende Desiderata. Sie wurden in der St. Paul’s Kirche in Baltimore, USA, die im 17. Jahrhundert erbaut wurde, gefunden. Sie geben uns Impulse für unsere »Seelenhygiene«, für einen lebensbejahenden Umgang mit unserem einmaligen Leben.

       »Geh deinen Weg gelassen im Lärm und in der Hektik dieser Zeit und behalte im Sinn den Frieden, der in der Stille wohnt. Bemühe dich, mit allen Menschen auszukommen, soweit es dir möglich ist, ohne dich selbst aufzugeben. Sprich das, was du als wahr erkannt hast, gelassen und klar aus und höre anderen Menschen zu, auch den Langweiligen und Unwissenden, denn auch sie haben etwas zu sagen.

       Meide aufdringliche und aggressive Menschen, denn sie sind ein Ärgernis für den Geist. Vergleiche dich nicht mit anderen, damit du nicht eitel oder bitter wirst, denn es wird immer Menschen geben, die größer sind als du, und Menschen, die geringer sind. Erfreue dich an dem, was du schon erreicht hast, wie auch an deinen Plänen.

       Bleibe an deinem beruflichen Fortkommen interessiert, wie bescheiden es auch sein mag; es ist ein echter Besitz in den Wechselfällen der Zeit. Sei vorsichtig in deinen geschäftlichen Angelegenheiten, denn die Welt ist voller Trug. Lass dich jedoch dadurch nicht blind machen für die Tugend, die dir begegnet. Viele Menschen haben hohe Ideale, und wo du auch hinsiehst, ereignet sich im Leben Heldenhaftes.

       Sei du selbst und, was ganz wichtig ist, täusche keine Zuneigung vor. Hüte dich davor, der Liebe zynisch zu begegnen, denn trotz aller Dürreperioden und Enttäuschungen ist sie beständig wie das Gras.

       Nimm den Rat, den dir die Lebensjahre geben, freundlich an und lass mit Würde ab von dem, was zur Jugendzeit gehört. Stärke die Kraft deines Geistes, sodass sie dich schützt, wenn ein Schicksalsschlag dich trifft. Doch halte deine Fantasie im Zaum, damit sie dich nicht in Sorge versetzt. Viele Ängste wurzeln in Erschöpfung und Einsamkeit. Übe gesunde Selbstdisziplin, doch vor allem sei gut zu dir.

       Du bist ein Kind des Universums, nicht weniger als die Bäume und die Sterne: Du hast ein Recht, da zu sein. Und ob es dir nun bewusst ist oder nicht: Ganz sicher entfaltet sich das Universum so, wie es ihm bestimmt ist.

       Lebe daher in Frieden mit Gott, wie auch immer du ihn dir vorstellst. Und worauf du deine Anstrengungen auch immer richtest, was es auch ist, das du erstrebst, im lärmenden Durcheinander des Lebens sei mit dir selbst im Reinen.

       Trotz allen Trugs, aller Mühsal und aller zerbrochenen Träume ist die Welt doch wunderschön. Sei heiter. Strebe danach, glücklich zu sein.

       Desiderata, s. Anhang

      KAPITEL 2

(Nicht nur) graue Theorie zum Selbstmord

      Der Hauptschwerpunkt dieser 2. Auflage soll Hinterbliebenen von Menschen, die durch Selbsttötung aus dem Leben geschieden sind, Hilfen anbieten, ihre Vielfalt von Gefühlen und Gedanken zu verarbeiten. Ein Ja zu den eigenen Gefühlen in den einzelnen Phasen der Trauerarbeit zu finden und sich die nötige Zeit zu nehmen, diese Aufs und Abs zu durchlaufen, ist ein hilfreicher Schritt der Selbstunterstützung bei der Verarbeitung des Suizids einer nahestehenden Person. Neben dieser primär emotionalen Beschäftigung mit einem Suizid soll dieses Kapitel die Möglichkeit bieten, auf der eher intellektuellen, also »kopfigen« Ebene zu verstehen, wie viele Menschen in die Sackgasse des Selbstmords laufen, was sie dazu motiviert und wie sich dieses uralte menschliche Verhalten erklären lässt. Menschen versuchen die Welt, in der sie leben, zu verstehen, die auftretenden Probleme zu analysieren und daran anschließend Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. In der eigenen Trauer um einen durch Selbstmord aus dem Leben Geschiedenen entlastet es zu bestimmten Zeiten festzustellen, dass der eigene unfassbar erscheinende Schicksalsschlag kein Einzelfall ist, sondern dass es rund um den ganzen Globus viele Leidensgenossen gibt, die vergleichbare Krisen zu bewältigen haben. Auch bei ihnen fahren die Gefühle zunächst Achterbahn und sie müssen sich an die neue Lebenssituation anpassen. Die im Folgenden dargestellten und kommentierten Zahlen, Daten und Fakten sollen einen Schlüssel liefern, der die Tür zum Raum des Verstehens und Begreifens dessen öffnet, was das eigene Lebensmosaik erschüttert hat.

      Suizid (= lat.: sui caedere, seine eigene Person hauen, schlagen, töten) ist ein Thema, das die Menschheit zu allen Zeiten begleitet und bewegt hat – gehört doch zur Auseinandersetzung mit dem Leben auch das Bewusstsein für den Tod, in diesem Fall als »frei« gewählt. Hinter jeder der folgenden Zahlen verbirgt sich das Schicksal eines Menschen, der diesen »freiwilligen« Tod wählte. Sie mögen sowohl informieren als auch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit zu helfen wecken – Hilfe, die die Not wendet.

      Nach Schätzungen der WHO (Weltgesundheitsorganisation) sterben weltweit jährlich knapp eine halbe Million Menschen durch Selbstmord. Er gehört in Europa und in den USA zu den zehn häufigsten Todesarten. Bei Studenten steht Suizid als Todesursache an 2. Stelle. Es sterben mehr Menschen durch Selbstmord als aufgrund eines Verkehrsunfalls. Das Verhältnis von »gelungenem Suizid« zu Suizidversuch ist ca. 1 : 10 – 20. Diese Zahlen sind nur schätzbar, da es eine hohe Dunkelziffer gibt. Manche Menschen tarnen ihren Selbstmord als »normalen« Unfall. Gründe hierfür können Schuldgefühle und Scham sein oder die Betroffenen wollen ihren Angehörigen die Auszahlung der Lebensversicherung ermöglichen. Das Land mit der höchsten Suizidrate ist Ungarn, gefolgt von Finnland, Schweden und Österreich.

      Die Zahlen waren in den vergangenen Jahren pro Land immer ähnlich, in nationalen Krisenzeiten, z. B. während eines Krieges wird ein Absinken der Suizidrate verzeichnet.

      Um ein Empfinden für die abstrakten Zahlen zu bekommen,