Reinhold Ruthe

Fass mich nicht an!


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Gewalt.

      Leider sind sexueller Missbrauch und sexuelle Gewalt dennoch allgegenwärtig. Jedes Jahr kommen etwa 12.000 bis 15.000 Fälle in Deutschland zur Anzeige. Fachleute schätzen, dass die Dunkelziffer etwa 10- bis 15-fach höher liegt. Besonders dramatisch sind die Missbrauchsfälle,

      die sich in Familien,

      in der Verwandtschaft,

      in der Nachbarschaft und Bekanntschaft abspielen.

      Drei Viertel aller gemeldeten Missbrauchszahlen geschehen im sozialen Nahbereich. Auch in Heimen, Schulen und Vereinen. Die unterschiedlichen Forschungen ergeben bis 2015, dass etwa jedes vierte Mädchen und jeder neunte Junge Opfer sexuellen Missbrauchs wurde.

      Mir wurden in meiner Praxis als Christ, Seelsorger und Psychotherapeut in den vergangenen Jahrzehnten viele Missbrauchsfälle geschildert. Die Scham der Betroffenen ist riesengroß, weil sie Eltern, Verwandten, auch verantwortlichen Christen und Predigern zum Opfer fielen. Sie haben geschwiegen und von Anzeigen Abstand genommen. Sie haben geschwiegen, weil viele auch völlig unaufgeklärt, hilflos und verunsichert waren.

      Gründlich soll in diesem Buch über Prävention, über Verhütung, sachliche Aufklärung und Schutz für Kinder und Jugendliche nachgedacht werden. Unkenntnis und Schweigen machen Kinder wehrlos und mobilisieren die Täter.

      Gott schenke allen Lesern neue Einsichten in die unterschiedlichen Wege und Abwege der Sexualität des Menschen und die Kraft, hilfreiche Entscheidungen zu treffen.

       Was ist sexueller Missbrauch?

      Es geht beim sexuellen Missbrauch um willentliche sexuelle Handlungen, wobei über die Geschlechtsorgane sexuelle Befriedigung herbeigeführt werden soll. Zwischen Opfer und Täter besteht in der Regel keine Freiwilligkeit. Den sexuellen Missbrauch gibt es nicht, denn die Praxis zählt viele unterschiedliche Formen sexuellen Missbrauchs auf. Sexueller Missbrauch geschieht am häufigsten zwischen Erwachsenen und Kindern, aber er findet auch zwischen Erwachsenen und Verheirateten statt. Die wichtigsten Missbrauchsfälle sind:

      

Erwachsene oder ältere Jugendliche befriedigen sich am Körper eines Kindes oder lassen sich von Kindern befriedigen;

      

homosexuelle Männer als Erzieher oder Aufsichtspersonen befriedigen sich an männlichen Jugendlichen;

      

heterosexuelle Männer als Erzieher oder Aufsichtspersonen befriedigen sich an Kindern und Jugendlichen weiblichen Geschlechts;

      

Männer unterschiedlichen Alters erpressen Mädchen oder Frauen, um sich dann an ihnen zu befriedigen;

      

verheiratete Männer vergewaltigen ihre Partnerinnen;

      

sexueller Missbrauch beginnt schon, wenn Väter, Stiefväter oder Großeltern intime Küsse verabreichen, um unter Umständen später mehr zu erreichen;

      

das Beobachten eines Kindes oder Jugendlichen beim Baden, Waschen oder Umziehen ist Voyeurismus. Der Voyeur (franz. = Zuschauer) reagiert aus sexuellem Reizhunger; Voyeurismus ist eine Perversität (perversus = verkehrt);

      

die Pornografie gehört in den Blickwinkel des sexuellen Missbrauchs. Das Anschauen von pornografischen Bildern ist nicht selten Ansporn und Anregung für sexuellen Missbrauch;

      

das Zeigen der eigenen Geschlechtsorgane ist Exhibitionismus. Es handelt sich ebenfalls um eine Perversität;

      

sexuelle Gewalt findet auch da statt, wo junge Menschen sich bedrängt fühlen, pornografische Bilder oder Filme anzuschauen;

      

wenn im Internet jemand mit obszönen Sätzen oder mit „sexueller Anmache“ belästigt wird.

       Die Zweischneidigkeit des Begriffs

      Wo beginnt der Übergriff?

      Wo sind Handlungen fragwürdig?

      Was ist erlaubt, was ist verboten?

      Die Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf hat einige Situationen geschildert, die unterschiedlich bewertet werden können:

      

Ein Vater badet mit seiner neunjährigen Tochter.

      

Ein Onkel gibt seiner fünfjährigen Nichte einen Zungenkuss.

      

Eine Mutter lässt sich von ihrem zehnjährigen Sohn – nur mit Slip bekleidet – massieren.

      

Ein Busfahrer bittet eine vierzehnjährige Schülerin, ihn im Lendenbereich zu kratzen, er müsse ja mit beiden Händen den Bus steuern.

      

Ein Dreizehnjähriger fasst seiner vierzehnjährigen Schwester zwischen die Beine.

      

Ein Fünfjähriger fordert im Kindergarten ein gleichaltriges Mädchen auf, ihm „einen zu blasen“.

      Die Diskussionen darüber, was sexueller Missbrauch genau ist und wie man ihn definiert, führen Experten bis heute. Eine einheitliche Definition gibt es nicht. Zum Beispiel ist sexueller Missbrauch unter Gleichaltrigen vorstellbar, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich weit die geistige und körperliche Entwicklung von zwei Fünfzehnjährigen sein kann.1

      Das heißt:

      

ein Kind kann nicht überschauen, worum es dem Erwachsenen geht;

      

ein Kind weiß nicht, was Erwachsene unter Sexualität verstehen;

      

ein Kind vertraut dem Erwachsenen, weil es nicht weiß, was er will.

      Sexueller Missbrauch vom Vater an der eigenen Tochter Ein Beratungsbeispiel. Eine Zwanzigjährige erscheint in der Beratung. Ich nenne sie Manuela.

      Bevor sie zu sprechen anfängt, rollen die Tränen. Sie ist hin und her gerissen.

      „Ich stecke in einer schrecklichen Zwickmühle. Ich bin jahrelang von meinem Vater geliebt, nein, missbraucht worden. (Die junge Frau schüttelt den Kopf und ist selbst über den ungewollten Versprecher entsetzt.) Mit 17 oder 18 habe ich mich bekehrt und wurde Mitglied in einer Gemeinde. Von einigen Gemeindeältesten, auch zwei Frauen waren darunter, wurde ich gründlich befragt. Und ich habe denen ehrlich gestanden, dass mein Vater mich bis zum Alter von 16 laufend missbraucht hat.“

      Sie verdeckt ihr Gesicht. Die Beichte ist ihr höchst peinlich. Danach hätte sie einen