sie rafft sich wieder auf, „die verantwortlichen Leute in der Gemeinde haben mich aufgefordert, meinen eigenen Vater anzuzeigen. Ich wollte nicht, aber sie gaben keine Ruhe. Solche Verbrechen dürften nicht verschwiegen werden.“ Der ganze Körper der jungen Frau ist in Aufruhr.
„Schweren Herzens habe ich das getan. Aber seitdem ist mein innerer Friede verschwunden. Meinen Vater habe ich geliebt, und er hat mich geliebt. Seine Ehe war kaputt. Mutter war unausstehlich.“
Wieder wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
„Und jetzt muss ich damit rechnen, dass er jahrelang ins Gefängnis kommt. Er muss alles ausbaden, und ich bin frei. Mir haben die Gemeindeleute im Namen Jesu Vergebung zugesprochen. Natürlich habe ich die Sünde bereut, und mein Vater?“
Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
„Der Vater sei allein schuldig, haben sie auch auf dem Gericht gesagt, ich trüge nicht ansatzweise eine Mitschuld. Ich sei verführt worden, und gegen seine Überlegenheit hätte ich mich nicht wehren können. Aber ich weiß doch, was ich gefühlt habe!“
„Was wollen Sie damit sagen?“, frage ich.
„Ja, zu Anfang habe ich mitgespielt, ohne schöne Gefühle gehabt zu haben, aber später war es doch auch erregend für mich! Jetzt soll er allein alles ausbaden?“
Ohne auf Beratung, Seelsorge und Therapie im Einzelnen einzugehen, was macht diese Beratung deutlich?
Da über alle Facetten von sexuellen Gefühlen, Liebe, Gewohnheiten und Verantwortung der Erzieher gegenüber Kindern nicht gesprochen wird, können Kinder und angehende Jugendliche besonders von eigenen Eltern, Geschwistern und Verwandten sexuell missbraucht werden. Sie wissen nicht, was erlaubt und nicht erlaubt ist.
Bei Manuela untersuchte sie der Vater nach Zecken im Geschlechtsbereich. Das war der Anfang.
Die Liebesbezeugungen des Vaters waren bei ihr schon als Kind mit Berührungen am ganzen Körper verbunden. Beide streichelten sich oft mehr als eine Viertelstunde, ohne die Geschlechtsorgane zu berühren.
Erst etwa ab dem zehnten Lebensjahr konzentrierte der Vater sich stärker auf die Schamlippen und den Kitzler. Der Vater zu Manuela: „Jeder Mensch hat Stellen am Körper, die sich besonders kitzeln lassen. Bei dir ist es der Kitzler, der heißt auch noch so, bei mir ist es die Eichel am Glied.“
Da niemals äußerliche Gewalt im Spiel war, empfand Manuela alles als liebevolle Zuwendung des Vaters. Sie war sein „geliebtes Kind“.
Als Manuela in der Schule mit 15 – 16 Jahren einen Schüler kennen- und lieben lernte, kamen ihr die ersten Zweifel. Was ist Liebe, was ist sexuelles Begehren? Kann man das überhaupt trennen? Hat mich der Vater nur sexuell begehrt? War nicht auch Liebe damit verbunden? Kann man zwei Menschen gleichzeitig lieben und begehren? Mit ihrem Freund führt sie viele Gespräche, um herauszufinden, was Liebe, sexuelle Gefühle und Lust trennt und verbindet.
Fazit: In vielen Gesprächen versuchten wir, Licht ins Dunkel der Gefühle und der Beziehungen zum Vater zu bringen. Manuela war vom Missbrauch und gleichzeitig von echten Liebesgefühlen des Vaters zu ihr überzeugt. Sie liebt ihren Vater immer noch. Beide schreiben sich „innige Briefe“, wie mir die Tochter offenbarte. Ihre sexuellen Sehnsüchte und Gefühle werden allein vom Freund gestillt. Nach seinem Studium wollen sich beide verloben. Sie weiß, dass der sexuelle Missbrauch des Vaters ein Verbrechen ist, gleichzeitig entwickelt sie starke Mitleidsgefühle. Sie fragt sich, wieweit Mitleid mit dem Vater im Spiel ist, den sie schließlich angezeigt und ins Gefängnis gebracht hat. Geistlich ist sie von der Richtigkeit überzeugt, menschlich hat sie Zweifel.
Dieses Beratungsbeispiel hat mir gezeigt, wie vielschichtig, wie vernetzt, wie abhängig und kaum eindeutig zu differenzieren alle Gefühle und Praktiken sind. Theoretisch sind alle Verhaltens- und Einstellungsmuster von Täter und Opfer klar zu analysieren. Aber die Hintergründe, die Motive, die Begleitumstände und die Verflochtenheit mit anderen Aspekten sind groß. Zum Beispiel: Von ihrer Mutter erfuhr sie keine Liebe und Zuwendung. Schon als kleines Kind bekam sie von der Mutter wenig Berührungen und Zärtlichkeiten. Der Vater nutzte diese Lücke, auch die Tochter. Und der Vater kompensierte mangelnde Berührungen mit seiner Frau, indem er sie bei der Tochter suchte.
Machtmissbrauch
Einsichtig wurde, dass es Missbrauch ohne Gewalt gibt. Sehr oft spielt aber Gewalt beim Missbrauch eine Rolle. Immer handelt es sich bei den verschiedenen Formen des sexuellen Missbrauchs um Respektlosigkeit dem Mitmenschen gegenüber. Immer wieder spielt auch Machtmissbrauch eine Rolle. Sexuelle Gewalt beginnt da, wo jemand einen Menschen benutzt, um sich sexuell zu erregen. Besonders auch da, wo es sich um ein Machtgefälle handelt:
zwischen einem Erwachsenen und einem Kind,
zwischen einem Vorgesetzten und einem Untergebenen,
zwischen einem Berater oder Therapeuten und einem Klienten,
zwischen einem Lehrer und einem Schüler,
zwischen Chef und Sekretärin,
zwischen einem Verantwortlichen und einem Abhängigen,
zwischen einem Reifen und einem Unreifen.
Missbrauch von Vertrauen
Der Missbrauch von Vertrauen spielt bei sexuellem Missbrauch eine entscheidende Rolle. Es ist immer ein Risiko, einem Menschen Vertrauen zu schenken.
Wer Vertrauen schenkt,
glaubt an den anderen,
hat gute Erfahrungen mit ihm gemacht,
spürt ein Gefühl von Sicherheit,
glaubt seinen Versprechungen,
vertraut sich ihm an.
Positive Folge:
Der kleine Mensch, auch der junge Erwachsene, tankt Vertrauen,
der kleine Mensch fühlt sich akzeptiert,