Reinhold Ruthe

Fass mich nicht an!


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sei etliche Male erst nachts betrunken nach Hause gekommen. Männer hätten sie mit dem Auto gebracht. Die Tochter hätte nur gelallt und wäre nicht imstande gewesen, zusammenhängend über die Party zu berichten. Das höre ich zu Anfang von der Mutter.

      Elena versichert sich bei mir, ob die Eltern auch nichts von den Vorfällen erführen. Und dann berichtet sie: Sie träfen sich bei einem jungen Mann, der mit einem anderen in zwei Zimmern irgendwo am Rande der Stadt lebte. In einer Disko hätten sie sich kennengelernt. Immer zu viert kämen sie zusammen, manchmal auch zu sechst, Mädchen und Jungs. Die Männer hätten verschiedene alkoholische Getränke dabei. Man rede über alles Mögliche, labere über neue Popsongs und Pegida, schaue sich Bilder auf iPads an und ließe die Alkoholflaschen kreisen. Über kurz oder lang seien sie zugedröhnt, redeten dummes Zeug und verlören ihre Kontrolle. Die anderen Mädchen und sie gingen alle in die gleiche Schule. Sie unterhielten sich am nächsten Tag über alles. Nahezu wörtlich: „Wir sind im Laufe des Abends ohne Kontrolle, wir schweben in einer Traumwelt. Die Erste rutscht auf den Teppich, die andern hinterher. Ich glaube, die Jungen ziehen uns aus. Sie befriedigen uns und sie befriedigen sich. Alles geht im Halbschlaf. Wir sind kraftlos und willenlos. Aber das Ganze ist wunderschön. Es erschreckt mich, wenn ich das erzähle. Ich habe jedes Mal ein schlechtes Gewissen, aber gehe immer wieder hin. Den andern Mädchen ergeht es ähnlich.“

      „Was, glauben Sie, sind Ihre Motive?“, frage ich die junge Dame.

      Sie lächelt und sagt: „Wir gehen zur Schule, alles läuft langweilig ab. Politik interessiert uns nicht. Meine Eltern gehen zur Kirche und ärgern sich, dass wir Kinder keinen Bock haben! Die Eltern reden von Verantwortung. Im Moment wollen wir noch nicht. In der Familie leben wir in zwei Welten. Wir wollen Spaß haben!“

      Was macht dieses Beratungsbeispiel deutlich?

      

Eltern und Kinder leben in zwei Welten. Sie haben es nicht verstanden, eine gemeinsame Erlebniswelt und ein verantwortliches Zusammenleben aufzubauen. Vater und Mutter sind beruflich und in der Gemeinde hochengagiert, aber nicht in der Familie.

      

Die Tochter geht eigene Wege und wehrt sich gegen den aufgepfropften Glauben.

      

Selbstverwirklichung und Genuss werden großgeschrieben. Verantwortung kommt früh genug auf das Mädchen zu.

      

Es hat Gewissensbisse, aber die sexuellen Wünsche sind stärker.

      

Es handelt sich um Missbrauch, der aber von den Mädchen gutgeheißen wird. Ihre einkalkulierte Passivität und ihre Befriedigung sind gewollt.

      

Die Eltern schämen sich, die Sache öffentlich zu machen. Sie spüren deutlich, was sie versäumt haben, und sind ratlos.

      Ein gefährlicherer und gewalttätiger Missbrauch geschieht mit K.o.-Tropfen. Auch junge und ältere Männer, die ihre sexuelle Gier stillen wollen, benutzen K.o.-Tropfen, die sie heimlich in Getränke mischen, um die Opfer gefügig zu machen. Hin und wieder zeigen Opfer die Täter an, haben aber in der Regel ein schlechtes Gewissen, weil sie sich freiwillig auf ein Abenteuer eingelassen haben.

      Während ich an diesem Manuskript arbeite, lese ich in der Tageszeitung einen Bericht über einen Arzt, der an jungen Patientinnen Missbrauch getrieben haben soll, nachdem sie von ihm mit bestimmten zusätzlichen Betäubungsmitteln willenlos gemacht worden waren. Wörtlich schreibt die Zeitung: „Es sind vier der insgesamt zwölf Frauen, die sich dem deutschlandweit anerkannten Gefäßchirurgen für eine angebliche Studie anvertraut haben und die im Nachhinein einen Albtraum erleben: Denn der Arzt soll ihnen ein Hypnotikum verabreicht, sie in ihrem wehrlosen Zustand missbraucht und dabei gefilmt haben.“9

      Eine Medizinstudentin klagte anschließend lange über Benommenheit, ließ sich untersuchen und stellte eine sehr hohe Dosis eines Hypnotikums fest. Der Anwalt, der mehrere Frauen vertritt, schildert, dass die Situation für die Opfer extrem belastend sei. Laut Anklage wollte der Arzt sich an den Frauen im Alter zwischen 17 und 28 Jahren sexuell befriedigen. Im gleichen Artikel werden drei weitere Missbrauchsfälle in anderen Städten geschildert. Ein Frauenarzt wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er insgeheim Zehntausende Fotos von seinen Patientinnen angefertigt hatte. In Hildesheim hatte ein Kinderkrankenpfleger serienweise junge Mädchen betäubt und sexuell missbraucht. Er wurde zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt.

       Folgen des sexuellen Missbrauchs

      Dass sexueller Missbrauch Folgen hinterlässt, steht außer Frage. Wie können die Folgen aussehen? Ich beginne mit einem Beratungsbeispiel. Eine Frau um die 40 Jahre alt hat sich mit Eheproblemen an mich gewendet. Sie erzählt mir eine äußerst unangenehme Erfahrung als Kind mit dem Großvater. Oft weilte sie als Kind beim Opa, der allein lebte. Seine Frau war bereits gestorben. Damals war sie zwischen 5 und 9 Jahre alt, vielleicht auch schon 10 oder 11. Wenn sie nach dem Essen zu Hause zu ihm kam, sagte er zur Enkelin: „Weißt du was, wir machen zuerst mal ein Mittagsschläfchen. Dann sind wir beide frisch für den ganzen Nachmittag.“ Beide legten sich aufs Sofa. Der Opa mit dem Rücken zur Wand, die Enkelin vor ihm, die ihm auch den Rücken zudrehte. „Wir streicheln uns ein bisschen, das ist schön!“

      Er streifte der Enkelin den Schlüpfer herunter und streichelte sie von hinten in und an der Scheide. Sie durfte den Opa am Glied streicheln.

      Ihre beiden Eltern waren berufstätig und glücklich, dass die Enkelin beim Opa untergebracht war. Der kümmerte sich intensiv um das Mädchen. Für die Enkelin war Sexualität ein Geheimnis. Zu Hause war nie darüber gesprochen worden. Zuerst fand sie das Streicheln unangenehm. Aber je älter sie wurde, fand sie „das ausgesprochen schön“.

      Dann erlebte sie, dass in der Schule über „sexuellen Missbrauch“ gesprochen wurde. Was an Kindern bis zum Alter von 16 Jahren geschehe, wurde als Verbrechen charakterisiert. Die Enkelin war schockiert. Ab der Zeit mied sie den Kontakt zum Opa mit fadenscheinigen Begründungen. Den Eltern erzählte sie nichts. Das Mädchen fühlte sich mitschuldig.

      Mit 25 Jahren heiratete sie und hatte nur ein Problem bei sexuellen Beziehungen mit ihrem Mann. Wenn er sie von hinten anfasste und berührte, zuckte sie erschreckt und abwehrend zusammen und hatte ihm sogar einmal ins Gesicht geschlagen, weil sie an das „Verbrechen“ erinnert wurde. Dieser handgreifliche Ausrutscher brachte sie in die Beratung.

      Andere sexuelle Probleme hatte sie nicht.

      Wir halten fest:

      

Was die Enkelin erlebte, ist sexueller Missbrauch, ist sexuelle Gewalt.

      

Ältere Personen, hier der Opa, missbrauchen ihre Stellung, missbrauchen ihr Wissen.

      

Dieses Beispiel macht aber auch deutlich: Es müssen nicht immer schwere sexuelle Folgen im Zusammenleben mit Partnern oder Partnerinnen erfolgen.

       Der „soziale Tod“

      Der Ausdruck stammt von Professor Heitmeyer. Er macht deutlich, dass die Betroffenen ihr Vertrauen in die soziale Umgebung nach sexueller Gewalterfahrung verloren haben. Sie sind misstrauisch. Dieses Misstrauen untergräbt die spätere Beziehungsfähigkeit. Beratung, Seelsorge und Therapie wollen diese Defizite verringern. In schweren Fällen kann es zu Isolation, Liebesverlust, zu Selbstwertverlust und Kontaktverlust kommen. Nach meiner Erfahrung muss der sexuelle Missbrauch aber äußerst belastend gewesen sein, und der Betroffene oder die Betroffene sind häufig besonders sensibel.

       Sexueller Missbrauch und Traumatisierung