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17.17 Uhr
»Müller, Kabel Deutschland«, sagte Müller in sein Handy, dem ein kleines Störgerät aufgeschnallt war. Er musste – musste! – an Steenbergens Computer, an dessen privaten E-Mail-Account. Das Passwort dafür war vom Geschäftscomputer aus nicht zu ermitteln, und leider, leider hatte er an jenem Abend am Totenmaar versäumt, sich dieses Passwort aus Steenbergens Laptop oder iPhone zu ziehen. Da hatte er allerdings auch noch nicht gewusst, dass er es brauchte. Er warf einen Blick auf sein eigenes Laptop, mit dem er das Telefonbuch von Köln aufgerufen hatte. »Frau Zangerle, Bernhardis-Straße 17b?« Das Störgerät knackste leicht.
»Stimmt«, sagte Frau Zangerle.
»Prima, hallo«, sagte Müller. Der Name Müller, übrigens, gefiel ihm. Er dachte jetzt öfter von sich als Müller. Auch wenn er nicht in einer Mission unterwegs war. »Frau Zangerle, wir haben Probleme mit den Anschlüssen in Ihrer Straße, wie steht’s bei Ihnen, hatten Sie in letzter Zeit Störungen bei Fernsehen, Telefonie oder Internet?«
Nein, sagte Frau Zangerle, und sie wolle ganz sicher keinen Receiver-Kasten oder wie das hieße kaufen, vielen Dank und auf Wiederhören.
Müller lächelte sich in seinem Rückspiegel zu. Alte Schachtel, keine Ahnung von gar nichts. Prima. »Es geht um das Leitungsnetz«, sagte er. Knacksen. Er blickte durch die Windschutzscheibe und den Regen hinaus auf die weiße Häusergruppe. Keine Satellitenschüsseln, im ganzen Stadtteil nicht. »Auch Sie haben einen Anschluss und zahlen daher indirekt Miete für das Kabelnetz.«
»Ja?«, sagte Frau Zangerle gleichgültig. »Ach so.«
Die Häuser waren mindestens sechzig, siebzig Jahre alt. Und der Straßenbelag sah auch nicht superneu aus. »Die Leitungen in Ihrem Bezirk sind, wie ich meinen Unterlagen entnehme, schon etwas älter und vermutlich sanierungsbedürftig. Wir haben hier einige Beschwerden aus Ihrer Straße, und Sie – Sie leben in einer Hausanlage, nicht wahr?« Er verrenkte sich, um die Hausnummern neben den alten Türen durch die verregneten Scheiben seines Autos zu erkennen. Es knackste wieder. »Nummer 17a bis 17d?«
»Stimmt«, sagte Frau Zangerle.
»Wenn wir bei Ihnen und in der Nachbarschaft einen tatsächlichen Bedarf feststellen, würden wir eine Sanierung der Straßenkabel ins Auge fassen. Beziehungsweise bei der Telekom einen entsprechenden Antrag stellen. Dann können Sie schnelles Internet kriegen und damit sogar fernsehen.«
»Ach je«, sagte Frau Zangerle nicht unfreundlich. »Das brauche ich doch gar nicht.«
Es knackste wieder. »Da!«, sagte Müller. »Das merke ja sogar ich! Stört Sie das denn nicht? Diese Geräusche in der Leitung?«
»Oh«, sagte Frau Zangerle. »Ja, ich glaube, da war was – wissen Sie, ich höre nicht mehr so gut.«
»Ich wette, Ihr Fernseher grieselt auch«, sagte Müller frech.
Frau Zangerle seufzte. »Na ja, das dritte Programm ist bei mir nicht so doll.«
Bei wem wäre es das je gewesen, dachte Müller und sagte befriedigt: »Aha. Da haben wir’s doch. Ich bin jetzt noch Tacitusstraße, aber so in einer halben Stunde könnte ich bei Ihnen vorbeischauen. Sind Sie dann da?«
»Äh – ja. Natürlich«, sagte Frau Zangerle.
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Das Schlafzimmer barg keine Überraschung: Satinbettwäsche und ein begehbarer Kleiderschrank, nicht ordentlich, nicht wirklich groß, aber wieder mit diesem umwerfenden Eindruck von Weite. Daneben lag ein nicht ganz so weiter Raum mit einem rosa Himmelbett und gründlich aufgeräumten Schränken. Dies war ein konserviertes Kinderzimmer. Zur Südseite hin prangte dann offen das Büro, in dem Bücher und Papiere einfach der Wand entlang aufgestapelt waren, was kreativ aussah und außerdem für ein konzentriertes Arbeiten sprach. Es war der Werkraum eines intensiv denkenden Menschen, das Herz des Hauses, gewissermaßen, und dort herumzustöbern widerstrebte Richard besonders. Er würde es müssen, klar: Im Büro, in den Papieren war Steenbergen sicher noch am lebendigsten. Doch all das durchzusehen und zu verstehen würde Jahre dauern. Dann lieber ins Bad. Doch neben der halb geöffneten Badezimmertür fand Richard eine Nische, die spannender war als jede noch so sorgsam erhaltene Zwanziger-Jahre-Wanne. Vielleicht sogar interessanter als die Papiere im Büro: Die kleine Nische enthielt einen Treppenaufgang. Er war eng, dunkel und so niedrig, dass Richard sich bücken musste, um die erste Stufe zu nehmen. Lichtschalter gab es auch keinen. So tastete er sich in der Finsternis nach oben und um einen schmalen Viertelwendel herum, an dessen Ende er eine Tür fand, die beim Öffnen knarrte. Dahinter war es hell. Richard blickte direkt auf ein schmales Dachfenster, das fing Regentropfen auf, was irgendwie heimelig wirkte. Doch unter dem Fenster war schon wieder Schluss mit der Gemütlichkeit, da schien ein wilder Garten zu wuchern, ein Geflecht aus riesigen, dornigen, sturmzerzausten Rosen auf schwarzviolettem Grund. Rot flammten die riesigen Blüten aus einer alles bedeckenden Tapete hervor, rankten über die schrägen Wände und sahen in der Masse irgendwie hungrig aus, eine Menge roter Münder, die gleichzeitig schrien und geiferten. Es war verdammt voll in diesem Räumchen auf dem Dachboden des Steenbergen-Hauses, das sonst so überzeugend die Weite zelebrierte. Richard ging in die Hocke.
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17.20 Uhr
»Du, Axel«, sagte Müller in sein Handy, »ich hab mir eben ein Sofa gekauft.«
»Aha«, nuschelte Axel höflich, und Müller hörte schwere, dröhnende Schläge aus dem kleinen Telefon. Vermutlich stand Axel in der Werkstatt. So wie Müller das sah, schlief Axel in seiner Werkstatt, der hatte wahrscheinlich gar keine Wohnung.
»Und ich wollte mal fragen, ob ich deinen Van haben kann, etwa für zwei Stunden.«
Axel machte ein Geräusch, das Müller als »Ja« interpretierte, und sagte dann: »Maße.«
»Bitte?«
»Die Maße?«
»Es passt garantiert rein«, sagte Müller rasch, »es ist ein kleines Sofa. Mehr ein Sessel. Du weißt ja, ich hab hier nur ein Zimmer. – Kann ich ihn kriegen? Jetzt sofort?«
»Klar«, nuschelte Axel.
»Super«, sagte Müller, schaltete das Handy aus und fuhr los.
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Es war ein Mädchenzimmer gewesen, dieses Rosenkämmerchen, und die fürchterliche Tapete war alt. Vermutlich, dachte Richard, waren die Monsterrosen die Antwort der letzten Hausangestellten auf die raumhohen Fenster und offenen Grundrisse ihrer Arbeitgeber. Man konnte zwar kaum glauben, dass jemand so leben wollte, aber die Spuren waren offensichtlich: In einer Nische war ein winziges Waschbecken angebracht, auf dem Holzfußboden zeigten verblichene Rechtecke, wo einst ein Schrank und das Bett gestanden hatten, und rund um die ehemalige Schlafstatt war eine Vorhangschiene abenteuerlich an den Dachschrägen befestigt. Ansonsten war die Kammer noch in zweierlei Hinsicht interessant. Zunächst mal besaß sie eine weitere Tür. Diese Tür mochte auf einen anderen Teil des Speichers führen, allerdings sah sie nicht aus, als sei sie in den letzten fünfzig Jahren je geöffnet worden. Sie war vollständig eintapeziert und besaß keine Klinke, dafür aber ein sichtbares Schlüsselloch. Zweitens stand vor dieser Tür ein Tisch. Er war jüngerer Bauart, und was darauf lag, kannte Richard, das hatte er alles selbst mühevoll herangeschafft: Vulkangestein, Muscheln, eine Seefahrerkarte und weitere ähnliche Dinge. Da ruhten sie also zusammen, die Kuriositäten und Werkzeuge, waren gestrandet in diesem Kabuff ohne Fluchtweg. Hierher zu Steenbergen hatte Peter Welsch-Ruinart seine Schätze gebracht, und der hatte sie unter Rosen gebettet. Dies war das geheime Zimmer von Gunni. Richard seufzte und berührte spontan eine der Muscheln, wie um ihr Trost zu spenden. Dann wandte er sich zurück zur Treppe. Wenn jetzt ein Vulkan ausbräche und das alles hier zweitausend Jahre lang konservierte, dachte er grimmig, als er sich die enge Stiege hinunterzwängte, dann hätte dereinst die Archäologenschaft was zum Staunen: eine Ledermappe mit einer einzelnen Briefmarke darin, etwas Sand in einem urnenartigen