Müller sein Smartphone, langsam und ohne Spiele.
Die Idee mit der ermordeten Frau war genial, denn nun würde Steenbergen es tunlichst vermeiden, von seiner eigenen Familie zu reden. Es würde ihn auch von anderen Dummheiten abhalten.
»Ich sag Ihnen jetzt was. Sie sind mir völlig egal. Ich tu Ihnen nichts, wenn Sie nicht nerven.«
Steenbergen nickte, nicht direkt erleichtert, aber doch wieder wie ein Mann mit einer Perspektive.
»Ich will nur aus Köln raus, verstanden? Sie fahren mich, ich sage, wohin. Wenn wir auffallen, sind Sie tot wie die alte Schlampe. Wenn nicht, lasse ich Sie noch heute Abend frei.«
Steenbergen nickte wieder.
»Denken Sie an Ihre Familie.« Müller schaltete das Smartphone aus und steckte es ein. »Und jetzt los.«
19.11 Uhr
Das Besondere am Tod – auch einem fremden – war das Gewicht, das jede Handlung und jeder Satz in seiner Nähe annahmen. »Rosebud«, »Mehr Licht!«, »Es ist vollbracht«, das waren unsterbliche Worte, die ihr Geheimnis doch bloß aus der Situation zogen, in der sie gesagt worden waren. Es war fast eine Kunstform. Bring den Tod ins Spiel, und die Äußerungen aller Beteiligten wachsen ins Monumentale, wirken wie vor Publikum gesprochen. Glücklicherweise wusste Steenbergen nichts von seinem bevorstehenden Ableben, sonst hätte er sicher Schnörkel angebracht. Er wäre kitschig geworden. Er hätte Worte gebraucht wie: Liebe, Vergeltung. Mord. Da war es weit besser, er konzentrierte sich aufs Fahren und sagte nur ab und zu: »Hier jetzt rechts?« oder: »Wenn wir da vorn geradeaus wollen, muss ich aber die Spur wechseln.«
Und war das nicht ein wunderbarer letzter Satz: Wenn wir geradeaus wollen, muss ich die Spur wechseln? War das nicht rätselhaft, uneindeutig, bedeutungsvoll – gut?
»Ja, wechseln wir die Spur«, sagte Müller.
19.30 Uhr
Sie waren am Ziel: Eine kleine Waldlichtung an der L 46 bei Daun, leicht mit dem Wagen zu erreichen, aber einsam und gut versteckt. Müllers eigenes Auto stand da, halb verborgen im Gebüsch.
»Ach so, Sie sind der Typ mit dem Alfa«, entfuhr es Steenbergen, und Misstrauen schlich sich in seinen Ton. Nicht, dass er vorher vertrauensselig gewesen wäre, doch während der Fahrt hatte er die Ruhe bewahrt und versucht, möglichst unpersönlich zu bleiben. Weil er an die Geschichte mit der toten Frau glaubte. Doch ein vorbereitetes Fluchtauto passte nicht dazu. Das war nicht spontan, das war kein Affekt, da steckte mehr dahinter. Nun musste es ganz schnell gehen.
»Jetzt weiß ich es wieder, Sie sind der ehemalige Hacker, und Sie heißen –«
»Maul«, unterbrach Müller und hob den Revolver. »Aussteigen.«
Sie stiegen beide aus und standen einander in dem abendlichen Sommerwald gegenüber. Steenbergens Augen blickten klug und unstet, er war ein schneller Denker, das hatte Müller schon beim Autofahren bemerkt. »Ich brauche einen Vorsprung«, erklärte er, den Revolver fest im Griff, und wies mit dem Kinn auf seinen schwarzen Alfa. »Deswegen fesseln wir Sie jetzt, und ich lasse Sie hier in Ihrem Auto und fahre mit meinem weiter.« Er warf Steenbergen mit der Linken eine Rolle festes, dickes Klebeband zu. »Erst über den Mund.«
»Das kann ich nicht reißen«, sagte Steenbergen. Er drehte die Rolle Klebeband zwischen den Händen. Es wirkte spöttisch.
»Ist schon geschnitten«, sagte Müller scharf und merkte, wie er plötzlich nervös wurde. Ans Klebeband hatte er gedacht, er hatte es geschnitten und wieder aufgewickelt, damit er nicht gleichzeitig mit Revolver und Messer hantieren musste, das war nicht das Problem. Das Problem waren Steenbergens intelligente Augen, die ihn verstohlen musterten, die den direkten Blickkontakt verweigerten, weil Steenbergen nachdachte und auf der rechten Spur war.
Müller hob den Revolver: »Los! Mund!«
Steenbergen riss Klebeband ab, und natürlich waren geschnittene und wieder aufgewickelte Klebstreifen noch weit seltsamer als ein wartendes Auto. Steenbergens Bewegungen wurden langsamer und angespannter, als ob er alles gleich hinwerfen und fliehen würde, und das wäre natürlich eine Katastrophe, denn dann musste Müller ihn einholen und das Messer benutzen. »Na los!«, wiederholte er drängend. Steenbergen blickte ihm plötzlich direkt in die Augen. Müller schob sein Kinn vor, spannte den Hahn des Revolvers und starrte entschlossen zurück. Sein Vorteil war klein, nur weil Steenbergen noch immer nicht richtig begriff, befolgte er die Befehle. Widerstrebend klebte er sich den Mund zu. Anschließend waren die Füße dran. Die Hände übernahm Müller und umwickelte sie auf dem Rücken mit Klebeband. Dann verdoppelte er die Fesseln mit noch mehr Tape. Und schließlich sagte er: »Sie müssen sich in den Fußraum vor die Rücksitze legen.«
Steenbergen schüttelte den Kopf, in seinen Augen standen nun Trotz und Panik, doch er war zu ausgeliefert, um noch eine Chance zu haben.
»Passen Sie auf«, sagte Müller versöhnlich. »Da hinten im Fußraum gibt es jede Menge Metallschienen und so ’n Zeug, Sie werden das Tape spätestens morgen früh durchhaben. Sie werden mir dankbar sein, dass ich Sie in den Fußraum gelegt habe, denn da geht es schneller. Ich mach Ihnen sogar noch eine Decke drunter. Und ich hab meinen Vorsprung, okay?«
Steenbergen wollte nicht. Müller musste ihn erst mit dem Revolver anschubsen. Da fügte der Manager sich, hoppelte zur hinteren Tür und quetschte sich mit viel Mühe auf den Boden, den Müller zuvor mit einem Malervlies ausgekleidet hatte. Ein Malervlies mit Plastikbeschichtung auf der Rückseite, doch das weckte in Steenbergen keinen sichtbaren Argwohn mehr. Schließlich lag er genau so, wie er sollte, und Müller atmete auf. Der Rest war ein Kinderspiel. Er holte die Flasche mit Schutzgas aus seinem Alfa, öffnete ihr Ventil, legte sie in den Fußraum neben den Beifahrersitz des Phaetons und schloss die Türen von außen. Steenbergen begann ordentlich zu zappeln, aber er war auch ordentlich zusammengeklebt.
20.02 Uhr
Steenbergen bewegte sich nicht mehr.
* * *
»Richard«, sagte der Anwalt hinter dem Mahagonischreibtisch, und es klang wie: Mein hoch verehrtes gnädiges Fräulein.
»Ja«, knurrte Richard, er war über zwei Meter groß, hatte einen schon recht kahlen Schädel, saß absichtlich etwas gebückt und trug seine ältesten Jeans. Doch trotz aller Abwehrmaßnahmen fühlte er sich bedrängt und verlegen. Und ärgerlich: Hatte er es nicht gewusst? War es nicht jedes Mal dasselbe? Das abendlich leere Büro. Das gedämpfte Licht. Der fehlende Freund. »Dr. Steenbergen wollte diesmal wirklich kommen, aber wie’s aussieht, werden wir wieder auf ihn verzichten müssen.« Die Verabschiedung der Sekretärin, die tatsächlich bis acht Uhr abends blieb. »Ah – der Schnapswagen, danke, Valeska. Moment mal, das kann doch nicht wahr sein, der Banyuls ist schon wieder alle?«
»Ich fürchte, ja, Herr Welsch.« Die Antwort richtete sich zu einem Gutteil an Richard, wie überhaupt die ganze kleine Szene, und sie erinnerte mit Nachdruck daran, dass man sich hier in einer der letzten schönen Villen am Adenauer-Ufer befand. Mein Chef ist reich, mächtig und sympathisch, war Valeskas Botschaft. Ein toller Mann. Der Chef selbst setzte ein kesses Lächeln dazu auf. Plötzlich sah er viel jünger aus, und nicht nur um die Augen. Der ganze Welsch-Ruinart mitsamt Seidenhemd und Maßanzug und der schmalen goldenen Uhr am Handgelenk strahlte wie ein mutwilliger kleiner Junge. Man meinte sogar, Sommersprossen auf seiner Nase zu erkennen. Dabei war er mindestens fünfzig und färbte sich vermutlich die Haare. Und vielleicht, dachte Richard, lag da auch das ganze Geheimnis: Haartönung. Oder der Typ hatte oben auf dem Speicher ein Porträt stehen wie Dorian Gray. Nun erschienen noch zwei winzige Grübchen in seinen Wangen. Grübchen, die Richard bei jeder Frau hinreißend gefunden hätte.
»Na, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Reserve anzubrechen«, sagte der Besitzer der Grübchen wohlgemut. »Valeska, wenn ich bitten dürfte, den grand cru, Sie wissen schon, den für besondere Gelegenheiten, haben Sie vielen Dank.«