Horst Riemenschneider

Verdorbene Jugend


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Wochenanfangsappell dauerte in der Regel eine halbe Stunde und der Schlussappell eine viertel Stunde. Die Appelle dienten zur Entwicklung und Festigung der nationalsozialistischen Ideologie. So lang wie die Appelle waren, wurde geredet. Einer dieser Redner, der oft auftrat, hieß Weisheit. Seine Reden waren besonders unbeliebt und langweilig.

      Für uns war es wichtig, pünktlich beim Appell zu sein. Am Wochenanfangsappell war das weiter kein Problem. Mussten wir sonst fünf Minuten vor Arbeitsbeginn in der Werkstatt sein, wurden wir ebenso fünf Minuten vor Appellbeginn im großen Saal erwartet. Da gab es kein Ausweichen und wenn geschludert, keine Ausrede. Beim Wochenanfangsappell wurde die „Wochenlosung“ bekannt gegeben, die dann in das Werkbuch, auch Berichtsheft genannt, im Kopf eines jeden Wochenblattes eingetragen werden musste. Da ärgerten wir uns über lange Losungen und freuten uns natürlich über kurze.

      Mussten wir von der Lehrwerkstatt aus zum Wochenschlussappell, war das kein Problem. Am Sonnabendvormittag, so gegen zehn Uhr, wurde ein großer Teil von uns zum Maschinenputzen in andere Werkstätten beordert. Meistens war das im Werkzeugbau, der in einem großen und neuen Gebäude untergebracht war. Hier mussten wir uns sputen, rechtzeitig fertig zu werden, damit wir unsere Putzgeräte an der betreffenden Werkzeugausgabe abgeben und unsere Werkzeugmarken zurückerhalten konnten. Klappte das nicht so richtig, weil der Werkzeugausgeber gerade nicht zugegen war, konnte es passieren, dass man zum Schlussappell im 100-Meter-Tempo sausen musste.

      Es gab zwei unterschiedliche Arbeitszeiten. Für Lehrlinge unter 16 Jahren galt eine wöchentliche Arbeitszeit von 47 ¾ Stunden. Täglich waren das 8 Stunden und 35 Minuten, wobei die Sonnabendszeit vier Stunden und 50 Minuten betrug. War man 16 Jahre geworden, stieg die wöchentliche Arbeitszeit auf 54 Stunden, wobei neun Stunden und 50 Minuten, außer Sonnabends, täglich geleistet werden mussten. Sonnabends wieder vier Stunden und 50 Minuten.

      Meine persönliche Arbeitszeit betrug im ersten und im zweiten Lehrjahr bis zum 8. Januar 1942 47 ¾ Stunden. Danach kamen dann die langen Tage, die kein Ende nehmen wollten. Bei der 54-Stundenwoche war am Nachmittag von 15 : 50 bis 16 : 00 eine Vesperpause, bei der man nur am Arbeitsplatz ein paar Krumen hinunter muffelte.

      Meine Lust zur Schule hatte sich bisher kaum geändert. Besonders „madig“ war es, wenn wir beim Meister Dietz Arbeitstechniken hatten. Ich hatte große Mühe, die Augen offen zu halten.

      Ähnlich war es im Fach Technisches Zeichnen. Das hat mir außerdem gleich den Appetit auf den Beruf verdorben, obwohl die Sache an sich interessant war. Alle Zeichnungen mussten wir ohne Lineal ausführen. Und dann noch die Normschrift, eine Druckschrift, die eine vorgeschriebene Schräglage von 75 Grad nach rechts besitzen musste. Das durften wir dann in Hausaufgaben ausgiebig üben. Es gelang uns immer besser, gerade Linien zu ziehen. Das war aber dann auch nicht besonders schwer, weil wir kariertes Papier verwendeten, wo die Linien einen Abstand von fünf Millimetern hatten. Wir sollten das deshalb so lernen, damit wir dann später in einer Werkstatt ordentliche Skizzen anfertigen könnten.

      Bis auf den Sport machte mir die Schule keine Freude. Der Sportlehrer nahm uns tüchtig heran. Besonders hart war das Lauftraining. Man merkte aber auch, dass unsere Laufleistungen besser wurden, obwohl das nur zwei Stunden in der Woche waren, an denen wir Sportunterricht und somit Lauftraining hatten. Zum Sportunterricht und zu anderen Gelegenheiten, stand ein großer Sportplatz zur Verfügung und bei schlechtem Wetter oder im Winter eine große Sportbaracke.

      Die Leibesübungen, die wir ab und zu kurz während der Arbeitszeit durchführten, absolvierten wir auf einem großen gepflasterten Platz, der seitlich vor dem Sportplatz lag. Der Sportplatz lag außerdem längs im Tal, das die Hasel durchzog und in dem sich auch der Betrieb befand. Zwischen dem Sportplatz und der Hasel war ein hoher Damm aufgeschüttet. Das Flüsschen wurde hinter der am unteren Ende des Sportplatzes liegenden Sportbaracke zur Mitte des Tales geleitet und neben einem Tor verließ es den Betrieb.

      Im Sommer gab es ein großes Sportfest, bei dem wir Lehrlinge mit Leibesübungen auftreten sollten. Dazu wurde natürlich tüchtig geübt, vor allem, dass wir Vordermann und Seitenrichtung einhalten konnten. Es gab dafür keine Markierungen. Als wir das fertig brachten und die Übungen ordentlich ausführten, wurde mit der betrieblichen Blaskapelle geübt, bis alles klappte.

      Mit „Heizelmännchens Wachparade“ sind wir aufgelaufen, von dem großen gepflasterten Platz kommend, liefen wir erst zur Mitte der diesseitigen Schlackebahn, wo wir dann nach rechts abbogen. Wir liefen eine halbe Stadionrunde und wendeten uns danach zum Spielfeld. Diese Wendung war nahe der Mitte des Platzes, von wo wir uns dann strahlenförmig auf dem Sportfeld verteilten. In der folgenden Woche waren davon Bilder in der Betriebszeitung. Es war jedoch kaum einer von uns zu erkennen. Aber Freude hat es uns gemacht.

      Am Schluss fand noch ein Fußballspiel von damals bedeutenden Mannschaften statt. Ich sah das erste Mal in meinem Leben das Spiel zwischen zwei guten Mannschaften. Die Spielernamen Kupfer und Kissinger sind mir noch in Erinnerung. Das Ergebnis nicht.

      Wir sollten möglichst viele Arbeitstechniken am Schraubstock erlernen. Die Mädchen und Hüsing sind nach sechs, sowie acht Wochen in andere Abteilungen gekommen. Sie sollten nur einmal die Nase in die Arbeit stecken, damit sie auch Achtung vor dem Mann an der Werkbank oder der Maschine bekommen.

      Das hatte man bei uns Technischen Zeichnern ebenfalls vor. Damit wir uns besser die Fertigung eines Werkstückes vorstellen könnten, mussten wir den Grundlehrgang Metall vollständig absolvieren. Zuerst war natürlich das Feilen das Wichtigste. Aber dann kamen andere Dinge an die Reihe, die größtenteils dazwischen erfolgten. Nicht alles ging am Schraubstock. Wenn also ein Platz zum Bohren, Schleifen oder so frei wurde, spannte man das zu bearbeitende Werkstück aus und wechselte an den betreffenden Platz. So haben wir alle möglichen Arbeitstechniken erlernt. Hatte man beim Feilen mit großen Blasen in der rechten Hand zu tun, schlugen wir uns beim Meißeln immer schön auf die Finger der linken Hand oder auf deren Daumen. Wir glaubten erst nicht, dass man beim Meißeln nicht auf den Meißelkopf blicken darf, sondern nur auf die Schneide. Die Lehrausbilder bestätigten uns, dass sie sehen würden, wo wir hinschauen. Bald hatten wir das auch heraus mit dem Meißeln und es ging an andere Techniken.

      In unsere eben und winklig gefeilten U-Stähle wurden Löcher in die Stegflächen gebohrt und dann Gewinde hinein geschnitten. Auch das Sägen mit der Handsäge lernten wir, als wir Winkel aussägten, aus denen die Werkzeugmacherlehrlinge später rechte Winkel durch Feilen herstellen mussten. Bestimmte Teile benötigten wir selbst, um dann in dem schon einmal genannten Flachstück, in das ein quadratisches Loch eingebracht war, ein verschiebbares Vierkant einzupassen.

      Wir erlernten den Umgang mit dem Reifkloben und vor allem mit dem Feilkloben, mit Hilfe dessen wir von Hand einen Körner wirbeln mussten. Den Reifkloben benutzt man um Fasen zu feilen oder dünneres Material zu sägen. Das Wirbeln ist eine anstrengende Arbeit. Dazu führt man mit einer Hand eine Feile und mit der anderen das runde Werkstück, was auf einem eingekerbten abgebogenen Winkel aufliegt, der in den Schraubstock eingespannt ist.

      Bei dem Körner musste erst das Material von zehn Millimeter Durchmesser auf neun Millimeter heruntergewirbelt werden. Dabei war das Werkstück während des Hin- und Herdrehens ein Stück weiter zu drehen. Mit der Schieblehre konnte man kontrollieren, ob man das Werkstück während des Wirbelns gleichmäßig gedreht hatte. War der Durchmesser erreicht, wurde der kegelige Teil zur Körnerspitze hin und auch der kurze Kopfteil mit Fase gewirbelt.

      Das Härten erlernten wir etwas später. Wir wurden immer sicherer beim Führen der Werkzeuge. Natürlich war es mitunter hart, mit einer großen Blase in der Hand das Feilenheft zu führen. Da nutzte man jede Gelegenheit, um auszuspannen. Eine gute Gelegenheit dazu war längeres Messen mit der Schieblehre oder das Prüfen mit dem Haarlineal oder dem Winkel.

      Wir neuen Heimlehrlinge waren erst wenige Tage im Heim, da raunte man uns