Horst Riemenschneider

Verdorbene Jugend


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öffnete der Wachmann die Tür und wir gingen in einen für mich eigenartigen Klassenraum, der mich ganz schön einschüchterte. Es war der Physiksaal, wie ich später erfuhr. Er hatte stufenweise aufsteigende Sitzreihen und vor den Sitzreihen eine breite große Tafel. In etwa der Hälfte der Bänke saßen ebensolche Kandidaten wie ich. Vor ihnen ein streng aussehender, gut gekleideter Mann, der mich aufforderte, meine Joppe draußen auf dem Flur anzuhängen. Dann musste ich mich in der vordersten Reihe auf die Bank neben dem Mittelgang setzen. Von da aus konnte ich nun kurze Zeit verfolgen, was den letzten vor mir für Fragen gestellt wurden. Keine davon hätte ich lösen können.

      Nachdem ich die Fragen nach meiner Verspätung beantwortet hatte, rief mich Herr Janz, wie er sich vorstellte, an die Tafel. Als ich bei ihm auf dem Tafelpodest stand, fragte er mich, welchen Beruf mein Vater hätte. Mit etwas Stolz sagte ich, dass er Schornsteinfegermeister sei. Daraufhin wurde ich gefragt, ob ich mir einen Schornstein vorstellen könne. Nachdem ich das bestätigte, gab er mir Maße an, mit denen ich das Volumen eines Schornsteins bestimmen sollte.

      Ich begann zu rechnen. Bald war ich fertig und meiner Sache recht sicher. Er schaute sich das kurz an und sagte, dass das falsch wäre. Ich suchte einen Fehler und fand keinen, worauf ich entgegnete, dass nichts falsch sei. Er behauptete wieder, dass das falsch sei. Ich prüfte noch einmal und behauptete wieder, dass die Rechnung richtig sei. Dann sagte Herr Janz: „Du kannst doch nicht sagen, es sei richtig, wenn ich sage es ist falsch!“ „Dann haben Sie falsch gerechnet“, entgegnete ich. „Nun gut“, fing er wieder an, „aber wenn die hier alle sagen, es ist falsch?“ „Dann haben alle falsch gerechnet“, bestand ich weiter auf der Richtigkeit meiner Rechnung.

       Firmenlogo des künftigen Lehrbetriebes

      Ich durfte mich setzen. Herr Janz hielt eine kurze Ansprache und sagte abschließend, dass wir alle die Prüfung bestanden hätten. Ob wir eingestellt würden entscheide sich aber erst, wenn das Abschlusszeugnis der Schule im Betrieb vorliege.

      Ich war erst einmal froh, dass Langheinrichs Voraussage nicht eingetroffen war. Was er mir ins Zeugnis schreiben würde, war dennoch ungewiss. Im Grunde genommen war ich ein ziemlich fauler Hund. Es gab Tage oder Stunden, da hatte ich einen ganz guten Durchblick. In der Note Faulheit hätte ich mir aber eine Eins verdient.

      Zunächst hatte ich nun vor, meinen Onkel Hans und dessen Frau aufzusuchen, die in einer Suhler Siedlung ein Einfamilienhaus bezogen hatten. Diese Siedlung von zahlreichen Neubau-Einfamilien-Häusern nannte man „Lautenberg-Siedlung“ und wurde wohl vom „Gustloff-Werk“ in die Wege geleitet. Die Gustloff-Werke nannten sich zusätzlich „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ und von so einem Betrieb erwartete man derartige Maßnahmen.

      Ich ging zurück nach Suhl und fragte mich durch. Kurz vorm Dunkel werden fand ich das Haus. So hatte ich auch eine Unterkunft für die Nacht. Am nächsten Tag fuhr ich nach Bürgel zurück. Ich hab mit der bestandenen Prüfung nicht geprahlt, aber etwas stolz war ich doch.

      Endlich war die ersehnte Schulentlassung da. Das Abschlusszeugnis war auf den 20. März 1940 datiert. Die Entlassungsfeier fand in Bürgel in der „Schärbelschänke“ statt. Die Rede vom Schulleiter war vorbei und es war gegen 19.00 Uhr. Der Wirt, Herr Heller, stellte das Radio lauter, weil Nachrichten kommen sollten. Die Zeugnisse hatten wir schon erhalten. Jedenfalls kamen nun die Nachrichten vom Radio und wir erlebten eine große Enttäuschung. Hatten wir doch gedacht, dass für uns nun viele Dinge erlaubt sind, so wurde an diesem Tag ein neues Jugendgesetz verkündet, was uns große Einschränkungen auferlegte. Zum Beispiel wurden Tanzveranstaltungen verboten. Das begründete man damit, dass man in der Heimat nicht sorglos tanzen könne, während die Soldaten „im Felde“ stehen. Laut diesem Jugendgesetz durften wir uns nicht mehr ohne Erziehungsberechtigte nach 21.00 Uhr auf der Straße oder in Gaststätten aufhalten. Rauchen war auch verboten. Erst ab 18 Jahren war alles, außer Tanzen, gestattet. Alkohol brauchte man nicht zu verbieten, den gab es sowieso nicht. Nur besonders dünnes Bier.

      Mit einem Zeugnis der miesen Mittelmäßigkeit wurde ich eingestellt. Das Warten darauf war fast wie eine Folter. Alle meine Schulkameraden traten ihre Lehrstelle an oder wussten, wann sie beginnen sollten. Erst am 1. April 1940 kam die Mitteilung, dass ich eingestellt werde und am 8. April die Lehrzeit begänne. Wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte, sollte ich am 7. April anreisen und mich in Suhl, in der Hohenfeldstraße 68 melden. Mein Lehrvertrag lautete auf „Technischer Zeichner“.

      In der Mitteilung stand auch, wie ich mich auszurüsten hätte, wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte. Dort war es billiger, also, kam für mich nur das Lehrlingsheim infrage. Meine Ausstattung wurde ganz schön teuer: Drei Braunhemden, zwei kurze schwarze Hosen, eine lange Winterhose mit Winteruniformbluse der Hitlerjugend, sechs Paar graue Kniestrümpfe, ein Paar braune Halbschuhe, ein Paar schwarze hohe Schuhe und noch viele andere Sachen. Wir hatten kein Geld und unser Vater war im Krieg. So wurde alles gepumpt. Mit Ach und Weh hatte ich am Sonnabend vor meiner Abreise alle Sachen beisammen. Nun fehlte noch die Bestätigung, dass ich in der Hitlerjugend sei. Bei der Übernahme von den Pimpfen zur Hitlerjugend hatte ich mich gedrückt. Mit etwas Schiss in den Hosen ging ijoch zu Neuschäfer in die Villa am Bürgeler Südgraben. Das ging alles glatt. Und nun war ich reisebereit.

      Am Sonntag, dem 7. April 1940 gegen sieben Uhr, fuhr der Zug. Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof in Bürgel. Auf der Straße vorm Bahnhof gab sie mir noch einen Schmatz auf die Wange, als der Zug von Eisenberg kommend zu hören war. Das war das einzige Mal, dass ich so etwas von meiner Mutter bekam, seit ich mich erinnern konnte.

      Am Nachmittag kam ich in Suhl an und fragte mich durch, wie ich zum Lehrlingsheim der „Gustloff-Werke“ komme. Dabei erfuhr ich, dass der Betrieb auch „BSW“ genannt wurde. Als ich in die „Hohe Feldstraße“ wollte, wurde ich mehrmals berichtigt, dass da kein Lehrlingsheim sei. Man schickte mich zu einer grünen Villa, wo aber niemand zu hören und zu sehen war. So fragte ich nur noch nach der „Hohen Feldstraße“. Endlich bekam ich den richtigen Hinweis. Das Lehrlingsheim war nämlich umgezogen. Nun fand ich die Straße und lief von Nr. 1 bis zur 68. Dort befand sich ein großes Tor, was gleichzeitig die ganze Straße versperrte. Es stand aber die richtige Nummer daran. Eine Tür stand offen, durch die das Sonnenlicht strahlte. Von weitem hörte ich Musik, erzeugt mit einer Schrammel oder wohl richtig Waldzither genannt. Je näher ich dem Tor kam, um so lauter wurde die Musik. Als ich durch die offene Tür trat, war rechts ein kleines Häuschen mit einem großen geöffneten Fenster. Hinter diesem saß ein Mann an einem Tisch, der dort auf der Zither spielte. Auch er hatte wieder so eine graublaue Uniform an, wie ich sie schon bei den Betriebswachen gesehen hatte.

       Deckblatt einer Werbebroschüre aus dem Jahr 1942

      Als er mich gewahrte, unterbrach er sein Spiel und forderte mich auf, ein Stück weiter die große und breite Treppe hinaufzugehen, wo mich „der Ehrhard“, der Heimleiter, schon erwarten werde. Ich ging über eine geschotterte Straße auf die Treppe zu. Etwas geblendet von der Sonne stieg ich die Stufen hinauf und stolperte an einem kleinem Pfahl, der vor den Brettern steckten, welche die Stufen bildeten. Mein Persil-Karton, in dem ich statt einem Koffer meine Habseligkeiten untergebracht hatte, kullerte die Stufen wieder hinunter. Gleichzeitig kam der Heimleiter in Hitlerjugend-Uniform einen schrägen Weg herunter, der hinter einem Schotterplatz nach links unter einer Baracke entlang führte. Verschämt holte ich meinen Persil-Karton zurück.

      Der Heimleiter kam heran und sagte: „Du hast ja das Knie aufgeschlagen. Du gehst gleich mal zur Susi – das ist meine Frau – und lässt dich verbinden. Ich bin der Heimleiter und Gefolgschaftsführer und heiße Ehrhard Haider.“ Er nahm mir gleich meinen Persil-Karton ab und führte mich den schrägen Weg hoch, von wo ein Weg zu der in der Mitte stehenden Baracke abging. Ich sollte an die Tür klopfen, doch im gleichen Moment erschien eine schlanke, nette und hübsche Frau mit großen, blauen Augen. Das sah ich erst genauer, als ich dann bei ihr ankam. Der Heimleiter rief ihr zu, sie möge mich