zum Kriegsdienst eingezogen werden, wird in der Landwirtschaft weniger erzeugt. Futterkartoffeln werden zur Ernährung der Menschen gebraucht. Auch Düngemittel sind auf dem heimischen Markt nicht ausreichend vorhanden. Pferde werden für die Front beschlagnahmt.
Theo und Elise müssen sich daran gewöhnen, beim Einkaufen Marken für Mehl und Brot mitzunehmen.
Seit Juni 1916 wird Verdun zu einem Menetekel. Die Soldaten graben sich ein. Im Kampf um Verdun fallen 335.000 deutsche und 360.000 französische Soldaten.
Elise ist froh, wenn sie im Winter 1916 noch Kohlrüben kaufen kann. Eine Familie zu ernähren, wird immer schwieriger. Man spricht vom Kohlrüben-Winter. Ein Winter ohne Hoffnung, ein Winter des Mangels. Mangel an Heizmaterial, an Nahrung. Die Menschen frieren, hungern, werden krank, und viele überleben den Winter nicht.
Da eröffnet Elise ihrem Mann Theo, dass sie schwanger sei.
Mitte März, dem gleichen Tag, an dem Emma 14 Jahre zuvor das Licht der Welt erblickte, wird Minna geboren.
Elise empfand dieses Kind als endgültige Besiegelung ihrer Ehe. Von da an stellte sie ihre Entscheidung, Theos Frau geworden zu sein, nie mehr in Frage. „In guten wie in schweren Tagen“, bekräftigte sie sich selbst ein zweites Mal das Versprechen, das sie vor dem Altar gegeben hatte.
Minna zog mit in Emmas Zimmer ein. Die nun 14-jährige Emma liebte dieses kleine Mädchen vom ersten Tag an wie ihr eigenes Kind. Alles, was sie für dieses Baby tun konnte, war für Emma vollkommenes Glück. Sie badete und wickelte es, sang ihm Lieder vor und spielte auf der Zither. Schon bald gluckste das Kind vor Freude, wenn es seine Schwester-Mama sah, Gesang oder Zither-Spiel hörte und schien mit den rudernden Bewegungen seiner Ärmchen zu dirigieren. Emma brachte der kleinen Minna alles bei, was ihr aus eigener Kinderzeit im Gedächtnis haftete und dem Kind Freude bereiten konnte. Sie las vor, dachte sich lustig klingende Verse oder kleine Geschichten aus.
Elise stand ab und zu lächelnd daneben, die Daumen in je einer Schürzentasche, den Kopf wiegend und meinte: „Mir ist, als wenn ich mir selbst zuschaute, wie ich 14 Jahre zuvor mit Dir, meine Emmi, Freude hatte. Als sei es gestern gewesen.“
Das zu bestaunen entschädigte sie für die ärgerlichen Reibereien und nervenverschleißenden Machtkämpfe in ihrer Ehe, die sich daraus ergaben, dass Theo und sie in vielen Dingen sehr verschieden dachten und fühlten.
Theo erwartete abends eine aufgeräumte Wohnung und ein warmes Abendessen, wie von seiner verstorbenen Frau gewohnt. Er brauchte lange, zu begreifen, dass eine berufstätige Mutter mit drei Kindern nicht mit einer Ein-Kind-Nur-Hausfrau zu vergleichen sei. Gern hätte Elise den Haushalt perfekt bewältigt. Sie war flink, wenn sie abends nach einem anstrengenden Tag im Frisier-Salon noch kochte, bügelte und abwusch. Aber die Zeit reichte nicht, wenn sie auch noch mit den Kindern singen und spielen wollte, was ihr wichtiger war, als einmal mehr oder weniger Möbel abzustauben. Die Zeit reichte meist nur für das Nötigste. Was dieses Nötigste war, sahen Elise und Theo leider unterschiedlich.
Das Kochen wurde mehr und mehr zum Problem. Außer Kohlrüben, Kartoffeln und Brot waren kaum noch Lebensmittel zu haben. Die kalorienarme Nahrung ließ die Fettpolster schmelzen. Die Menschen hatten Hunger und wurden gereizt. Theo vergaß oft diesen Zusammenhang, wenn er abends müde und hungrig von der Arbeit kam. Er gab Elise die Schuld, wenn ihm das einseitige Essen nicht schmeckte und er nicht satt wurde. Die Lebensmittel waren inzwischen rationiert, durften nur noch in kleinen Mengen verkauft werden, was die Menschen an bestimmte Läden band, die von staatlichen Stellen kontrolliert wurden. Das bedeutete zusätzlich zur vorhandenen Arbeit im Salon und zu Hause für Elise und Emma noch Schlangestehen vor dem Lebensmittelladen.
Theo nahm abends für sich in Anspruch, müde zu sein und seine Füße auf der Fußbank hochzulegen. Auch Elise schmerzten abends die Füße, aber sie redete nicht davon. Sie schluckte herunter, wenn er maulte, weil bei seiner Heimkunft noch Spielsachen in der Wohnküche auf dem Boden lagen oder Bügelwäsche auf einem Stuhl. Mit anzupacken war für ihn nun, da er wieder eine Frau hatte, eine Zumutung. Dass Elise mitverdiente, war willkommen. Die Arbeit zu Hause hingegen war für ihn nach wie vor Frauensache.
Theo lernte nur widerwillig, dass seine zierliche Elise nicht unbegrenzt belastbar war und seine Hilfe brauchte. Er sah als sein gutes Recht an, dreimal wöchentlich in seinen Turnverein zu gehen.
Die vierzehnjährige Emma half ihrer Mutter jenseits von Hausaufgaben, Zither- und Lautenstunden so viel wie möglich, ärgerte sich jedoch, wenn Harald, ihr Stiefbruder, sich mehr und mehr an seinem Paschavater orientierte. Statt, wie in der Familie vereinbart, regelmäßig den Müll runterzutragen und die Schuhe zu putzen, ging er Fußball spielen und zu seinen Freunden.
„Und wo bleibe ich?“, stieß es zuweilen Elise auf, wenn sie abends wieder mal mit Kochen, Abwasch und Bügelwäsche allein geblieben war und Grund hatte, sich als Packesel der Familie zu fühlen. Meist war sie zu abgespannt, um sich zu beklagen oder zu wiederholen, was schon hundertmal gesagt worden war. Streit laugte sie aus; lieber erledigte sie liegen- gebliebene Arbeit der anderen zusätzlich.
Ihr fehlten Mußestunden für ihre Bedürfnisse: Mal ein Buch lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Bilder betrachten, um ihre Seele aufzutanken. Ein ungestörter Spaziergang, Wolken zuschauen oder dem Gesang von Vögeln lauschen. Denken und Stress hinter sich lassen, Zeit, um mit offenen Sinnen Leib und Seele mit Schönem zu sättigen. Sie vermisste Stunden gleichgestimmter Zweisamkeit jenseits von Pflichten in Haushalt und Schlafzimmer.
In Augenblicken wie diesen überfielen Elise ungewollt Gedanken an Christian. Dieser Gleichklang, diese Harmonie ohne Worte, dieses vollkommene Wohlbefinden in Gegenwart des anderen! Sie nahm all ihre Kraft zusammen und entschied: „Mit derartigen Gedanken mache ich mich unglücklich. Theo ist nicht Christian, das wusste ich vorher.“ Sie verbot sich künftig solcherlei Träumereien.
Die Vorstellung, ihre Ehe könne zu einer Zweckgemeinschaft verflachen, in der ihre Zweierbeziehung durch stetige Arbeitsüberlastung, fehlende Freiräume und zu wenige Gemeinsamkeiten versanden könnte, ängstigte Elise. Die kleinen Liederabende mit Emmas Zitherspiel und ihrer Lautenbegleitung versuchte sie in ihrem abendlichen Zeitplan fest zu verankern, auch wenn ihr zuweilen die Augen zufielen und sie vor Müdigkeit kaum noch bei Stimme war.
Sie hatte begonnen, der Familie Novellen von Theodor Storm vorzulesen. Zuvor las Emma für Minna aus einem bunten Bilderbuch einfache Tiergeschichten, was bei dem Kind helles Entzücken auslöste. Sie quietschte und jauchzte, strampelte mit den Beinen und war mit dem ganzen Körper in Bewegung vor innerer Anteilnahme. Elise war glücklich, wenn ab und zu die ganze Familie versammelt war und das geschah, was sie unter Familienleben verstand, gemeinsam zu essen, zu erzählen und einen kleinen Feierabendritus zu pflegen. Es war das Neue in ihrem Leben, das sie auch dann durchzuhalten versuchte, wenn alle erschöpft und schlafbedürftig waren.
Auch Theo hatte Freude daran, wenngleich diese Rituale ihm weniger bedeuteten als Elise. Was der Turnverein für Theo, war für Harald der Fußball. ‚Traurig, dass es so ist‘, dachte Elise zuweilen, wenn wieder einmal die beiden Männer lieber woanders waren als zu Hause, aber sie hatte sich damit abgefunden, die beiden zu nehmen, wie sie waren und das Gute zu sehen: ‚So habe ich zwei wohlgebaute und durchtrainierte Mannsbilder im Haus, sofern sie denn mal im Haus sind‘, stellte sie fatalistisch fest. „ Was man nicht kann ändern, das muss man lassen schlendern “, bemerkte ihre Mutter Helene, als Elise einmal mehr ihr Missbehagen andeutete.
Da Elise nicht mehr zum Zeitunglesen kam, las ihr Theo zuweilen einige der Überschriften vor, während sie das Abendessen zubereitete:
„Das Deutsche Reich verkündet den uneingeschränkten U-Boot-Krieg …“
„Ist das nun gut oder schlecht für uns?“, wollte Elise wissen. Durch ihre viele Arbeit verlor sie langsam den Überblick darüber, was draußen in der großen Politik geschah. „Das bedeutet klaren Sieg für uns“, erklärte Theo eindeutig. Nur ein müdes: „Na hoffentlich“, kam von Elise.
Auf ihrem Weg zur Arbeit las sie an einem Kiosk die Überschriften: „Die USA erklärt dem deutschen Reich den Krieg …“
Als sie im Salon ankam, diskutierten