Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland


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oder Kiefern. Er hätte gern den penetranten Mief seiner Benzinkarosse abgedreht, um intensiver den Duft der Felder und Tiere einzuatmen.

      Langsam fuhr er durch kleine Dörfer, um in sich aufzunehmen, was er sah: Auf zahlreichen Dächern Wagenräder mit Storchennestern, gebaut aus kleinen Zweigen und Stroh. Mit Schnabelgeklapper grüßende Adebar-Eltern, andere mit Fröschen für ihre heranwachsenden Jungen im roten Schnabel. Eine Dorfidylle wie aus Ilses Kinderbilderbuch, dachte Gustav wunschlos und beschwingt. Weiter ging seine Holperfahrt über ausgefahrene Landstraßen vorbei an einzeln stehenden Bauerngehöften oder Dominien von Großgrundbesitzern, eingebettet in Felder, die Dächer zwischen Bodenwellen zuweilen kaum sichtbar. Hin und wieder forderte ein kleiner Eisenbahnzug mit lautem Tut-Tut seine Aufmerksamkeit, und Gustav hielt vor dem Bahnübergang, durch voraufgegangene Hinweise ‚unbeschrankter Bahnübergang‘ vorgewarnt. Durch seine Landkarte wusste er, dass manche dieser Züge über Nebenstrecken auch sehr kleine Dörfer anfuhren.

      Der sanfte Wind drang wohltuend durch das Seitenfenster, willkommene Kühlung an einem warmen Tag. Sein Gesicht glühte von den Bildern der Landschaft, seine blauen Augen leuchteten, das blondes Haar, morgens noch sorgfältig seitengescheitelt, war vom Fahrtwind verwirbelt. Zuweilen lachte Gustav in sich hinein und malte sich aus, wie er eines Tages all das Schöne gemeinsam mit seiner Familie erleben würde.

      Am Spätnachmittag, die Bäume warfen schon lange Schatten, erreichte er Allenstein. Bevor er seinen alten Schulfreund aus Großröhrsdorf, ihrer gemeinsamen Sächsischen Heimat, aufsuchte, fuhr er im Schritt-Tempo durch den Ort, um die Stadt auf sich wirken zu lassen. Er passierte das Hohe Tor, malerisch in Backstein-Gotik und offenbar Teil einer ehemaligen mittelalterlichen Stadtmauer, die Jakobi-Kirche mit ihrem eckigen Turm und seinen zahlreichen weißen Fensteröffnungen oder Zierfenstern, das Ordens-Schloss, wehrhaft gleich einer Burg sowie das markante Viadukt, das zusammen mit Stadttor und Jakobi-Kirche auf Arnos Postkarte abgebildet war. Gustav war zwar abgespannt von der für ihn ungewohnt langen Strecke im eigenen Auto, dennoch weckte die von Backstein-Gotik geprägte eindrucksvolle Architektur der Stadt seine müden Lebensgeister und entzündete erneut die Entdeckerfreude und Neugier vom frühen Morgen seiner Reise.

      Gustav wurde von Arno, dessen Frau Lore, dem zehnjährigen Sohn Johannes und der siebenjährigen Tochter Hilde erwartet, als er bei ihnen klingelte. Die Familie hatte sich für den Gast sonntäglich gekleidet. Besuch empfingen sie eher selten. Die beiden Freunde hatten sich seit Verlassen der Schule vor 25 Jahren nicht mehr gesehen, da Arno gleich im Anschluss an die Schulzeit in einem entfernteren Ort seine Schreinerlehre aufnahm. Jeder der beiden war deshalb verblüfft und belustigt, statt des erinnerten Bildes eines Schulknaben einen gestandenen Mann im Alter ihrer damaligen Eltern vor sich zu sehen.

      Arno hielt Gustav mit ausgestreckten Armen von sich, um ihn lachend zu betrachten: „Wie es scheint, sind wir beide älter geworden, alter Junge“, begrüßte er seinen Gefährten aus Kindertagen herzlich. Vor sich sah Arno einen mittelgroßen zähen Mann mit schmalem, markantem Gesicht, indianerhaft ledern und gebräunt, leuchtend und gutaussehend, wie er den Schulfreund in Erinnerung hatte. Arno sah noch aus wie damals: Lausbubenhaftes Pausbackengesicht mit Grübchen und vollen Lippen, nur jetzt ein älter gewordener Lausbub, mit schwieligen Händen, groß ‚wie Musterkoffer‘, wie Gustav lachend feststellte. Dann lagen sich die beiden in den Armen, beklopften gegenseitig ihren Rücken und fühlten sich wohl bei dem vertrauten Anblick und Geruch des ehemaligen Weggenossen.

      Nach dem gemeinsamen Abendessen, Lore hatte Königsberger Klopse mit Klößen aus rohen und gekochten Kartoffeln und Blaukraut zubereitet, als Nachtisch Kompott aus gedünsteten Waldbeeren mit einem Häubchen geschlagenem Quark, zogen sich die beiden Männer zurück.

      Gustav war zwar müde von der Reise, wollte aber noch am selben Abend einen ersten Eindruck von der zum Verkauf stehenden Baustoffhandlung gewinnen.

      Sie fuhren mit Gustavs Wagen zum Stadtrand. Das Anwesen lag frei nach allen Seiten, umgeben von Ackerland und einer kleinen Waldgruppe am Horizont. Die nächsten Nachbarhäuser zur Stadt hin standen ausreichend entfernt, um auch dann unbehelligt zu bleiben, wenn Laster der Baustoffhandlung Waren anzuliefern oder abzuholen haben würden. Bei näherem Hinschauen nahm Gustav diese Details wahr: ein verwahrlostes Wohnhaus mit anscheinend gutem Zuschnitt, eine ebenso verwahrloste Lagerhalle, ausreichend groß mit noch brauchbarem Material, Bohlen, Dielenbrettern, Dachlatten, Fliesen, Dachpfannen oder Klebstoffe unter zentimeterdicker Staubschicht sowie einen völlig verwilderten Garten mit alten Bäumen, der ihn an das Dornröschenschloss im Märchenbuch seiner Tochter Ilse erinnerte.

      Der Besitzer des Anwesens mit seinem schlohweißen, dünnen Haar, wohl um die 80 Jahre alt, hatte, wie er, auf einen Stock gestützt und vornüber geneigt, erzählte, in den letzten zwei Jahren seit dem Ableben seiner Frau allein hier gewirtschaftet. Gustav übersah schnell, dass der alte Mann, hilflos lächelnd und schulterzuckend, vom Anblick seines heruntergekommenen Besitzes offensichtlich überaus beschämt, von der Fülle ungetaner Arbeit vollkommen überfordert gewesen sein musste. Er erkannte aber gleichzeitig, dass er, Gustav, mit ein bis zwei Leuten in überschaubarer Zeit hier Ordnung schaffen und aus einem verwahrlosten Handwerksbetrieb einschließlich Wohnhaus und Garten ein ansehnliches Anwesen gestalten würde. Er kannte sich, hatte Kraft, konnte nicht nur arbeiten wie ein Pferd, sondern fand darin Lebenssinn und Erfüllung. Der Wust, den er vor sich sah, ließ sein Blut freudig in Wallung geraten. Am liebsten würde er gleich jetzt die Ärmel hochkrempeln und loslegen.

      Er hatte sich bereits entschlossen, zu erwerben, was er sah, würden die Bedingungen für ihn und seine Familie verkraftbar sein. Zwar hatte er Geld gespart, würde aber einen Bank-Kredit aufnehmen müssen. Arno hatte bei diesem Thema angedeutet, bei Bedarf für ihn zu bürgen. Zudem waren Haus, Gewerbegebäude und Grundstück als Sicherheiten vorhanden.

      Am nächsten Morgen, ausgeruht und nach einer kräftigen Roggenschrotsuppe mit einem Schuss frischer Milch und einer Quarkschnitte zu einer Tasse Gerstenkaffee, begaben sich die beiden Jugendfreunde zu dem Besitzer und konnten die Räume von innen erkunden. Auch im Inneren zeigte sich, wie erwartet, dass viel zu tun sein würde, aber die Räume waren gut geschnitten, zwei kleine Kinderschlafzimmer, ein etwas größeres Elternschlafzimmer, eine große Wohnküche, das Ganze unterkellert mit Waschküche und zwei Vorratsräumen, und überwölbt von einem Spitzboden zum Trocknen von Wäsche, Obst oder Pilzen. Die Bausubstanz war einwandfrei, sodass sich die Aufwendungen für eine Renovierung in einem annehmbaren Rahmen bewegen würden. Der Preis, den der Besitzer nannte, lag unter dem von Gustav kalkulierten, sodass der alte Mann und Gustav vorläufig handelseinig wurden. Vor einer endgültigen Zusage wollte Gustav unbedingt mit Hermine reden und sie für seine bisher für sich behaltenen Pläne gewinnen.

      Als der geschäftliche Teil bewältigt war, schlenderten Arno und Gustav durch den Ort vorbei am Ordensschloss aus dem 14. Jahrhundert, der barocken Jerusalem-Kapelle mit ihrem Kuppeldach und dem historischen Rathaus. Immer wieder begegneten sie der Alle, dem kleinen Fluss, dem Allenstein seinen Namen verdankt. „Übrigens, die Allensteiner sind besonders stolz, dass Nikolaus Kopernikus, ja, der Nikolaus Kopernikus, 1520 als Kanzler des Ermländer Domkapitels in Allenstein residiert hat.“

      Die Stadt mit ihren zahlreichen geschichtsträchtigen Bauten gefiel Gustav, und das Wohlgefühl seiner ersten Eindrücke stellte sich wieder ein. Arno lud Gustav ein, mit ihm die nächsten zwei bis drei Tage in die Umgebung zu fahren, zum Maurer See, nach Königsberg, zum Frischen Haff und auf der Rückfahrt vorbei an der Marienburg. „So kannst du deiner Familie mit den Bildern dieses Landes im Kopf anschaulicher beschreiben, was sie hier erwartet.“

      Die beiden fahren am nächsten Morgen sehr früh zum Mauer-See, über dem Nebelschwaden wabern und an dessen schilfbestandenem, seichten Ufer Reiher, wie dunstige Märchenwesen, auf einem Bein stehend, kleinen Fischen auflauern. Einen engen Uferpfad betretend, verhält Arno, einen Zeigefinger vor dem Mund, bedeutet seinem Freund, innezuhalten und weist mit der anderen Hand in Richtung des geisterhaften ‚Wuumb‘ einer Rohrdommel.

      „Schwimmen und Bootfahren im Sommer, Schlittschuhfahren mit Windsegeln im Winter“, bemerkt Arno im Weitergehen lebhaft. „Besonders südlich von Allenstein liegt eine ganze Seenkette, die lange Wassertouren per Boot zulässt.“

      Auf der Weiterfahrt in Richtung Königsberg passieren