„Die Getreidefelder, die du hier siehst, tragen hauptsächlich Roggen, weiter nördlich gegen die Ostsee hin, auch Hafer für die Pferde, aber auch für die Menschen als Haferflocken. Es gibt sogar einige Tabakpflanzungen sowie Hopfenanbau für die Bierbrauer, natürlich auch Kartoffeln, Gerste und Zuckerrüben. Wir können uns hier nicht nur selbst ernähren, sondern auch Landprodukte verkaufen, teilweise ins Ausland und Devisen erwirtschaften. Die Maschinen- und Holzindustrie trägt ihren Teil zu einem gewissen Wohlstand bei.“ Gustav erfährt, dass Allenstein mit ungefähr fünfzigtausend Einwohnern etwa ein Siebtel der Einwohner von Königsberg und ein Zwölftel von Breslau zählt. Gustav schaut seinen Freund mit hochgezogenen Brauen und leicht resigniertem Blick an: „Ich hoffe, dass sich Hermine mit der Kleinstadt anfreunden kann. Sie liebt das Flair von Breslau und auch die gewisse Anonymität der Großstadt. Ich werde froh sein, wenn ich diese Nuss geknackt haben werde“, sagt Gustav und kann einen besorgten Seufzer nicht unterdrücken.
Gustav ist von Königsberg, der Stadt Immanuel Kants, dem Dom aus dem 13. Jahrhundert, dem Schloss, der Universität beeindruckt. Auch der große Handelshafen ebenso wie der Eisenbahnknotenpunkt ist für ihn, den künftigen Geschäftsmann, von hohem Wert. Die beiden Freunde fahren weiter zum Frischen Haff. Gustav atmet die Seeluft, riecht Fisch und Meerwasser. Die salzige Luft spürt er auf der Zunge. Der Wind verbläst erneut seinen Scheitel. Dieses einzigartige Licht, vom Meer gespiegelt, der weite Horizont! Gustav ist überwältigt und hofft, die Nähe der Ostsee wird das gewichtigste Argument für Hermine sein. Ein blondbärtiger Mann mit Gummistiefeln, hoch über die Knie reichend, bewegt eine Stange mit einem siebartigen Netz durch das Flachwasser des Ufers, als harkte er den Meeresboden. „Ein Bernsteinfischer“, erläutert Arno. „Bei einem gewissen drehenden Wind landet besonders viel von diesem Harz aus Urzeiten hier an, dem Gold der Ostsee, wie die Ostpreußen sagen. Willkommene Erwerbsquelle für Fischer und deren Frauen, die den Bernstein zu Schmuck oder kleinen Gegenständen verarbeiten.“
Jenseits des Haffs schimmert die blaue Linie der Nehrung. Arno erzählt von ungewöhnlich großen Kormorankolonien, ungeliebten Konkurrenten der Fischer, weil jeder Vogel mehr als ein Pfund Fisch am Tag frisst und berichtet von zahlreichen Wildschweinfamilien, die das Haff bevölkern. Das Kreischen von Möwen begleitet die beiden Freunde. Eine einzelne sitzt, einem Denkmal gleichend, auf einem Pflock und beobachtet mit gelbgeränderten Augen das Geschehen. Ein Fischer hebt aus grün gestrichenem Boot eine Kiste mit silbrig glänzenden Fischen und zieht danach sein grobmaschiges Netz an Land. Duft von geräuchertem Fisch dringt aus einer Holzhütte.
„Der Fisch wird teilweise sofort geräuchert zum Verzehr oder zum Verkauf an Passanten“, erläutert Arno, „zum Beispiel an dich und deine Familie bei einem Wochenendausflug von Allenstein aus.“
„Herrliche Aussichten“, findet Gustav, „allerdings ist bis dahin noch ein weiter und steiniger Weg.“ Und wieder versucht er, sich Hermines Reaktion auf seinen Plan vorzustellen, von dem sie nichts ahnt.
Er drängt zur Rückfahrt, so gern er noch bliebe, aber seine Zeit ist begrenzt, und er möchte den Hauskauf unter Dach und Fach bringen. „Auf der Rückfahrt nach Allenstein sollten wir unbedingt noch über die Marienburg fahren. Das musst du gesehen haben.“ Arno erläutert auf der Fahrt, das Land Allenstein und die Marienburg seien Ordensritterland, die Marienburg der größte Backsteinbau Europas, im Laufe der Geschichte mal von Schweden, Polen oder dem preußischen König besetzt. Beinahe wäre dieses einzigartige Bauwerk, lange von der Bevölkerung als Ziegelsteinbruch missbraucht, verfallen, hätte nicht der Preußenkönig Friedrich-Wilhelm III 1804 weiteren Abriss an der Burg verboten und eine Renovierung verfügt, an der auch Schinkel beteiligt war.
Als sie vor dem gewaltigen Bau stehen, bricht die Sonne hinter den Wolkenschleiern hervor und lässt das gigantische Bauwerk wie in Flammen getaucht erglühen. Die beiden stehen minutenlang wortlos und ergriffen vor dieser historischen Stätte, die, sonnendurchstrahlt, wie ein lebendiger Körper anmutet. „Großartige Idee, noch hierher zu fahren. Ich stelle mir meine beiden geschichtsinteressierten Söhne vor, insbesondere Paul, dessen Fantasie hier Flügel wachsen dürften.“
Gustav versucht, sich auf das Fahren zu konzentrieren, ist aber so voller Eindrücke, dass er gerade lernt, zu fahren und sich trotzdem mit seinem Mitfahrer zu unterhalten. „Ich bin so angefüllt mit Bildern. Das gab’s selten zuvor in meinem Leben. Vor allem innerhalb einer so kurzen Zeit. Mein Kopf … das reinste Bilderbuch. Werde viel zu erzählen haben. Dank dir für Deine lehrreiche Reiseleitung.“
Gustav fühlt sich ermattet vom ungewohnt langen Fahren und kaum noch aufnahmefähig für Weiteres nach den Eindrücken, die sein Herz und seine Sinne erfüllen und die er tief innen aufzubewahren gedenkt.
Arno hat eine letzte Überraschung für seinen Freund. Wieder daheim in Allenstein, führt er Gustav in den Garten zu einer großen Hundehütte. Sogleich springt Manja, eine stattliche schwarze Riesenschnauzerhündin, auf ihren Herrn zu und begrüßt ihn leidenschaftlich, den ganzen Körper wogend und schlängelnd, japsend und vor Begeisterung winselnd. „Manja, sitz“, sagt Arno ruhig und liebevoll, und Manja gehorcht. „Brav“, Arno krault das Tier hinter den Ohren. „Manja wird im Herbst Junge haben. Wie wär’s mit einem Welpen für Deine Kinder? Auf dem neuen Grundstück wäre ein Hund nicht nur sinnvoll sondern auch gut zu halten.“
„Paul wünscht sich seit langem sehnlichst einen Hund“, sagt Gustav. „Ideal, wenn Paul einen Hund als Freund und Begleiter bekommt. Wegen seiner geringen Körpergröße wird ein großer Hund sein Selbstbewusstsein und Ansehen bei seinen Freunden und Klassenkameraden stärken. Zudem werden beide Jungen neue Freundschaften aufbauen müssen. Für Ilse dürfte der Umzug am einfachsten sein. Sie fühlt sich wohl, wo Papa und Mama sind.“ Gustav ist begeistert von der imposanten Schnauzerhündin und gewinnt ihre Zuneigung. Sie schaut ihm vertrauend in die Augen, lässt sich hinter den Ohren kraulen wie von ihrem Herrn, drückt ihren schweren Körper gegen seine Knie, hechelt bewegt und gibt ihm zuletzt die große Pfote wie zur Besiegelung einer neuen Freundschaft.
Nach einer Woche ist Gustav wieder daheim. Wie sag ich es und wann? Gustavs Hände sind unruhig. Mal steckt er sie in die Hosentasche, dann zieht er sie gleich wieder heraus.
Hermine hat zu seiner Begrüßung das weinrote, seidig glänzende Kleid angezogen, das er so gern an ihr sieht; es schmiegt sich an die feinen Rundungen ihrer weiblichen Formen. Ihr Haar glänzt frisch gewaschen und ist auf dem Kopf zu einer Rolle hochgesteckt. Elegant und ein wenig unnahbar, findet Gustav, aber gerade das hatte ihn angezogen, als sie sich kennenlernten und stolz gemacht, diese attraktive Frau für sich gewonnen zu haben. Mit ihren breiten vollen Lippen lächelt sie ihm entgegen.
Ilse hat eine frisch gebügelte, breite rosa Schleife auf dem Kopf, springt ihn an, Gustav fängt sein Mädchen auf und setzt sie auf seine Schultern. „Ich hab dich lieb“, sagt das Kind und hält seinen Kopf umschlungen. Arthur gibt dem Vater die Hand, ohne eine Miene zu verziehen. Paul schaut ihm fragend, erwartungsfroh und mit einem kleinen Lächeln entgegen. Kaum kann er erwarten, von Vaters Erlebnissen zu hören.
Beim Abendessen, Hermine hat einen duftenden Schweinebraten mit Sauerkraut und Kartoffelklößen aufgetragen, beginnt Gustav zu erzählen: von Allenstein, in dessen Nähe ein See zum Baden, Bootfahren, Schlittschuhlaufen im Winter einlädt, dem alten Stadttor, dem Dom mit dem dicken Turm, er erzählt vom Haff und dem Bernsteinfischer und dass auch Kinder dort Bernstein finden und einsammeln, von Fischräuchereien am Strand, Kormoranen und Wildschweinen auf der Nehrung, von der glühenden Marienburg, dem größten Backsteinbauwerk Europas und von Manja, der leidenschaftlichen Riesen-Riesenschnauzerhündin Arnos, die im Herbst Junge haben wird.
Die Kinder lauschen mit offenem Mund und versonnen schniefend. Zuweilen vergessen sie das Kauen. „Fahren wir da auch mal hin?“, fragt Ilse.
„Was möchtet ihr denn gern sehen?“
„Die Marienburg“, antworten Paul und Arthur fast gleichzeitig.
„Ich möchte Manja streicheln“, vermeldet Ilse mit heller Stimme.
„Schwimmen im See und spazieren um den See, promenieren im Stadtwald von Allenstein“, äußert Hermine und nickt besiegelnd mit dem Kopf.
Gustav sitzt auf heißen