Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland


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wie das wirre Summen eines aufgescheuchten Bienenschwarms.

      Vom Holzkohlengrill ziehen Duftwolken safttriefender und goldbraun gerösteter Würste schon am Vormittag Passanten an. Der würzige Wohlgeruch von Gebratenem mit Senf vermischt sich mit dem Bukett der Astern, Zinnien und Nelken in den Blecheimern, der Zigarren und des Kaffees eines Ausschanks, an dem eine freundliche Marktfrau in blau-weiß kariertem Dirndl mit blauer Schürze mehr knusprig-fettglänzende Krapfen als sonst aus dem blasenwerfenden, siedenden Öl fischt und dick mit Puderzucker bestäubt. Kassen klingeln. Kinder rennen munter johlend umher, kleine schwarz-rot-goldene Papierfähnchen schwenkend. Sie beteiligen sich fröhlich trällernd an der allgemein aufgekratzten Stimmung, ohne den Grund dieser Volksfeststimmung zu kennen und umlagern mit munterem Stimmengewirr den bunt mit rosa, hellblau und gelben Eistüten bemalten Wagen des Eismannes.

      Rauchige Schwaden von Bratöl tauchen das Marktgeschehen in einen blauen Dunstschleier von Unwirklichkeit.

      Gustav liest abends Hermine aus der Zeitung vor: „Die vor dem Berliner Schloss wartende Menschenmenge stimmt, als sie die Nachricht vom Kriegsausbruch hört, spontan den Choral an: ‚ Nun danket alle Gott …‘ Menschen fluten mit Fahnen durch Berlin. Die Wirtschaften sind voll besetzt. Patriotische Lieder werden gesungen und Ansprachen gehalten. Hochrufe auf Kaiser, Heer und Marine sind allerorten zu vernehmen. Zwei Millionen Männer werden einberufen, melden sich freiwillig, werden ausgerüstet und bewaffnet.“

      Hermine hört sich das an und schüttelt wieder und wieder den Kopf. „Spinnen die denn alle!“, sagt sie schließlich viel zu laut. Ihre Stirn kraust sie in Längs- und Querfalten, ihre graugrünen Augen funkeln unheildrohend. „Ist denn in Berlin keiner mehr, der noch klar denken kann?“

      Arthur kommt zur Tür herein. Er wirkt erwachsener in dieser Zeit, aber noch schweigsamer als gewohnt. In diesen wortkargen Tagen, nach zahlreichen Streitgesprächen im Geschichtsunterricht, in den Pausen, auf dem Schulhof mit Mitschülern und dem Heimweg mit seinem Freund, ist in ihm, wie auch in Wolfgang, ein Entschluss gereift. Er sieht Vater und Mutter mit Zeitung und den neuesten Nachrichten beschäftigt und fasst sich ein Herz, zu offenbaren, was er nicht mehr verschweigen kann: „Unsere Klasse hat sich geschlossen zum Kriegseinsatz gemeldet.“ Als der Satz heraus ist, rumpelt sein Herz so, dass er bangt, seine Eltern könnten den wilden Herzschlag hören. Einen Augenblick lang befällt ihn Mutlosigkeit. Die sekundenlange Beklommenheit verdrängt er jedoch standhaft, schöpft tief Luft, und sein eiliger Herzschlag ebbt ab.

      Er sieht seine Mutter nach Luft schnappen, ihre Lippen öffnen und formen sich zu einer Aussage, er kommt ihr zuvor: „Wir wollen alle dabei sein. Wir wollen schneller zurück sein als unsere Großväter 1870/71. Etwas anderes kommt für uns nicht in Frage.“

      Gustav schaut seinen Sohn an und überlegt, wäre ich in seinem Alter, würde ich ebenso denken und reden. In gewisser Weise ist er stolz auf seinen Großen, der in diesen Tagen erwachsen geworden ist.

      „Habt ihr alles gut bedacht?“, fragt er dennoch. „Im Geschichtsunterricht haben wir das Für und Wider ausgiebig erwogen. Da wir aber siegen werden, lehnen die meisten von uns die Unkereien der ewigen Bedenkenträger ab.“

      Hermine würde jetzt gern Arthurs Hand nehmen und ihn bitten, nicht zu gehen, einfach bitten. Aber da steht er, entschlossen, jung und stark, als wäre dieser angehende junge Krieger nicht ihr Sohn. Dennoch, sie ist aufgestanden, um näher bei seiner Hand zu sein, die sie sachte ergreift, und sagt, sehr leise und kaum hörbar: „Bleib.“ Arthur entzieht ihr seine Hand, behutsam aber entschieden. Entschlossenheit liegt in seinen Augen, aber auch ein Hauch von Wehmut. Er hat sich entschieden. Standfest muss er jetzt bleiben. Noch ahnt er nicht, dass er ein Leben lang nicht vergessen wird, wie er seiner Mutter in diesem Augenblick, Weh im Herzen, seine Hand entzog. Und die Ohnmacht in Mutters zusammensinkender Gestalt, ihre traurigen Augen. Er wird die Hand der Mutter vor Augen haben, wie sie wehrlos an ihrem dunklen, langen Rock niedersinkt. Und sich als elender Egoist fühlen.

      Eine Woche später marschiert Arthur zusammen mit seinen Klassenkameraden unter Heil- und Freudenrufen der Bevölkerung durch die Stadt, eine kleine Militärkapelle begleitet sie und spielt: „ Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus …“ Frauen mit Blumensträußen begleiten sie und winken. Kinder laufen lebensfroh trällernd und Fähnchen schwingend nebenher. Paul drückt seinem großen Bruder ein letztes Mal die Hand. „Wenn ich gut sehen könnte und alt genug wäre, würde ich es auch als meine nationale Pflicht ansehen, für unser Vaterland zu kämpfen.“ Ernst und gefasst schaut er seinen großen Bruder durch seine kleine runde Nickelbrille an. Arthur bemerkt heut zum ersten Mal, dass Pauls Augen unterschiedlich groß sind. Das linke mit dem Kunstauge ist kleiner. Mitleid greift ihm ans Herz. Die Lippen seines kleinen Bruders zittern kaum sichtbar. „Mein Kleiner, red’ nicht so geschwollen. Pass du auf Mutter auf, das ist jetzt genauso wichtig“, sagt er und bemüht sich, stark zu wirken und nicht loszuheulen. Die Worte seines kleinen Bruders haben ihn mehr berührt, als er zugeben kann und Paul wissen soll. Die kleine Ilse kann gar nichts sagen. Sie umfasst Arthurs Hand mit ihren beiden kleinen Mädchenhänden und schmiegt ihr Gesicht in seine raue Jacke mit dem herbfremden Geruch des Uniformstoffes. Er streicht ihr über ihre blonden Rieselhaare. „Nicht flennen“, sagt Arthur leise zu Ilse. Und im Stillen energisch zu sich selbst.

      Als der Zug abgefahren ist, sind Hermine, Gustav, Paul und Ilse sehr still geworden. Innerlich aufgewühlt halten sie sich an den Händen und trotten heimwärts.

      Hermine fragt: „Wie kann eine solche Kriegsbegeisterung plötzlich, wie aus dem Nichts über ein ganzes Land kommen wie eine Seuche?“ Gustav, der in den zurückliegenden Tagen mit mehreren Geschäftsfreunden diese Frage erörtert hat, sagt: „So plötzlich kam das nicht. Spannungen gibt es seit längerem. Sie kommen aus Expansionsbestrebungen und unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Staaten.“

      „Was heißt das konkret? Klingt mir zu abstrakt.“

      Gustav erläutert: „Zwischen Deutschland und Frankreich schwelt ein alter Streit um Elsass-Lothringen. Beide erheben Besitzansprüche. Zwischen Deutschland und Großbritannien gibt es eine Rivalität um den Flottenausbau. Die Briten wollen die Nummer Eins auf den Meeren bleiben. Die Briten und Franzosen wetteifern trotz ihrer Entente cordiale, die sie äußerlich scheinbar versöhnt hat, um Ansprüche in den Kolonien.“ Hermine stellt das nicht zufrieden. „Wir leben doch aber nicht im Wilden Westen. Wofür gibt es Diplomaten, wenn alle plötzlich Lust haben, aufeinander einzuschlagen?“, sie hat sich ereifert und bekommt nur schwer Luft. Der Abschied von Arthur hat sie viel Nervenkraft gekostet: „Wir Deutschen sind überzeugt, anderen Nationen überlegen zu sein“, erläutert Gustav, „andererseits glauben wir, Objekt einer Einkreisungspolitik unserer Nachbarn zu sein, die Deutschland seine führende Rolle in der Weltpolitik verwehren will. Nationalprestige und Machtwille sind bei uns stark ausgeprägt. Wir wollen uns von den anderen nicht so ohne weiteres entthronen lassen.“

      Hermine lässt nicht locker: „Also, ich hab bisher so viel verstanden: Die europäischen Staaten haben Spannungen untereinander. Es geht um Zugewinn an Land und Macht. Richtig?“ Gustav nickt. „Diplomatisch scheint nichts mehr zu gehen. Die Todesschüsse haben den ersten Domino-Stein zum Kippen gebracht. Erster Domino-Stein, das waren die Sarajewo-Schüsse auf das Kronprinzenpaar, der zweite das deutsche Ultimatum an Russland, mit der Mobilmachung aufzuhören, dem Russland nicht gefolgt ist. Deutschland erklärt den Russen den Krieg. Deutschland fordert Frankreich auf, neutral zu bleiben. Frankreich lehnt ab. Deutschland erklärt Frankreich den Krieg. Die Bündnisverpflichtungen treten in Kraft und weitere Domino-Steine kippen.“ Hermine holt Luft. „Sind denn unsere Berliner Politiker, voran unser Kaiser Wilhelm, alle tollkühn geworden? Das kleine Deutschland gegen Frankreich und Russland gleichzeitig? Ein Zwei-Fronten-Krieg. Wie soll das gutgehen?“

      In den nächsten Tagen ist in den Gazetten zu lesen, in Berlin sei eine große Ernüchterung eingetreten. Der Kaiser war sich offenbar über die zahlreichen Bündnisse nicht im Klaren. Er hat die vielfältigen Neutralitäts- und Waffenhilfe-Abkommen unterschätzt.

      Gustav sieht nach der Zeitunglektüre ratlos aus. Das Blatt ist ihm unmerklich über die Knie auf den Boden gerutscht. Seine Brille hat er auf den Tisch gelegt. Er streicht sich mit der Hand durch sein Haar.

      „Das