an ihr vorüber. Hausfrauen mit Blumensträußen und prall gefüllten Taschen trotteten hierhin und dahin, betrachteten Möhrenbunde, begutachteten rote und grüne Äpfel, verglichen die Preise von Wirsing und Rotkohl, prüften verschiedene Kartoffelsorten, betrachteten Astern und Zinnien in Eimern oder standen in Gruppen, die Einkaufstaschen zwischen den Beinen und plauderten vergnügt und angeregt.
Ronja entdeckte hier und da einen Hundekollegen mit Frauchen auf dem Marktplatz. Gebannt und Aufmerksamkeit heischend blaffte sie kurz und dezent. Sie zog an ihrer Leine, schnaufte aufgeregt oder belferte ärgerlich, wenn ein kleinerer Hund sie kratzbürstig anraunzte, statt sie freundschaftlich zu beschnuppern, anzuschwänzeln oder ihr gebelltes ‚Hallo‘ zu erwidern.
Hermine betrachtete das Geschehen vor sich, empfand tiefes Wohlbehagen und war in diesem Augenblick wunschlos glücklich.
Da rief eine Jungenstimme ganz in ihrer Nähe: „Extrablatt, Extrablatt! Thronfolger Ferdinand und seine Frau Sofie in Sarajevo erschossen! Extrablatt, Extrablatt!“
Der rufende, etwa zwölfjährige Knabe mit einer Schiebermütze trug ein dickes Paket Zeitungen auf dem Arm und war in kurzer Zeit von einer Menschentraube umgeben. Es dauerte eine Weile, bis Hermine an der Reihe war und ihr Extrablatt in der Hand hielt.
Sie setzte sich auf ihren vorherigen Platz. Während sie las, verdunkelte sich ihre Miene wie mit einem grauen Schleier, als sei die Freude in ihrem Gesicht ausgeknipst worden.
Ronja neben ihr war von dem lauten Rufen des Zeitungsjungen zappelig geworden. Lautes Geschrei widerstrebte ihr, auch solches von Arthur, Paul und Ilse zu Hause. Stritten sie zuweilen, ging Ronja mit Gebell dazwischen und schubste denjenigen mit der Schnauze, der nach ihrer Meinung Urheber der Misshelligkeit war. Hermine musste Ronja besänftigen, um zu verhindern, dass diese auf ihre Weise durchgriff. „Is’ gut“, sagte Hermine und knuffte ihren Hund freundschaftlich.
Sie las, Kronprinz Ferdinand, der Habsburger Thronfolger, sei zusammen mit seiner Frau, Herzogin Sofie von Hohenberg, in Sarajevo von dem bosnischen Studenten Gavrilo Princip erschossen worden. Als Hintergrund wurde eine großserbische nationale Bewegung genannt. Die Serben würden zusammen mit Bosnien und Kroatien ein Großserbisches Reich anstreben, um die Österreicher vom Balkan zu verdrängen.
Hermine legt die Zeitung, die sich zunächst auf diese Meldung beschränkt, auf den Tisch. Ihr Kaffee ist ausgekühlt. Das Eis ist geschmolzen und hat begonnen, die Muschelwaffel aufzuweichen. Hermine hält Ronja gedankenverloren die Waffel mit dem flüssigen Eis hin. Ronja schleckt erst das flüssige Eis, dann beißt sie manierlich von der Waffel ab, nimmt sie Hermine behutsam aus der Hand und verschlingt den Rest. Sie beleckt sich, ihre Augen leuchten, sie scheint zu lächeln mit ihren auseinandergezogenen Lefzen und angelegten Ohren.
Eine ältere Dame mit silberweißer Hochfrisur am Nebentisch, gleichfalls mit einer Zeitung in der Hand, schaut mit leerem Blick zunächst auf ihren Tisch, dann ihre Nachbarin mit der dunklen Brille, der langen Nase und dem straffen schwarzen Haarknoten im Nacken ratlos an. Die beiden Damen beginnen zunächst stockend, dann immer erregter zu spekulieren. „Was hat das zu bedeuten?“, fragt die Weißhaarige. „Ich muss unbedingt meinen Mann fragen“, entgegnet die mit dem Knoten. „Furchtbar“, stellt die Weiße fest, „ja, ganz, ganz furchtbar, einfach so erschossen“, entgegnet die bebrillte Schwarze.
Hermine schüttelt den Kopf. Die Sonne scheint noch immer. Makaber erscheint ihr das in diesem Moment. Zwei Menschen sind heut erschossen worden. Einfach so. Mitten im Frieden. Und die Sonne scheint, die Geranien leuchten, alles wie zuvor. Und doch ist alles anders. Sie trinkt den lauwarmen Kaffee aus.
Was sollte dieser Doppelmord? Ihr schaudert. Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. Diese mittelalterliche Verszeile aus dem Gesangbuch kommt ihr in den Sinn. Dann vollzieht sich mit ihr eine seltsame Verwandlung, die ihre beiden Nachbarinnen aufmerken lässt.
Ihr Blick verschleiert sich, sie stiert weit ins Nirgendwo, die Farbe ihrer Augen wird dunkel und gespenstisch. Die Zeitung ist auf ihre Knie gerutscht. Ihre Nachbarinnen sehen sie eine Weile völlig in sich versunken. Sie bewegt sich nicht, wirkt wie erstarrt, und scheint kaum zu atmen.
Hermine ist es, als hörte sie Kriegslärm, Geklirr von Metall auf Metall, dumpfe Aufschläge, trockenharte Einschläge, dann qualvoll und peinigend einen Schrei, einen Schrei, wie von Arthurs Stimme: ‚Mutter, Mutter …‘ Hermine fährt auf. Habe ich geschlafen? Sie fühlt sich benommen, streicht mit der Hand über die Stirn, greift in ihren Nacken und streicht ihn wiederholt. Einen Moment lang fällt es ihr schwer, sich zu orientieren. Sie ist nicht sicher: ‚Habe ich geträumt? Oder bin ich eingenickt?‘ Vor sich undeutlich der offene Mund einer Frau, die auf sie einredet: „… werden doch ganz nass“, hört Hermine. ‚Meine lange aufgestaute Müdigkeit‘, geht es ihr durch den Sinn. Hat sie nicht Arthur schreien hören?
Eine dunkle Wolkenwand steht drohend über ihr. Zunächst dumpfes Donnergrollen, dann lautes Krachen. Erste dicke Regentropfen fallen auf die Zeitung wie harte kleine Steine. Ronja ist aufgeregt, sie hat Angst bei Gewitter, zittert und hat eine Pfote auf Hermines Schenkel gelegt. Sie jault und zerrt an der Leine, sie will nach Hause. Blitze zucken durch das Anthrazit des Himmels. Der Regenschauer verstärkt sich.
Hermine will mit Gustav und den Jungen reden. Sie hat keinen Regenschirm mitgenommen. Im Eingang des Cafes wartet sie den Schauer ab. Andere Cafe-Besucher stehen bereits schutzsuchend im Eingang. Hermine macht sich mit Ronja im Eilschritt auf den Heimweg. Noch grollt es hinter grauer Wolkenwand, von grellen Blitzen durchzüngelt.
Die Nachrichten überschlagen sich in den nächsten Tagen. „ Das Deutsche Reich ermuntert Österreich-Ungarn, gegen Serbien vorzugehen “, ist in der Zeitung zu lesen.
„Was heißt das?“, fragt Hermine ihre Söhne, die in der Schule über die gegenwärtige politische Großwetterlage reden. „Mein Geschichtslehrer“, sagt Arthur, „hält für möglich, dass es Krieg gibt, sagt aber gleichzeitig, das sei äußerst riskant, weil die Europäischen Staaten durch unterschiedliche Verträge so miteinander verbunden sind, dass eine Kriegserklärung, zum Beispiel von Österreich-Ungarn an Serbien, zu einem Flächenbrand führen könnte.“
„Was heißt Flächenbrand?“, fragt Hermine sehr leise und sorgenvoll. „Europäischer Krieg“, sagt Arthur behutsam, als glaube er das selbst nicht. „Hat er gesagt, muss aber nicht stimmen“, entgegnet Paul. „Hoffen wir, dass alle, die jetzt politisch Verantwortung tragen, die Nerven behalten“, stellt Gustav fest.
Am 31. Juli 1914 verkünden Extrablätter im deutschen Reich den allgemeinen Kriegszustand. Anfang August lässt Kaiser-Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung bekanntgeben.
8. Kapitel
Der erste Weltkrieg bricht aus
Am nächsten Vormittag geht es in der Klasse lebendig zu. Die Jungen drehen die Köpfe einander zu, fuchteln mit Händen und Armen, mit erhitzten geröteten Gesichtern reden sie aufeinander ein und sind lauter, als es Friedmann, ihr Geschichtslehrer, normalerweise erlaubt. Friedmann öffnet eines der hohen, vielfach unterteilten, weiß gestrichenen Fenster, um frische Luft hereinzulassen. ‚Hier stinkt’s wie in einem Raubtierzwinger‘, denkt er schmunzelnd, ‚kein Wunder, bei dreißig sich ereifernden, schwitzenden jungen Männern, die sich wie kraftstrotzende junge Löwen gebärden, gegenwärtig aber in viel zu engen, verkratzten Holzbänken, diese zu zweit miteinander verschraubt, wie eingeklemmt hocken. Das Ratschen der Schuhe auf dem Boden markiert den erhöhten Erregungspegel.‘
Krieg soll es geben, haben sie gehört. Hellwach sind sie alle geworden. Mitmachen? Na klar! Du spinnst wohl! Denk mal an die Folgen! Gedanken fliegen hin und her wie harte Tennisbälle. Das Thema hat sie entzündet. Keiner träumt heut den sanften Dämmerschlaf wie zuweilen, wenn von alten Römern oder Griechen die Rede ist.
Friedmann lässt seine Schüler frei ihre Gedanken und Gefühle benennen. Einige haben zu Hause über die Möglichkeit eines Krieges debattiert. Siegfrieds Großvater hatte gesagt: „Da gibt es nichts zu überlegen. Wenn ich nicht zu alt wäre, zöge ich sofort wieder mit wie 1870/71, als wir den Franzosen die Hucke versohlt und sie