entschuldigte er dessen Einstellung, denn er gehorchte der Kirche und war ihr treuer Diener. Zum preußischen Staat hatte Galen wie alle Katholiken ein zwiespältiges Verhältnis, er mochte diesen protestantischen Staat und seine Vertreter nicht, nannte dieses ein Staatsgottestum, andererseits hielt er an den standesrechtlichen Obrigkeitsverhältnissen fest.
Albert fuhr fort. »Heute las ich in der Zeitung die Begnadigung dieses Hauptmanns von Köpenick und musste herzhaft lachen, obwohl das nicht zum Lachen ist. 1906 stellte dieser das Militär bloß und ist jetzt vom Kaiser begnadigt worden. Ja, ja, unser Kaiser und sein Militär. Dieser Schuster legte den ganzen Wahnsinn dieses Systems blank, eine Warnung, die sehr bald Realität werden kann. Was da geschah sind die Vorboten des Unheils, das auf uns zukommt. Manch einer, der jetzt noch darüber lacht wird sich später wundern, dass er noch lebt. Ich bin nur ein einfacher Handwerksgeselle, stehe gesellschaftlich ziemlich weit unten, direkt neben der Arbeiterschaft. Ich verabscheute deren sozialdemokratische Ambitionen, teilte aber ihre Meinung hinsichtlich der bürgerlichen Gesellschaft. Diese fetten Bürgerlichen gehen mir gewaltig auf die Nerven, ihr Reichtum ist Betrug am einfachen Volk. Jesus sagte nicht umsonst, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher ins Himmelreich gelangte.«
»Du bist ja ein Anarchist Albert, ich sagte es bereits«, schmunzelte Galen. »Was ist, wenn es einen Krieg gibt und das Vaterland in Gefahr ist. Was wirst du dann tun?«
»Als Kanonenfutter zu den Waffen eilen wie alle anderen auch. Ich bin anders als die Sozis kein vaterlandsloser Geselle. Und ich liebe meine Heimat auch und werde sie verteidigen, auch wenn ich den Sinn des Krieges nicht einsehe. Vielleicht bin ich ein Pazifist.«
Galen teilte in diesem Punkt nicht dessen Meinung. Als Sohn eines preußischen Offiziers konnte er das auch nicht. Er liebte wie sein Kaiser das Militär und war stolz darauf. Er würde die Kanonen segnen, die den Soldaten den Tod brachten. Als Kirchenmann hatte er wie fast alle Geistlichen, ob katholisch oder evangelisch, keinerlei Skrupel dazu.
Aber er wollte in das Gespräch keine Schärfe hineinbringen und meinte daher begütigend.
»Da fällt mir noch ein Albert. Morgen Abend haben wir hier einen sehr interessanten Vortrag über Kernenergie. Den solltest du dir unbedingt anhören.«
3.
Nach der Begegnung mit Michael kehrte Jaakov Silberstein in seine Wohnung zurück. Er setzte sich in seinem Speisezimmer an den Tisch und schlug die Zeitung auf. Rachel, seine Frau kam zu ihm und gab ihm einen Begrüßungskuss. Sie waren nun ein Jahr verheiratet und immer noch sehr ineinander verliebt.
»Das Essen dauert noch einen Moment, mein Schatz«, sagte sie und verschwand in die Küche. Jaakov sah seiner schönen Frau nach. Seit der Geburt des ersten Kindes war sie noch schöner geworden, er liebte sie sehr. Sie hatte pechschwarzes langes Haar, ein schmales Gesicht mit eindringlichen Augen und eine aufreizende Figur. Sie war nach der neusten Berliner Mode gekleidet, schick und elegant, aber nicht aufdringlich.
Jaakov war ein gutaussehender mittelgroßer Mann, sehr schlank, allerdings duldete er keinen Bart in seinem sympathischen intelligenten Gesicht und das war eine Ausnahme in dieser Zeit. Er trug einen einfachen bürgerlichen Anzug und jeder erkannte sofort den Advokaten in ihm. Er war achtundzwanzig, seine Rachel vierundzwanzig.
Er schlug die Zeitung auf und sein Blick fiel auf den Artikel über den Hauptmann von Köpenick. Eine merkwürdige Geschichte, dachte er, typisch für unser Land. Papa verehrt den Kaiser und ist stolz auf dieses Deutschland. Er nahm am Krieg 70/71 als Feldwebel teil und erhielt das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse (EKII) für besondere Tapferkeit. Er ist stolz darauf und trägt es immer am Sedanstag[3].
Jaakov zündete sich eine Zigarette an und ging im Zimmer auf und ab. Haben wir Juden überhaupt ein Vaterland, sinnierte er, natürlich, das hier ist unseres. Ich bin Oberleutnant der Reserve und wenn dereinst ein Krieg ausbricht, werde ich für dieses Vaterland kämpfen. Eigentlich sind wir Silbersteins keine Juden mehr, wir halten nur notdürftig die Gebote und nur unser unsympathischer Name erinnert an unsere Zugehörigkeit. Ich habe mein Abitur an dem renommierten Friedrich-Wilhelm-Gymnasium gemacht. Er drückte die Zigarette aus, Rachel und das Hausmädchen kamen mit dem Essen. Im Gegensatz zu Michael nannten Silbersteins eine fünf-Zimmer Wohnung ihr Eigen, mit Hauspersonal und allem großbürgerlichen Drumherum. Eigentlich sah er etwas herabblickend auf ihre neuen Nachbarn, kleinbürgerliche Leute, aber sie hatten so etwas. Michael flößte ihm Respekt ein und Anna gefiel ihm ebenfalls, sie strahlten Autorität aus.
»Ich begegnete im Treppenhaus Herrn Trotz auf dem Weg zum Dienst«, sagte er zu Rachel
»Nette Leute«, entgegnete Rachel, »die Frau ist nicht dumm. Für ihren Stand recht gebildet. Respektable Leute, Vater hatte einen guten Griff, sie hier einziehen zu lassen.«
»Außerdem haben sie keine Vorurteile gegen uns Juden«, meinte Jaakov, »sonst wäre sie nicht ins Judenviertel gezogen.«
»Aber wir sind doch keine reinrassigen Juden mehr«, lachte Rachel, «schau dich nur an. Die Religion spielt in deiner und meiner Familie keine Rolle mehr. Dein Vater ist ein reicher Mann, dein älterer Bruder wird einmal das Geschäft erben und du bist ein aufstrebender Rechtsanwalt mit einem Doktortitel. Wir gehen nicht in die Synagoge und viele unserer Bekannten und Freunde sind Nichtjuden.«
»Familie Trotz hingegen ist sehr religiös«, murmelte Jaakov, »sie gehen jeden Sonntag in die Kirche. Aber er ist auch konservativ eingestellt, liebt den Kaiser und das preußische System, das sieht man ihm an.«
»Und du«, fragte Rachel. »Was bist du?«
»Ein wenig anders wie er, und das ich auf der bürgerlichen Stufe höher stehe. Ich denke auch konservativ mit einem Einschlag von Liberalität und bin stolz auf unser Land. Mit dem Kaiser habe ich es nicht so, er ist mir etwas zu aufgeblasen. Ich bin in erster Linie Deutscher und dann erst Jude. Allerdings wünschte ich mir als Bürgerlicher mehr Einflussmöglichkeiten in Staat und Gesellschaft. Dass bei uns der Adel und das Militär den Ton angeben, gefällt mir nicht. Vielleicht sympathisiere ich etwas mit den Ideen von Karl Marx. Die Arbeiterfrage scheint mir wichtig und ich sehe darin Sprengstoff für die Zukunft.«
Sie aßen einen Augenblick schweigend weiter.
»Diese Köpenick Geschichte gefällt mir nicht«, begann er wieder, »ich bin auch für Gehorsam, aber nicht um jeden Preis. Wohin soll das führen. Das Militär hat bei uns sowieso zu viel zu sagen. Dabei ist die politische Lage nicht so rosig, wie das auf den ersten Augenblick aussieht. Wir sind von Bündnissen umzingelt und ein Krieg scheint auf längere Sicht nicht ausgeschlossen. In England und Frankreich bestimmt die Politik die Richtung, bei uns ist das umgekehrt, die Politik überlässt das Primat dem Militär. Das beste Beispiel ist das Flottenprogramm. Weil dieser verrückte Tirpitz den Kaiser beeinflusst, haben wir England als Bündnispartner verloren. Das wird einmal fatale Folgen haben.
Militärs sind immer für den Krieg und sie kennen nur Befehl und Gehorsam. Darauf ist ihr System aufgebaut, aber blinder Gehorsam führt in die Katastrophe. Und dieser Hauptmann hat uns doch gezeigt, wie schwach und brüchig das System letztendlich ist. Alles auf blinden Gehorsam aufbauen, wie die Lemminge einem Führer nachlaufen und in den Untergang.«
»Übertreibst du nicht ein bisschen Jaakov«, schmunzelte Rachel, »es war ein Schelmenstreich sonst nichts.«
»Bei uns haben der Adel und das Militär das Sagen. Aber rings um uns herum verändern sich die Gesellschaften. Wir leben nicht mehr wie zu Bismarcks Zeiten. Er konnte Kriege beginnen und beenden, ohne das viel Schaden angerichtet wurde. Er hatte klare Ziele und wusste was er wollte. Unsere heutigen Regierenden haben das nicht. Sie wollen erhalten und nichts verändern. Aber die Gesellschaft verändert sich, auch bei uns. Hoffentlich werden wir nicht einmal in einen Strudel hineingezogen, der uns böse zu schaffen machen kann.«
»Jaakov, Jaakov, du und die Politik«, lächelte Rachel, »sage das nicht Vater, er wird dich streng rügen.«
»Er würde mir am liebsten eine Tracht Prügel versetzten, wenn er das noch könnte«, lachte Jaakov, »Kinder haben nicht gegen die geheiligte Ordnung zu stehen. Wir wurden