Hauswald ist doch wohl blind“, meinte Ole. „Mal sehen, ob es Rudigkeit hinkriegt.“
Der Stein streifte die Katze nur. Sie stieß einen klagenden lang gezogenen Ton aus, der selbst das wilde Bellen des Schäferhundes und das Gegröle der Meute übertönte.
Niccolò drückte sich die Hände auf die Ohren und sah sich hilfesuchend um. Auf der Straße fuhren Autos langsam vorbei, weil sie am Bahnübergang stoppen mussten. Andere Erwachsene waren mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit, oder sie beeilten sich zu Fuß die nächste Straßenbahn zu erreichen. Keiner von ihnen schien die Steinigung der Katze zu bemerken.
„Das Katzenviech macht’s nicht mehr lange“, sagte Ole erregt. „Entweder ein Volltreffer erwischt sie. Oder der Köter beißt sie kaputt.“
„Nein“, widersprach Niccolò leise. „Nein, nein.“
„Misch dich da bloß nicht ein“, warnte Ole. „Oder bist du vielleicht lebensmüde? Die nehmen dich glatt auseinander. Und ich darf dich dann wieder zusammenbauen.“
Niccolò fröstelte, er schüttelte Oles Hand ab und rutschte vom Pfeiler. Ein Auto hielt gegenüber der Linde. Paula stieg aus, warf die Tür zu und stellte sich in die kleinere Gruppe der Mädchen, die den Steinewerfern zuschauten. Das Auto hupte kurz und fuhr weiter.
Niccolò sprang vom Zaunpfeiler und lief zu den anderen hinüber. Ole rief ihm hinterher: „Bleib hier, Niccolò! Sei doch nicht blöd! Du sollst hier bleiben, du Doofmann!“
Ein schmächtiger Junge hatte einem riesigen Jungen aus der Zehnten, der nach einem Filmmonster Godzilla genannt wurde, einen faustgroßen Stein in die Hand gedrückt. Godzilla wog den Stein in seiner Pranke und lachte siegessicher.
„Nun drück schon ab, Godzilla!“, drängte es aus der Gruppe. „Hau das Ding vom Ast!“
Godzilla holte mit dem Wurfarm weit aus. Da stellte sich Niccolò vor ihn. Der große Junge sagte ärgerlich: „Verschwinde, du Laus.“
Niccolò gehörte zu den Kleinsten in seiner Klasse und war auch sonst nicht von starkem Körperbau; er stellte sich auf Zehenspitzen und streckte beide Arme hoch. Er sagte ruhig, denn das Zittern und die Übelkeit waren nun verschwunden: „Hör auf damit. Bitte.“
Godzilla musterte ihn erstaunt und brach dann in dröhnendes Gelächter aus, in das die anderen einstimmten. Als Godzilla verstummte, schwieg auch sein Publikum. Der Junge sagte mit Bassstimme, die bei den Selbstlauten piepste: „Nun schieb schon ab, du Laus.“
Dann senkte er den Arm, schüttelte ihn und holte erneut zum Wurf aus. Doch Niccolò stand noch immer zwischen ihm und seinem Ziel.
„He“, sagte Godzilla unwirsch. „Was willst du eigentlich, kleiner Skunk?“
Ole hatte sich herangeschlichen, er kauerte hinter Niccolò, zupfte ihn an der Jacke und flüsterte heiser: „Komm endlich, Niccolò! Bei drei hauen wir ab! Auf mein Kommando: Eins – zwei – und drei!“
Ole rannte mit Indianergeheul davon. Niccolò rührte sich nicht vom Fleck. Er sagte: „Ich möchte, dass du die Katze in Ruhe lässt.“
„Und du meinst, irgendein Hosenscheißer kann mir irgendwas befehlen, was?“
„Ich habe bitte gesagt.“
„Du hast also bitte gesagt“, sagte Godzilla. „Und dafür soll ich dir wohl ein Mountainbike kaufen und dich jeden Abend in den Schlaf singen, was?“
„Nein“, sagte Niccolò. „Du sollst nur die Katze in Ruhe lassen.“
„Weißt du, dass du Laus mir langsam den Nerv tötest?“
„Bitte“, sagte Niccolò eindringlich. „Bitte hör auf damit.“
Godzilla sah ärgerlich und zugleich belustigt auf Niccolò herunter. Am liebsten hätte er wohl den Stein fallen und die Katze, die ihn ohnehin nicht interessierte, auf dem blöden Baum sitzen lassen. Aber da waren noch die anderen, Mädchen und Jungen, die ihn drängten, endlich zu werfen. Vor allem war da noch Lottelore, die den Spitznamen Loreley hatte, wie die Nixe auf dem Rheinfelsen, die mit ihrem Gesang die Fischer ins Verderben gelockt hatte. Auch von Lottelore hieß es, dass sie zuerst die Männer mit ihrer Schönheit verzauberte und dann unglücklich machte. Tatsächlich stöhnte mancher Junge, als hätte er Bauchkrämpfe, wenn Loreley in seiner Nähe war.
Loreley lehnte lässig an einem Gartenzaun, kämmte ihre über die Schultern fallenden roten Haare, blätterte dann in einer Illustrierten, rauchte und gähnte herzhaft.
Godzilla schaute zwischen Niccolò und Loreley hin und her. Dann sagte er wütend: „Na, dann sag hundertmal bitte. Nein, tausendmal. Aber beeile dich. Wegen dir Laus will ich mir keinen Bruch stehen.“
„Bitte“, sagte Niccolò, „bitte, bitte, bitte ...“, und in Gedanken zählte er mit. Er hatte zum elften Mal „bitte“ gesprochen, da brüllte Godzilla mit sich überschlagender Stimme: „Schafft mir diesen Skunk aus dem Weg! Haut ihm von mir aus die Ohren ab!“
Godzilla ließ den Stein fallen, wischte sich die Handflächen an seiner Lederjacke ab und stakste breitbeinig zu Loreley. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, ließ sich eine angerauchte Zigarette zwischen die Lippen stecken und ging gemächlich mit seiner Freundin in Richtung Schule.
Ein Mädchen packte Niccolò bei den Haaren. Ein paar Jungen boxten auf ihn ein. Niccolò versuchte den Schlägen auszuweichen. Er krümmte sich, die Beine knickten ihm weg, er sackte auf den Erdboden. Da ließ die Meute von ihm ab und lief mit Geschrei weg.
Niccolò blieb noch ein paar Sekunden liegen. Die plötzliche Ruhe tat ihm gut. Erst jetzt spürte er bohrenden Schmerz im Kopf und im Bauch. Dann stützte er sich auf die Knie und stemmte sich hoch, bis er endlich auf beiden Beinen stand. Sein erster Blick galt der Katze. Sie saß in der Astgabel und leckte sich das Fell.
Niccolò lächelte. Er schaute sich um – Paula Klette war verschwunden. Von Ole war weit und breit nichts zu sehen. Auch der Schäferhund war weggelaufen.
Niccolò klopfte seine Sachen ab, rückte die Schultasche auf den Schultern zurecht und rannte hinkend zur Schule.
3.
Die Lessing-Schule stand an der vielbefahrenen Fernstraße. Nur ein paar Schritte entfernt gab es einen Metzger und Bäcker, eine Drogerie und den Friseur- und Kosmetiksalon „Elegant“. Hinter dem roten Klinkerbau der Schule befanden sich ehemalige Bauernhäuser, die in den letzten Jahren neue Dächer und helle Anstriche bekommen hatten. Ein steil abfallender Weg führte an einer kleinen Kirche, deren Turm wie ein zum Klappern hochgereckter Storchenschnabel aussah, vorbei in den Auenwald.
Niccolò trabte über den asphaltierten Schulhof, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drückte auf die von unzähligen Handgriffen polierte Eisenklinke der Schultür. Die Tür war verschlossen, also hatte der Unterricht schon begonnen.
Niccolò morste mit dem Klingelknopf SOS. Nach einer Ewigkeit öffnete der Hausmeister die Tür. Herrn Heidicke nannten die Schüler Bismarck, was er gern hörte. Der Hausmeister war etwa dreißig Jahre alt, ein Männlein, das sich zackig bewegte, mit goldenen Händen, denn was auch kaputtging, er konnte es reparieren. Vor Prüfungen standen an der Pförtnerloge, die dem Hausmeister als Verkaufsstand diente, die Schüler Schlange. Wer zur deutschen Geschichte eine Frage hatte, dem konnte Bismarck sie leicht beantworten. Er wusste genau, wann und wo was geschehen war. Es hieß, er habe zu Hause eine Sammlung alter Waffen, zu der sogar ein Sauspieß aus dem Bauernkrieg und eine Flinte aus Napoleons Russlandfeldzug gehörten. Bismarcks Markenzeichen war ein Schnauzbart, dessen Enden mit Hilfe von Pomade bis zu den Augen hochgezwirbelt waren. Er war Dritter Vorsitzender des neugegründeten sächsischen Vereins „Deutscher Mann und Bart“.
Bismarck blieb im Türrahmen stehen und fragte streng: „Ja und?“
Niccolò stellte sich stramm hin, wie es der Hausmeister gern sah, und sagte: „Entschuldigung. Guten Tag. Ich bin spät dran. Lassen Sie mich bitte schnell rein.“