Gunter Preuß

Niccoló und die drei Schönen


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      Nun aber musste sie sich endlich umdrehen und Niccolò ansehen – da ertönte der Pausengong und Paula Klette stürmte mit den anderen aus dem Klassenzimmer.

      Auch in den folgenden Unterrichtsstunden war es Niccolò nicht gelungen, seine Hypnoseversuche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Entweder war sein Blick zu schwach, um Paulas Hinterkopf bis zu den Augen zu durchdringen, oder aber er ließ sich zu sehr von seinen Kopfschmerzen, Oles Geflüster und Donnerhalls Getöne ablenken.

      Niccolò nahm sich vor, in der Hofpause Paula direkt in die Augen zu blicken. Bei dem Durcheinander und Geschrei im Speiseraum hatte das keinen Sinn. Hier musste man aufpassen, dass man überhaupt am Leben blieb. Aber dann würde er seine Chance nutzen.

      Um die drei Rosskastanien, die zwischen ihren grünfingerigen Blättern harzige Knospen austrieben, gruppierten sich Schüler der verschiedenen Altersklassen.

      Die „Pampers“, zu denen die Mädchen und Jungen der ersten bis vierten Klasse gehörten, haschten einander um den kleinsten Baum. Die Grundschule und der Hort waren neben dem Gymnasium in einem Flachbau untergebracht. Obwohl ein Drahtzaun die Kleinen von den Älteren trennte, fanden sie immer wieder ein Loch, um durchzuschlüpfen. Die älteren Schüler duldeten sie schließlich wie lästige Insekten, die man zwar für kurze Zeit verscheuchen, aber doch nicht für immer vertreiben kann.

      Die mächtigste Kastanie, die den Mittelpunkt des Schulhofes bildete und in deren Stamm Herzen und Liebesschwüre eingekerbt waren, wurde von den „Eierköppen“ besetzt, zu denen man sich ab dem Besuch der zehnten Klasse rechnen durfte. Die Eierköppe wiederum bestanden aus drei Untergruppen. Die größte bildeten die „Neutralen“, die sich aus allem heraushielten und nach guten Zensuren strebten. Dann folgten die „Godzillas“, eben Godzilla mit seiner Anhängerschar. Und in der dritten Gruppe waren die „Glatzen“ vereint, rechte Skins, Faschos eben, die nicht alle wirklich eine Glatze hatten. Sie waren eine Hand voll Jungen und Mädchen, die von Josef aus der Elften kommandiert wurden. Der Junge war groß und durchtrainiert, die meisten Mädchen schwärmten von ihm. Aber die Jungen fürchteten seine kalte Freundlichkeit noch mehr als Godzillas tapsige Kraftmeierei.

      Um den dritten Baum schließlich scharten sich die „Halben Pfunde“, die sich aus den Klassen fünf bis sieben zusammensetzten.

      Die Jungen und Mädchen aus der Achten und Neunten, die „Hauspflaumen“, lehnten am rechten Ende des Schulgebäudes an der Hauswand, wo um die Mittagszeit die Sonne für ein paar Minuten wärmte.

      Am Zaun zur Hauptstraße liefen die „Bolschewiken“ auf und ab. Es waren zwei Mädchen und drei Jungen, deren Familien – wie Donnerhall erzählt hatte – im siebzehnten Jahrhundert mit anderen Deutschen von der russischen Zarin Katharina II. an der Wolga angesiedelt wurden. Im Zweiten Weltkrieg hatte Stalin sie nach Zentralasien verbannt. Nun waren sie nach Deutschland zurückgekehrt und konnten sich einfach nicht an ihre neue Heimat gewöhnen.

      Niccolò und Ole standen nebeneinander bei den Hauspflaumen. Ole, der nicht nur wie Burattinos älterer Bruder aussah, sondern auch so phantastisch lügen konnte, sagte: „Die Eierköppe wollen unbedingt, dass ich zu ihnen gehöre. Was soll der gute alte Onkel Ole auch noch bei den Halben Portionen oder den Hauspflaumen? Ich war ja schon erwachsen, als ich noch unter den Pampers herumhüpfte.“

      Während Niccolò nach Paula ausschaute, die sich ungewöhnlich lange im Speiseraum aufhielt, schaute Ole sehnsüchtig zu den Eierköppen, wo Godzilla und Loreley eng umschlungen vor und zurück wippten. Godzilla nahm einen Zug aus der Zigarette, schob sie dann Loreley zwischen die Lippen, die daran sog, dass der Tabak aufglühte.

      „Ich möchte meine Nase drauf wetten, dass die beiden Hasch kiffen“, sagte Ole abgestoßen und doch bewundernd. „So ein Riesendino, der Godzilla!“

      Niccolò entzog sich Oles rüttelndem Griff. Paula hatte den Schulhof betreten. Sein Blick huschte zwischen den drei Schönen hin und her. Frau Mandelstern hatte Hofaufsicht. Sie wurde von den Pampers beschäftigt und musste die Kleinen trennen, von denen ein paar Jungen immer wieder zu Raufen begannen. Er hörte Frau Mandelstern in verschiedenen Sprachen schimpfen, drohen und bitten. Wenn sie mit Worten nichts erreichen konnte, warf sie ärgerlich die Arme empor. Aber bald lachte sie versöhnt, ließ ein Mädchen einen Taschenspiegel halten, kauerte sich davor, schminkte ihre Lippen nach und steckte sich die langen braunen Haare hoch.

      Imke Liebstöckel, die zu den Eierköppen gehörte, lehnte abseits an der Gebäudewand und reckte ihr Gesicht der Sonne zu. Niccolò sah bewundernd, dass sie zu den Längsten ihrer Klasse gehörte. Selbst wenn er sich auf die Zehenspitzen wippen würde, überragte sie ihn noch um Kopflänge. Imkes Haare waren schulterlang, tiefschwarz gefärbt, dazwischen schienen winzige Sterne zu glitzern. Niccolò zählte dreizehn schwarze Ringe, die ihre Ohrränder und Nasenflügel zierten. Sie hatte immer lange und weite schwarze Kleider und Mäntel an, als wollte sie von sich so wenig wie möglich zu erkennen geben. Andererseits zog sie mit ihrer auffallenden Erscheinung die Blicke auf sich. Wenn sie sich mit ihren schwarzen Turnschuhen durch die Flure der Schule bewegte, sah es aus, als würde sie flach über dem Fußboden dahinschweben.

      Imke Liebstöckel hatte die Augen geschlossen, ihr Körper zuckte kaum merklich. Auf ihren Ohren klemmten die Kopfhörer eines CD-Players, der in der Tasche ihres Kleides steckte. Das schöne Mädchen erschien Niccolò unerreichbar weit weg.

      Da hörte Niccolò Paulas Lachen, und obwohl man es gewohnt war, schaute jeder unwillkürlich zu ihr hin. Niccolò fand, die Gelegenheit war günstig, seinen Hypnoseversuch erfolgreich zu gestalten.

      Paula lehnte mit ihrer Freundin Carola Sanddorn Rücken an Rücken. Die Schöne hatte die Hände im Nacken verschränkt und sah zu zwei Jungen aus der Achten, die einander eine leere Coladose zuköpften. Der eine Junge hieß René Kiekhahn und galt als großes Fußballtalent. Die Herzbrille saß keck auf Paula Klettes murmeliger Nasenspitze, dass sie neugierig über den Brillenrand sehen konnte.

      Niccolò spannte seine Muskeln an, sein Blick schleuderte einen Blitz, der sich in Paulas blaue Augen bohrte.

      Und jubelte innerlich, als Paula nun nicht mehr René Kiekhahn, sondern ihn ansah. Sie blickte zwar böse, aber das würde sich schnell ändern.

      Paula Klette sagte mit ihrer großartig piepsigen Stimme: „Warum schielst du denn so?“

      „Ich schiele doch nicht“, sagte Niccolò, der sich ihre ersten an ihn gerichteten Worte ganz anders vorgestellt hatte.

      „Und doch schielst du“, beharrte Paula. Sie wischte sich energisch mit dem Ärmel ihres Hemdes über die Nase.

      Niccolò blickte zur Seite, dann nach oben und unten, und rollte seine Augen schließlich links- und dann rechtsherum. Dann sah er Paula wieder an.

      „Ist es so besser?“

      Paula nahm ihre Hände vom Nacken und löste sich von Carola Sanddorns Rücken.

      „Was soll denn besser sein?“, sagte sie. „Du schielst, als wolltest du dreimal links um die Ecke sehen.“

      Niccolò beauftragte seinen Hypnoseblick, Paula freundlicher zu stimmen. Sie sollte sagen: Das war doch nur Spaß, Niccolò. Wie geht’s denn so?

      Doch Paula rief: „Sieh doch mal, Carola. Wie gemein der Rosenbusch schielt!“

      „Soll er doch schielen“, sagte Carola Sanddorn gelangweilt. „Alle Jungen sind schwer behindert und schielen. Wusstest du das denn noch nicht?“

      „Wusste ich nicht“, sagte Paula Klette. „Ich weiß nur, dass Rosenbusch mächtig schielt.“

      An Paula versagte anscheinend die Macht der Hypnose. Niccolò begann am Wahrheitsgehalt des Buches Die Kraft der Gedanken zu zweifeln. Er sagte freundlich: „Es macht mir nichts aus, wenn du sagst, dass ich schiele, Paula. Aber du schielst ja viel mehr. Einfach wunderbar, wie du schielst.“

      Paula errötete jäh, für einen Augenblick schienen sogar ihre Igelhaare in Flammen zu stehen. Sie flüsterte krächzend, als hätte sie