doch einmal zu erwischen und kräftig zu treten, dass es wie eine Kanonenkugel in die Maschen donnerte und alle „Tooor!“ schrien. Für das Glück eines Jungen bedurfte es eben nur – wie Niccolòs Großvater Manuela aufgeklärt hatte, wenn sie wieder einmal über das „idiotische Mannsgezappel“ schimpfte – eines aus einem Stück Leder gefertigten Hohlballes von achtundsechzig bis siebzig Zentimeter Umfang und vierhundertzehn bis vierhundertfünfzig Gramm Gewicht. Balanca selbst war zwar nie Fußballer gewesen, aber als Drahtseilartist hatte er einen blauen Ball auf der Spitze seines Zeigefingers drehen lassen, dass jeder sehen konnte, wie wunderbar die Erde sich im All bewegte.
„Gib doch ab!“, schrie Niccolò seinem Mitspieler zu. „Her mit dem Leder! Sei bloß nicht so ballverfressen!“
Als er den Ball endlich hatte, dribbelte er keuchend, die Rufe der anderen, den Ball doch endlich abzuspielen, missachtend, auf das gegnerische Tor zu.
7.
Am Abend dann kehrte Niccolò erschöpft und zufrieden zum Affenhaus zurück. Er hatte zwar kein Tor erzielt, aber es war ihm gelungen eins zu verhindern. So hatte seine Mannschaft nicht zwanzig zu null, sondern nur neunzehn zu null verloren. Er hatte mit den „Gartenzwergen“ gespielt, die sich aus Pampers, Halben Pfunden und ein paar Hauspflaumen zusammensetzten. Der Gegner, die „Rentnertruppe“, waren Eierköppe und zwei Lehrlinge, die von dem wild um sich tretenden Godzilla kommandiert wurden. Zu den Schlägen, die Niccolò am Vormittag eingesteckt hatte, waren nun Stöße und Tritte hinzugekommen. Seine Sachen waren durchgeschwitzt und hatten wie seine Haut dunkle Flecken und Risse abbekommen.
Vor der Haustür spuckte Niccolò auf den Ärmel seines Pullis und rieb sein Gesicht ab. Mit ein paar Heftklammern, die er mit anderen nützlichen Dingen wie eine Kastanie vom Vorjahr, einem Radiergummi und ein paar Bonbons, in seiner Hosentasche herumtrug, versuchte er, die Risse in seiner Hose unkenntlich zu machen.
Manuelas zwitschernde Stimme und ihr helles Lachen waren aus dem Haus zu hören. Sie hatte also ihren Optikerladen früher geschlossen. Das konnte nur bedeuten, dass sie Besuch mitgebracht hatte.
Niccolò atmete tief durch, öffnete entschlossen die Tür, trat ins Wohnzimmer und erwartete gefasst Manuelas vorwurfsvolle Frage: „Na sag mal, wie siehst du denn wieder aus?“
Die Mutter saß mit dem Großvater und einem fremden Mann am Tisch beim Abendessen. Eine Kerze brannte, neben dem Essen standen zwei Flaschen Wein und gefüllte Gläser auf dem Tisch.
Niccolò zuckte unwillkürlich zurück. Manuela wechselte in letzter Zeit immer öfter ihren „festen Freund“. Sie pries den Neuen dann jedes Mal an, als sollte Niccolò ihn kaufen. Die Mutter wollte unbedingt einen Vater für ihn finden. Aber kein Mann bekam von ihr die Zeit, ihren Sohn überhaupt kennen zu lernen.
„Setz dich doch, Nico“, sagte Manuela mit ihrer Schönsprechstimme, die ihr Sächsisch in Hochdeutsch verwandelte. „Das hier ist mein – ein Bekannter. Herr Haubentaucher. Aber ich denke, du kannst Freddy zu ihm sagen.“
„Klar doch“, sagte der Mann an Manuelas Seite. „Du bist also der berühmte Niccolò. Ich denke, wir werden schnell Freunde werden.“
Niccolò setzte sich neben Balanca, bestrich eine Scheibe Brot mit Leberwurst und biss kräftig hinein. Er fand den ersten Auftritt des Mannes wenig gelungen. Niccolò war weder berühmt, noch würde er „Freddy“ zu dem Fremden sagen. Und schon gar nicht würde er mit ihm Freundschaft schließen. Er fand, dass der Fremde tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Haubentaucher hatte, obwohl er so einen komischen Vogel noch nie gesehen hatte.
Balanca schmunzelte, er sagte zu Niccolò: „Na, Kollege, wie geht’s uns denn so?“
„Gut“, sagte Niccolò verschwörerisch. Der Großvater wünschte sich, dass seine Tochter endlich einmal einen „richtigen Mann“ anbrächte und nicht immer wieder solche „Muttersöhne“. Er teilte sie ein in „aufgeblasene Schwarzenegger“, in „Strichmännlein“ und „Blabla-Spezialisten“.
„Blabla-Spezialist“, flüsterte Niccolò, und Balanca antwortete: „Volltreffer, Kollege.“
Manuela blieb nicht verborgen, dass der Neue von ihrem Sohn und ihrem Vater abgelehnt wurde. Niccolò beobachtete seine Mutter aus den Augenwinkeln und bemerkte, wie es hinter ihrer Stirn gewitterte. Wenn seine Hand sich jetzt ihren Haaren näherte, würden sie wie kleine helle Flammen züngeln und knistern. Niccolò fand seine Mutter einmalig schön, und wenn sie Wut im Bauch hatte, war sie am allerschönsten. Manuela hatte lange blonde Haare, eine „Pferdemähne“, wie Balanca sagte, blaugrüne Augen, die nie still stehen konnten und spöttisch blickten. Ihre Lippen schminkte sie, je nach Laune, in allen erdenklichen Farbtönen, sie bevorzugte aber Pink. Für Niccolò stand jedenfalls fest: Manuela war viel zu schön für diesen Haubentaucher.
„Setz dich bitte gerade hin, Niccolò.“ Manuela ging also zum Angriff über. „Du musst nicht alles nachmachen, was dein Großvater dir vormacht.“
„Na hör mal, Tochter“, entgegnete Balanca. „Ich sitze wie ein rechter Winkel. Schließlich war ich mal Artist.“
„Artist?“ Freddy Haubentaucher horchte auf. „Das klingt ja interessant. Erzählen Sie doch mal, Herr Rosenbusch.“
„Nun“, sagte Balanca und schob seine schwarze Pudelmütze, die er nur im Bett und unter der Dusche absetzte, hin und her. Er rückte den Teller von sich weg, lehnte sich zurück, atmete tief ein und kämmte mit gespreizten Fingern seinen grauen Vollbart. Balanca erzählte gern aus seiner „Zirkuszeit“. Selbst wenn er manche Geschichte schon viele Male erzählt hatte, so klang sie für Niccolò doch immer wieder neu, denn er „verbesserte“ sie ständig.
„Eigentlich bin ich gelernter Möbeltischler“, sagte Balanca. „Aber der Zirkus hat mich schon von Kind an geradezu magisch angezogen. Als Kartenanreißer habe ich angefangen. Dann habe ich als Clown gearbeitet, später in einer Akrobatiknummer als Untermann, und am Flugtrapez war ich Fänger. Schließlich habe ich mit Miss Lilly Li, der Tigerbraut, eine gemischte Raubtiergruppe vorgeführt.“
Balanca hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er streifte einen Hemdsärmel hoch und hielt Freddy Haubentaucher seinen muskulösen Arm hin, der drei breite rote Narben zeigte, die vom Handgelenk bis zum Oberarm führten.
„Diese kratzigen Viecher“, sagte Freddy Haubentaucher anerkennend und beugte sich zurück, als könnte ihn aus einer Zimmerecke ein Raubtier anspringen. „Die können bestimmt unverschämt zulangen.“
„Du sagst es, mein Junge.“ Balanca knöpfte seine blaue Kombi auf, um seinem Publikum weitere Verletzungen vorzustellen. Vor allem aber wollte er seinen Waschbrettbauch zeigen, den er längst hatte, als der in Mode kam. Er erklärte: „Eins sollst du wissen, Haubentaucher: Nicht am Kopf, sondern am Bauch stößt sich alles. Da muss man schon was abprallen lassen können.“
„O-ha ...!“ Freddy Haubentauchers Mund öffnete sich bei der zweiten Silbe, als wollte er ein ganzes Ei reinstopfen.
Manuela rief energisch: „Lass jetzt bloß nicht noch die Hosen runter, Vater! Ich denke, du hast Freddy restlos überzeugt!“
Balanca winkte ab, knöpfte die Kombi gehorsam wieder zu und erzählte weiter: „Als dann die Gebrüder Frediani – keine drei Tage nacheinander – beim Salto vom Hochseil stürzten und der eine sich das Genick brach und der andere nicht mehr aufs Seil wollte, habe ich die Nummer übernommen. Und siehe da, ich hab’s wohl nicht ganz schlecht gemacht: Aus dem Tischler Karl Rosenbusch ist schließlich der berühmte Balanca geworden.“
Niccolò kramte ein Stück Kreide aus seiner Hosentasche und zog einen weißen Strich auf den bunten Teppich. Balanca verbeugte sich und lief gewandt auf dem Phantasieseil hin und her, zeigte hohe Sprünge und schwankte nach links und rechts, als könnte er jeden Moment in die Tiefe stürzen.
„Vater!“ Manuela sprang auf und warf die Hände in die Luft, als wollte sie einen Schwarm Vögel verscheuchen. „Jetzt reicht es aber!“
„Schade“, meinte der Großvater. Er rückte an seiner