Gunter Preuß

Niccoló und die drei Schönen


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      „Sul culo, natürlich.“

      Imke hatte wieder die Augen geschlossen, doch ihr Kopf pendelte, als wollte sie etwas aus ihm heraus schütteln. Aber es gelang ihr wohl nicht, sie sagte: „Ich hasse das ganze total beschissene Leben. Kannst du mir das übersetzen?“

      „Nein.“

      „Willst du oder kannst du nicht?“

      „Ich will nicht.“

      „Und wenn ich dich bitte. Ich bitte dich, dass du mir diesen verdammten Satz übersetzt.“

      Nur widerwillig gab Niccolò nach. Er sagte stockend: „Io odio questa schifosissima vita.“

      Imke Liebstöckel stieß sich von der Hauswand ab, riss die Arme hoch und rief, dass Schüler und Lehrer erschrocken zu ihr sahen: „Io odio questa schifosissima vita!“

      Ein Lehrer kam und wollte wissen, ob was nicht in Ordnung sei? Imke Liebstöckel drehte sich mit dem Gesicht zur Hausmauer, stützte sich mit den Händen ab und spreizte die Beine, als wäre sie von der Polizei gestellt worden und sollte nun nach Waffen abgetastet werden.

      Der Lehrer schüttelte den Kopf und ging zur Tür zurück, von wo aus er den besten Überblick auf das Geschehen hatte.

      Niccolò fragte vorsichtig: „Warum findest du alles schifoso?“

      „Weil es schifoso ist“, sagte Imke, die sich zu ihm herumdrehte und nun wieder lässig an die Wand lehnte. „Es ist und bleibt: beschissen. Aber das verstehst du nicht.“

      „Warum denn nicht?“

      „Bist noch ein Küken.“

      „Ich bin doch kein Küken mehr.“

      „Ein halber Hahn eben“, sagte Imke Liebstöckel und lachte, dass Niccolò mitlachen musste.

      Als Niccolò dann wieder im Klassenzimmer saß, fühlte er sich etwas besser. Zum Unterrichtende freute er sich auf den Nachhauseweg mit Ole, doch der rannte mit dem Klingelzeichen gleich davon. Imke Liebstöckel stieg in ein Auto, das mit quietschenden Reifen losfuhr.

      Da entdeckte Niccolò an der Haltestelle Frau Mandelstern. Sie wartete mit anderen Fahrgästen auf die Straßenbahn in Richtung zur Großstadt.

      Niccolò lief auf die Lehrerin zu, als seien sie verabredet. Er rief ihr entgegen: „Guten Tag, Frau Mandelstern!“

      „Guten Tag auch.“ Frau Mandelsterns Augen, die im Sonnenlicht wie dunkler Bernstein glänzten, blickten ihn überrascht an. „Wie war doch gleich dein Name?“

      „Niccolò Rosenbusch.“

      „Bist du nicht der Junge, der ...“

      „Der bin ich“, rief Niccolò erfreut, dass die Lehrerin sich noch an ihn erinnern konnte.

      Frau Mandelstern lachte und sagte: „Unqualifizierte Vorstellung von mir, was? Da lass ich doch all die schlauen Bücher dumm hinfallen. Ja, ich bin noch neu in der Schule. Da ist man noch etwas unsicher.“

      Sie ließ das qualmende Zigarillo fallen, das sie eben erst angeraucht hatte und stellte ihre Schuhspitze darauf.

      Niccolò nickte, obwohl er keinen Grund erkennen konnte, warum die Schöne unsicher sein müsste. Er fand, Señorita Popocatepetl war bestimmt noch beeindruckender als der feuerspeiende Vulkan, nach dem die Eierköppe sie benannt hatten. Er selbst fand den Spitznamen überhaupt nicht passend. Frau Mandelstern war zwar ein Naturereignis, aber doch eher mittelgroß und zierlich. Er sagte: „Von mir aus können Sie ruhig rauchen. Es stört mich kein bisschen. Obwohl ich Nichtraucher bin.“

      „Eigentlich bin ich auch Nichtraucherin“, sagte Frau Mandelstern. „Wenn ich manchmal aus Versehen den Qualm einatme, muss ich husten.“

      „Warum rauchen Sie dann?“

      „Gute Frage“, meinte die junge Lehrerin. „Ich werde mir es auch bald wieder abgewöhnen.“

      Die Straßenbahn fuhr fast lautlos vom Rathausplatz kommend in die Haltestelle ein. Niccolò und Frau Mandelstern stiegen erst dann zu, als die johlenden Jungen und Mädchen sich schon hineingedrängt und alle Sitzplätze belegt hatten. Die Lehrerin löste einen Fahrschein. Nach kurzem Zögern bat Niccolò sie, für ihn mitzubezahlen. Er hatte kein Geld bei sich und versprach, ihr gleich morgen die Schulden zurückzuzahlen. Sie standen eng aneinander gedrückt und mussten sich in dem Lärm fast schreiend verständigen.

      „Fährst du jeden Tag mit der Straßenbahn?“

      „Nein. Wir wohnen doch in der Siedlung.“

      „Warum fährst du heute mit der Straßenbahn?“

      „Nur mal so!“

      „Wenn ich Zeit habe, fahre ich auch gern nur mal so mit dem Zug! Irgendwo steige ich dann aus!“

      „Und was passiert dann?“

      „Dann sehe ich mir an, was ich bisher noch nicht gesehen habe! Andere Menschen! Alte und neue Häuser! Vielleicht ein Schloss! Oder eine Katze, die in der Sonne sitzt und sich die Pfoten leckt!“

      „Das ist gut“, sagte Niccolò. „Da müssen wir einmal zusammen losfahren.“

      Die Schüler waren bald wieder ausgestiegen und der Wagen fast leer. Niccolò und Frau Mandelstern setzten sich einander gegenüber und sahen aus dem Fenster. Zwischen Scheunitz und der Großstadt zündelte auf den Feldern das junge Grün. Am Rand der kleinen Ortschaften, wo sich vor Jahren noch Wiesen und Kleingärten ausgebreitet hatten, standen nun Baumärkte und Autohäuser. Auf der Fernverkehrsstraße bewegten sich die Autoschlangen im Schritttempo. Vom Himmel glitt in flachem Winkel ein Flugzeug zum Hafen herab, als sei es aus weißem Glanzpapier.

      Niccolò fand es traumhaft, der dritten Schönen gegenüber zu sitzen und mit ihr zu schweigen. Er sah auf einen bunten Fesselballon, der am Himmel zu stehen schien und doch unaufhaltsam seine Bahn zog. Ihm folgte als schillernde Luftschlange ein Band, das für eine Versicherung warb. Eine Fliege klickte in unrhythmischen Abständen gegen eine Fensterscheibe. Niccolò dachte, dass das Leben etwas ganz Wunderbares und im Augenblick alles genau richtig war.

      Vor dem wuchtigen Gebäude des Hauptbahnhofs im Zentrum von L. wachte er auf. Frau Mandelstern war nicht mehr im Wagen, ein Zettel klebte neben ihm an der Scheibe: Schalom, Niccolò.

      Niccolò stieg eilig aus, um ihn herum tobte die Stadt. Wie auch, wenn die Mutter ihn alle paar Wochen zum Einkaufsbummel mitnahm, kam er sich in dem Gedränge der Menschen überflüssig vor. Überall wurde gebaut, das Gesicht der Stadt veränderte sich ständig. Die Reklametafeln wechselten schnell ihre Bilder, die Schaufenster waren voller Dinge, und in den Kaufhäusern fühlte er sich eingesperrt. Er bekam Kopfschmerzen und wünschte sich zurück nach Scheunitz, wo er sich auskannte.

      Aber da er nun schon einmal hier war, konnte er auch Balanca besuchen. Niccolò lief durch die Innenstadt und sah sich nach einer roten Kehrwalze um. Mit ihr hielt sein Großvater die Gassen und Straßen um den berühmten „Auerbachs Keller“ sauber.

      Unter den Arkaden des „Alten Rathauses“ entdeckte Niccolò den Großvater in orangefarbenen Latzhosen, die geliebte schwarze Strickmütze auf dem Kopf. Balanca saß er auf einer Kehrwalze und steuerte sie durch eine sich öffnende Gasse von Fußgängern.

      „Hallo!“, rief Niccolò. „Balanca!“

      Der Großvater sah sich um, hielt das Fahrzeug an, sprang herunter, kam auf Niccolò zugerannt und fasste ihn derb an den Schultern.

      „Niccolò“, sagte er, seine Stimme klang brüchig vor Schreck. „Nun rede doch, Junge.“

      „Es ist nichts passiert“, sagte Niccolò schnell. Die beiden umarmten sich kurz und fest. Balanca legte Niccolò einen Arm um die Schultern, sie gingen zurück zur Kehrwalze. Der Großvater stellte den Motor ab, sie setzten sich auf das Fahrzeug und Balanca packte aus einem Beutel Thermoskanne