„Das geht ganz einfach“, antwortete Ole, als könnte er auf ein erfahrungsreiches Leben zurückblicken. Er angelte eine zerknitterte Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an, paffte wie eine alte Dampflok, hustete und spuckte angeekelt aus. „Willst du auch mal zie-ziehen? Schme-schmeckt einwand-frei.“
„Nein, danke“, sagte Niccolò. „Und wie einfach geht die Liebe nun?“
„Du musst dir einen Schnupfen vorstellen“, erklärte Ole und sog mit verdrehten Augen erneut an der Zigarette. „Manchmal kann es auch wie eine Grippe sein. Ich kenne das von Ramona, unserer Großen. Die ist jeden Monat mindesten dreimal liebeskrank. Manchmal will sie sogar sterben.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Niccolò mit leidender Stimme. „Und weiter?“
„Sie stirbt aber eben nicht“, berichtete Ole weiter. „Manchmal wäre es mir ganz recht. Sie nervt nämlich mit ihrem Geseufze und Gestöhne. Vor allem will das Weib dann immer ein anderes Fernsehprogramm sehen als ich.“
Nun seufzte und stöhnte auch Niccolò. Er malte sich aus, wie er an der Liebeskrankheit sterben würde. Die drei Schönen würden an seinem Grab stehen. Imke Liebstöckel würde ein Kirchenlied rappen. Rebekka Mandelstern müsste sich auf den Grabstein stützen und würde ihm eines der Bücher, die er aufzuheben geholfen hatte, unter die kalte Erde schieben. Paula Klette schließlich müsste sich von ihren Eltern führen lassen, unter ihrer Herzbrille würden die Tränen wie kleine Bäche hervorströmen. In der Trauerweide, die an seinem Grab stand, würden die Krähen sitzen und lautlos mit den Flügeln schlagen.
Niccolò musste die aufkommenden Tränen unterdrücken, da sagte Ole: „Es gibt etwa sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Wie konntest du dich nur in die dusselige Sehkuh Klette verlieben? Das hätte selbst ich nicht ausrechnen können. Aber keine Bange, der gute Onkel Ole wird sich was ausdenken, womit du dich grausam an ihr rächen kannst.“
Die Freunde schlugen zum Abschied die Handflächen gegeneinander. Ole stieg über den Holzzaun und verschwand auf dem schmalen Weg durch das Gesträuch zur Haustür. Niccolò stapfte müde nach Hause.
6.
Als Niccolò zu Hause ankam, ließ auch er das Gartentor unbeachtet und stieg über den Zaun, wie sich das gehörte.
Das „Affenhaus“ seines Großvaters war nicht so fein herausgeputzt wie die meisten Nachbarhäuser. Die Siedlung war vor dem Krieg von arbeitslosen Eisenbahnern erbaut wurden, meist einstöckige Doppelhäuser mit ein paar kleinen Räumen und angebauten Hühner- und Kaninchenställen. Die Gärten waren schmal und lang, und wo jetzt Tannen und Ziersträucher wuchsen, wurden früher Gemüse und Futterrüben für ein Schwein angebaut. Jeder Quadratmeter Erdboden wurde genutzt, selbst noch um die Stämme der Obstbäume hatte man Kohl gepflanzt.
Die Urgroßeltern hatten auf der ehemaligen Müllhalde Stein auf Stein gesetzt, bis endlich das erträumte Haus stand. Wenn Niccolò nach „damals“ fragte, ließ der Großvater mit ein paar Bleistiftstrichen auf einem Blatt Papier Bilder entstehen, dass Niccolò sich gut vorstellen konnte, wie es hier ausgesehen hatte.
Das Affenhaus, dem der Großvater den Namen gegeben hatte, weil Niccolòs Mutter mit ihrem oft überschäumenden Temperament manchmal „verrückt spielte“, hatte zwei Gesichter. Während die Vorder- und Rückseite noch den oft ausgebesserten grauen Putz zeigte, war die Giebelseite frisch verputzt und lindgrün angestrichen. Die eine Dachhälfte war mit glasierten roten Ziegeln neu gedeckt, während auf der anderen Hälfte bei Sturm die alten Schindeln klapperten. Einige Fenster waren erneuert und der Schornstein neu gesetzt worden. Aber die Haustür war aus altersschwachem Holz und von einem Dieb, wie Balanca lachend meinte, mit einem Büchsenöffner zu knacken.
Nach dem Deutschland wieder eins wurde, hatte auch in der Siedlung eine rege Bautätigkeit begonnen, und aus manchem armseligen Häuschen war eine Villa geworden. Aber während in den Villen immer wieder einmal eingebrochen wurde, blieb das Affenhaus verschont. Die Diebe ahnten wohl, dass bei den Rosenbuschs keine Schätze zu finden waren.
Niccolò schloss die Haustür auf, blieb aber unentschlossen stehen. Heute verspürte er keine Lust, sich in seinem Zimmer an den Schreibtisch zu setzen und Hausaufgaben zu erledigen. Es zog ihn auch nicht an den Computer oder zu den Bolzern, die täglich auf dem Rasenflecken hinter dem „Kulturhaus“, der Siedlungskneipe, kickten.
Niccolò überlegte, ob er Manuela anrufen sollte. Aber die Mutter hatte ihm gesagt, dass er das nur in Ausnahmefällen, wenn es „lebenswichtig“ war, tun dürfe. Niccolò rief sie trotzdem täglich ein paarmal an. Aber heute wusste er nicht, was er ihr sagen sollte.
Und „Balanca“, so nannte Niccolòs Großvater sich seit seiner Zirkuszeit, war auch in der Arbeit. Er versuchte die Welt zu retten, wie er schmunzelnd sagte, dass sie nicht in ihrem eigenen Dreck, den sie täglich produzierte, erstickte. Er war beim Stadtreinigungsamt als Kehrwalzenfahrer angestellt; er aber nannte sich einfach nur Straßenkehrer. Manuela hörte das nicht gern, doch Balanca entgegnete, die Straße zu kehren sei eine ebenso ehrenwerte Tätigkeit wie als Clown im Zirkus aufzutreten oder als Bundeskanzler Deutschland zu regieren.
Niccolò setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ sich von den Vögeln, die im Geäst der Birke hockten, etwas vorzwitschern. Er beneidete sie, wie sie ihr Gefieder in der Sonne plusterten und mit sich und der Welt zufrieden waren. Passte ihnen etwas nicht, erhoben sie sich in die Luft und flogen einfach davon.
Doch lange hielt Niccolò das Stillsitzen nichts aus; er schlenderte durch den Garten und blieb vor Großvaters „Atlantik“, dem Goldfischteich, stehen. Er nahm etwas Trockenfutter aus der Büchse, die zwischen Kieselsteinen steckte, ließ es auf die Wasseroberfläche rieseln und beobachtete die rot und silbern glänzenden Fische, die danach schnappten.
Als sich das Wasser wieder glättete, sah er vom Grund das Gesicht eines Jungen auftauchen. Es musste sein Gesicht sein, und doch erschien es ihm fremd. Wenn er bisher in einen Spiegel gesehen hatte, dann nur flüchtig und ohne mehr wahrzunehmen als eben irgendein Gesicht.
Doch heute sah er genauer hin.
„Na, Niccolò“, sagte er aufmunternd zu dem Gesicht im Teich. „Nun lass dich doch mal ansehen.“
Das Gesicht, das da von bunten Fischen umspielt wurde, wirkte blass gegen die schwarzlockigen Haare. Niccolò spuckte auf seine Handflächen und versuchte, die ungeliebten Locken zu glätten. Aber so sehr er sich auch mühte, die Haare wellten und kringelten sich bald wieder.
Nicht nur der Locken wegen erschien ihm sein Gesicht zu „niedlich“ oder gar „süß“, wie es manchmal Manuelas Kundinnen sagten, wenn die Mutter ihn als ihren Sohn vorstellte. Er wünschte sich auszusehen wie der vollbärtige und narbige Seeräuber „Stachelrochen“ aus dem Film „Kalt kommt der Tod auf hoher See“. Nur gegen seine Augen hatte Niccolò nichts einzuwenden. Sie waren fast so groß und dunkel wie die von Rebekka Mandelstern. Insgesamt aber fand er sein Aussehen einfach zu mädchenhaft. Er hoffte auf Großvaters Voraussage, dass bald die ersten Barthaare um sein Kinn und über der Oberlippe sprießen würden. Aber solange konnte er nicht warten, um Paula Klette zu erobern.
Niccolò wischte mit der Hand über das Wasser, dass es sich kräuselte. Die Fische huschten davon, das Spiegelbild erzitterte und verschwand schließlich. Als er aufstand war das Wasser grau und undurchsichtig, als sei es eine glänzende Steinplatte.
Niccolò musste etwas tun. Vielleicht war er ja wirklich liebeskrank, wie Ole behauptete. Bestimmt hatte er hohes Fieber und phantasierte stark. Jedenfalls fühlte er sich so. Man hatte ihm gelehrt, dass die mittlere Anzahl der Knochen eines jungen Menschen 200 beträgt, und nun erfuhr er, dass jeder einzelne ihm weh tat. Was aber sollte ein Mensch mit zweihundert kaputten Knochen und zweiundvierzig Grad Fieber tun? Balanca, der behauptete, sich in der Welt auszukennen wie in seiner Brieftasche, würde wohl sagen: Das Allerdümmste ist, sich selbst im Weg zu stehen.
Niccolò warf die Schultasche in den Hausflur, schloss die Tür wieder ab, zog sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr eilig zur „Bolzacker“ hinter dem Kulturhaus. Er kam