Richard Fuchs

Gott hat viele Fahrräder


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bewusst, dass nicht alle menschlichen Schicksale Gott zu verantworten hat, sondern nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip seine irdischen Geschöpfe, denen er den freien Willen gab, zu entscheiden.

       Vater Fuchs 1945, abgemagert nach Rückkehr vom Volkssturm

       Eine Geburt unter Gottes Beistand

       Wir kommen weit her

       liebes Kind

       und müssen weit gehen

       keine Angst

       alle sind bei Dir

       die vor Dir waren

       Deine Mutter, Dein Vater

       und alle, die vor ihnen waren

       weit, weit zurück

       alle sind bei Dir

       keine Angst

       wir kommen weit her

       und müssen weit gehen

       liebes Kind

      Heinrich Böll an seinen Enkel Samay

      Nun bin ich der Geschichte vorausgeeilt, denn mein ereignisreiches Leben begann bereits acht Jahre zuvor, soeben noch in Friedenszeiten. An einem Sonntag um 10:15 Uhr am 18. April 1937 „erblickte unser kleiner Richard unter Gottes Beistand das Licht der Welt“, hieß es in der Geburtsanzeige. „Mutter und Kind geht es gut.“ Ich kam in unserer Wohnung in Siegen, An der Alche 21, zur Welt, während andere meiner Geschwister in der benachbarten Klinik Stähler entbunden worden waren, soweit sie nicht schon in Wattenscheid – dem früheren Wohnort unserer Familie – geboren worden waren.

      Meine Eltern nannten mich Richard – ein Name, mit dem ich mich nur zögernd anfreunden konnte. Außer dem einen Namen gab es kein erweitertes Sortiment an Vornamen für eine spätere andere Wahl. Richard soll ein germanischer Name sein und so viel heißen wie mächtiger Herrscher. Einige davon gab es tatsächlich, zum Beispiel in England: Richard I. Wenn damals die Namen der Eltern für die Erstgeborenen bereits verbraucht waren, mussten Tanten oder Onkel als Namensgeber herhalten. Immerhin gab es in der näheren oder angeheirateten Verwandtschaft dreimal den Namen Richard. Einen davon – ursprünglich ein Schmied, später Fabrikant und begnadeter Techniker – habe ich sehr geschätzt und auch er mochte mich. Obwohl aus streng christlichem Haus, blieb Onkel Richard den Gottesdiensten fern. Dennoch praktizierte er das Gebot der Nächstenliebe, indem er den Haushalt seiner verwitweten Mutter mit zwei ledigen Schwestern mitfinanzierte. Er war nicht nur Anhänger der Freikörperkultur, sondern hatte auch eine heimliche Liebe, die er erst heiratete, als seine Mutter gestorben war.

      Meine Eltern – mit inzwischen fünf Kindern – machten sich zwar Gedanken über Familienplanung, das Zählen klappte aber nicht so recht – für mich zum Glück, sonst gäbe es weder mich, noch meine jüngste Schwester Gerda. Großmutters heißer Tipp, den sowohl Mutter als auch Vater als reine Wahrheit einer erfahrenen Frau ernst nahmen, war: „Solange Mütter stillen, werden sie nicht schwanger.“ Meine zweitälteste Schwester Gustel, die schon dreizehn Monate nach Magdalenes Geburt zur Welt kam, bewies das Gegenteil. Als sich die letzten Kinder ankündigten, war Mutter etwas überrascht und vielleicht auch der großen Verantwortung wegen besorgt, denn die Zeiten, kurz vor Ausbruch des Krieges, verhießen nichts Gutes. In zwei Jahren würde der Krieg beginnen und verheerende Folgen nicht nur für die sogenannten Feinde, sondern auch für das eigene deutsche Volk haben.

      Dennoch hatten meine Eltern Gottvertrauen. Oft hörte ich den zuversichtlichen Satz: „Gibt Gott Häschen, gibt Gott Gräschen.“ Das heißt, Gott als Allesversorger würde niemanden im Stich lassen. Auch die Bibel verbreitet unbekümmerte Zuversicht, wenn es dort heißt: „Seid nicht besorgt für euer Leben, was ihr essen und was ihr trinken sollt, noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Sehet hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen und ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie. […] Und warum seid ihr um Kleidung besorgt? Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen: sie mühen sich nicht, auch spinnen sie nicht. […] So seid nicht besorgt auf den morgenden Tag, denn der morgende Tag wird für sich selbst sorgen.“15 Das biblische Rundum-Sorglos-Paket ist allerdings, wie es später heißt, an folgende Bedingung geknüpft: „Trachtet aber zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, und dies alles wird euch hinzugefügt werden.“

      Obwohl meine Eltern diese Voraussetzung sicher erfüllten, haperte es bei mir zu Anfang zwar nicht an der richtigen Kleidung – Strampelanzug, Jäckchen und Windeln –, aber an der richtigen Ernährung. Mutter bedauerte, dass sie mich nicht so wie die anderen Kinder stillen konnte. Das war umso bedauerlicher, als ihr mütterlicher Busen freundliche Ausmaße hatte. Ihm durfte ich mich später als kleiner Junge doch noch ab und zu nähern. Wenn ich mit kalten Händen aus dem Winterwald kam, wärmte ich sie im Dekolleté zwischen den üppigen Brüsten.

      Gefüttert wurde ich mit Edelweiß-Buttermilch der Edelweiß Milchwerke Kempten im Allgäu. In der Produktwerbung hieß es: „Edelweiß-Buttermilch in Pulverform, glänzend bewährt bei Durchfallstörungen der Säuglinge. Ultractina – ultraviolett bestrahltes Alpenmilchpulver hat jetzt reines Milcharoma und ist frei von Strahlungsgeschmack.“ Etwas versüßt wurden mein Leben und die denaturierte Fläschchenkost ab und zu mit Traubenzucker. Damals wusste man noch nicht, dass Zucker, auch Traubenzucker, heute als Schadstoff bezeichnet werden darf.16 Meine älteste Schwester Magdalene lief sich in guter Absicht die Hacken ab, um den (Sucht-)Stoff zu beschaffen. Sie sei während des Krieges zweimal die Woche durch alle Apotheken und Drogerien gelaufen, schreibt sie, um Traubenzucker für mich zu kaufen. Damit würde mein Appetit angeregt – so die Vermutung. Abgesehen davon, dass vermutlich mein Glucose-Wert im Blut stieg, hielt sich der Erfolg in Grenzen: Bis zum Schulanfang und auch später in der Nachkriegszeit galt ich als unterernährt, was schließlich zu dem um ein Jahr verspäteten Schuleintritt führte. Zum Glück gab es Traubenzucker nicht in unbegrenzten Mengen, sonst wäre ich womöglich in frühen Jahren Diabetiker geworden.

       Mir waren die Hände gebunden

      Die bestrahlte Alpenmilch und der Traubenzucker versprachen mir zunächst keine strahlende Zukunft. Ich hatte Milchschorf, eine Krankheit, die bei Säuglingen oder Kleinkindern häufig ausbricht, wenn die Ernährung nach dem Abstillen, oder wenn gar nicht gestillt wird, auf Kuhmilch umgestellt wird – flüssig oder als Pulver. Mit der veränderten Zusammensetzung von Fett, Eiweiß, Kohlenhydraten, Vitaminen und Mineralstoffen der Kuhmilch, besonders dem erhöhten Eiweißgehalt der Kuhmilch, ist der menschliche Organismus jedoch überfordert. Die Symptome zeigen sich, so steht es zumindest in alten ärztlichen Ratgebern, in Form von entzündlichen Absonderungen der Haut und Schleimhäute, von bräunlichen Schuppen oder Grind auf der Kopfhaut, von nässenden Hautausschlägen im Gesicht und am Hals und schließlich auch in Form von Krusten. Da die Haut juckte, wurden mir die Hände verbunden, damit ich mich nicht mehr kratzen konnte. Ich hatte keine freie Hand mehr. Obwohl ich schon früh meinen Freiheitsdrang entdeckte, wie folgendes Beispiel zeigt, waren mir als Kind dennoch oft die Hände gebunden.

      Eines Tages gelang es mir, mich vorübergehend von den Binden zu befreien. Damit Mutter einkaufen gehen konnte, wurde ich für ein paar Stunden der befreundeten Nachbarin Frau Volkart anvertraut. Ob ich in dieser Zeit selbst die Mullbinden von den Händen gerissen oder die Nachbarin ein Erbarmen hatte, ist nicht überliefert. Jedenfalls erblickte Mutter auf dem Heimweg schon von Weitem ein dunkles blutverschmiertes Gesicht hinter der Fensterscheibe. Richard hatte mit bloßen Händen sein Gesicht zerkratzt und schrie bitterlich. Verbundene Hände, permanenter Juckreiz, gegen den sich die eigenen Hände nicht wehren