Es war ein langer Weg, bis ich nicht mehr zuließ, dass mir im übertragenen Sinn die Hände gebunden wurden.
Der kleine Richard mit Bleyle-Hose und langen Strümpfen
Ein anderes Mal hätten meine Aktivitäten noch ernsthaftere Folgen haben können. Ich stand in einem Laufställchen in der Küche. Auf der Kante des Küchenschranks lag ein superscharfes Rasiermesser, das regelmäßig mithilfe eines Lederriemens neu geschärft wurde. Rasieren mit Wegwerf-Rasierklingen war noch nicht sehr verbreitet und schließlich auch teuer. Deshalb konnte ich jeden Morgen meinen Vater beobachten, wie er sich mit dem Rasierpinsel einseifte und den Seifenschaum anschließend mit dem Rasiermesser abschabte, um sich zu rasieren. Das gefiel mir offenbar, ohne indessen die Gefahren zu erahnen, die bei unbefugtem Gebrauch des Rasiermessers drohen würden. In einem unbeobachteten Moment ruckelte ich meinen Laufstall so lange in Richtung Küchenschrank, bis ich das Rasiermesser zu fassen bekam. Nun versuchte ich nach dem Prinziep trial and error endlich selbst die Rasur. Was ein Erwachsener macht, kann ja wohl nicht falsch sein. Me too-effect oder learning by doing würde man heute das nachvollziehbare Verhalten eines Kindes nennen. Ganze Generationen haben schließlich durch Anschauungsunterricht Überlebenstechniken und Handwerkliches gelernt. Als man mich nach den ersten Selbstversuchen entdeckte, war ich blutverschmiert nur noch bedingt vorzeigbar. Nur die Augen leuchteten noch im Gesicht.
Homöopathie – wer heilt, hat recht
Familie Fuchs und Onkel und Tanten der Familie Schwarz trafen sich traditionell zu Pfingsten im Tiergarten ganz in der Nähe unserer Wohnung. Etwas weiter lag die Numbach mit einem schönen Ausflugslokal, ein beliebtes Ziel auch für die Weidenauer Christliche Versammlung und Sonntagschule. Tante Lina, stets dabei, berichtete mir später: „Du warst klein und wurdest noch im Kinderwagen gefahren und dein Gesicht sah so aus wie ein Reibekuchen, eine Kruste. In diesem Gesicht waren aber strahlende, fröhliche Augen und ein lachender Mund. Deine kleinen Hände waren mit Mull umwickelt. Aber du warst dabei und vergnügt.“
Da Mutter mich nicht stillte und ich auch Kuhmilch nicht vertrug, war, wie bereits erwähnt, der Nahrungsersatz Edelweiß-Buttermilchtrockenpulver. In der Hoffnung auf Linderung brachte man mich zur Höhensonnenbehandlung in die Praxis eines Kinderarztes. Das Leiden hätte noch lange dauern können, wäre da nicht die Empfehlung gekommen, einen Heilpraktiker aufzusuchen. Lorsbach hieß der begabte Homöopath, der Heilung versprach, und zwar, wie er sagte, nachhaltig, von innen heraus. Die Symptome würden noch einmal schlimmer zum Ausbruch kommen, dann aber abnehmen. Erstverschlimmerung würde man heute sagen. So war’s dann auch. Beschwerden dieser Art kamen nie wieder. Mein Vertrauen in die Homöopathie ist bis heute geblieben.
Die von dem Arzt Samuel Hahnemann (1755–1843) entdeckte Heilmethode nach dem Prinzip „Gleiches beziehungsweise Ähnliches wird durch Gleiches beziehungsweise Ähnliches geheilt“ war damals wie heute sehr verbreitet. Sein Hauptwerk Organon der rationellen Heilkunde musste während der Lebenszeit Hahnemanns fünfmal neu aufgelegt werden. Heilpraktiker hatten im Übrigen bis zu Beginn des Dritten Reiches, anders als heute, neben Ärzten ebenfalls Verträge mit den gesetzlichen Krankenkassen.
Wenn man weiß, dass das noch nicht vollständig entwickelte Gehirn eines Kindes sich vor allem in den ersten drei Lebensjahren strukturiert, ist es nicht unerheblich, welche Botschaften es in dieser Zeit empfängt und wie intensiv der Körperkontakt mit der Mutter ist. Dabei spielt das größte Kontaktorgan des Menschen, die Haut, eine nicht zu unterschätzende Rolle in Sachen Kommunikation. Nun war ich schon nicht, wie es in dem Lied heißt, als Knäblein an der Mutterbrust gestillt worden und hatte dann auch noch die Haut der Güteklasse Rühr mich nicht an! Wer will schon bräunliche Schuppen, Grind, nässende Hautausschläge und Krusten anfassen? Auf der anderen Seite wurde mein eigenes Bedürfnis nach Körperkontakt mit anderen durch Binden an den Händen sprichwörtlich unterbunden. Auch wenn ich mich selbst nicht mehr bewusst erinnere, hat mein frühkindlicher Körper die Erlebnisse von damals im Unterbewusstsein gespeichert.
1942, mit der kleinen Gerda sind wir nun sieben
Der genormte Mensch
Wir brauchen unbedingt ein kurzes Wort zur Bezeichnung der Wissenschaft von der Verbesserung des Erbguts, die sich keineswegs auf Fragen zweckmäßiger Paarung beschränkt, sondern vor allem in Bezug auf den Menschen, auch all diejenigen Einflüsse berücksichtigt, die in einem wenn auch noch so geringem Maße dazu beitragen, den tauglichen Rassen oder Einschlägen eine bessere Behauptungschance gegen die weniger tauglichen zu bieten, als sie sonst bestanden hätte. Das Wort „eugenics“ schien zur Bezeichnung dieses Gedankens geeignet zu sein.
Francis Galton, in: Hereditary Genius (Erbliches Genie), London 1883
Wer in Zeiten des Nationalsozialismus zur Welt kam, größere gesundheitliche Schäden aufwies als die eher harmlosen, behandelbaren, wie bei mir, konnte Schwierigkeiten bekommen. Denn der Staat ließ nur starke, gesunde Menschen der nordisch-arischen Rasse gelten. Laut Hitler sollten die Menschen flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl werden. Hebammen, Ärzte und Gesundheitsämter wurden aufgefordert, Neugeborene mit Behinderungen zu melden. Das zeigt unter anderem der Beitrag des Arztes und Eugenikers Dr. Heinrich Schade, der im Übrigen nach Kriegsende als Professor in der Landesheilanstalt Düsseldorf Grafenberg weiterarbeitete. Noch 1974 verbreite er mit seinem letzten Buch Völkerflut und Völkerschwund. Bevölkerungswissenschaftliche Erkenntnisse und Mahnungen im neonazistischen Vowinckel Verlag rassistisches Gedankengut.
1937, zur Zeit, als ich geboren wurde, erschien unter dem Titel Erbbiologische Bestandsaufnahme ein Aufsatz von besagtem Professor Schade, in dem er die gesetzliche Maßnahme der „Inventarisierung der Bevölkerung auf dem Wege über die Gesundheitsämter“ und deren Vertiefung „durch eine eingehendere wissenschaftliche Allgemeinuntersuchung der gesamten Bevölkerung“17 in verschiedenen Bezirken in Hessen zusammenfassend darstellt. Angestrebt war eine vollständige Erfassung, ausgehend von Aufzeichnungen von Fürsorgestellen für Trinker, Geschlechts-, Gemüts- und Nervenkranke sowie von Fürsorge-, Hilfsschul- und Vormundschaftsakten ergänzt durch Daten und Akten der Nervenkliniken und Gefängnisse nach dem Vorbild der erbbiologischen Bestandsaufnahme in Frankfurt am Main. Dort war 1937/38 bereits die Hälfte der Bevölkerung in dem 250.000 Akten umfassenden Erbarchiv erfasst und zum größten Teil in Karteikarten dokumentiert.
Was war dem vorausgegangen? Schade hatte 1935 eine bis dahin einmalige anthropologisch, medizinische Erhebung im Schwalm-Eder-Kreis durchgeführt, mit der er sich 1939 habilitierte. Laut Schade sollte die Untersuchung „unter Berücksichtigung des genealogischen Aufbaus der ‚Bevölkerungsbewegung‘ Aufschluss geben über die gesunden und krankhaften körperlichen und geistigen Eigenschaften der Bevölkerung und die Verbreitung ihrer Erbanlagen. Dazu gehört auch die Häufigkeit von Erbkrankheiten“.18 Das Ergebnis entsprach dem, was er sich erhofft hatte, und zwar, dass häufig ganze Sippen mit Debilen intellektuell ein im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung deutlich niedrigeres Niveau haben. Solche Menschen wurden dann als erbkrank im Sinne des Erbgesundheitsgesetzes diskreditiert. Nach dem 1935 beschlossenen Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes wurden nach eugenischen Maßstäben die somatische und psychische Qualität von deutschen Staatsangehörigen festgelegt, die für eine gesunde Nachkommenschaft verantwortlich gemacht wurden. Eine Ehe durfte erst gar nicht geschlossen werden, wenn ein Partner nicht den Kriterien der Erbgesundheit entsprach. Dass auch rassisch Andersartige nicht erwünscht waren, hatte zur Folge, dass 1937 in einer Nacht- und Nebelaktion, an der Schade ebenfalls beteiligt war, die Sterilisation der sogenannten Rheinlandbastarde beschlossen wurde.19 Sie waren zwar gesund, dennoch rassisch unerwünscht.