Herbert Seibold

Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain


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Mitarbeitern und Kollegen. Wie kommen Sie mit dem Geschäftsführer klar?“

      Der Assistenzarzt konterte mit einer Gegenfrage: „Nach oder vor dem Anschlag auf den Geschäftsführer?“

      „Im Klartext: War unter den Mitarbeitern einer so frustriert, dass er Wut und Mordgefühle haben könnte?“

      „Darf ich etwas ausholen? Ich muss aus dem Nähkästchen plaudern. Wissen Sie, der Buchenhain ist unser Arbeitsplatz, den wir erhalten wollen. Seit dem neuen Abrechnungssystem weht in den Krankenhäusern ein kälterer Wind. In der Umgebung von fünfzig Kilometern sind ja schon einige Häuser eingegangen. Harte Belastungen gehören zum Alltag. Wir Ärzte sind abgehärtet. Was uns nicht umbringt, macht uns stark. Denken Sie doch an manche durchgedrehte Angehörige, die sich aufspielen und ihren Frust von zu Hause oder vom Arbeitsplatz an Schwestern und Ärzten auslassen. Der Geschäftsführer hat vor einem guten Jahr einen schweren Job übernommen und musste mit dem ererbten Defizit robust umgehen. Manche kamen damit wohl nicht so gut klar.“

      Joe Moser nickte und ließ sich Zeit. Er hatte von der Sekretärin schon Vorinformationen bekommen und von Doktor Freund nur Gutes gehört. Die Sekretärin war ebenso schon fünf Jahre in der Klinik und wusste über Freunds Biografie grob Bescheid. Unter anderem hatte sie ihm fast vorgeschwärmt: „Wissen Sie, dieser Arzt ist, glaube ich, ein besonderer Mensch. Herr Doktor Freund sang früher im Kirchenchor mit einer guten Alt-, dann Baritonstimme und wollte eigentlich Priester werden. Er kam ursprünglich aus einer armen Bauernfamilie. Weil die Eltern die Schule und das Studium nicht bezahlen konnten, kam er in ein Internat, wo er fast kostenlos wohnen konnte. Dafür musste er in einem kalten Keller auch im Winter Kartoffeln aussortieren. Das hat ihn geprägt. Er sagte mir, dass er anfänglich eine echte Berufung für den Priesterberuf gespürt habe, weil er sich für religiöse Fragen interessierte und sich für soziale Fragen ereifern konnte und überzeugt war, auf diese Weise den Menschen mehr Freiheit und ein bisschen Glück zu vermitteln. Dass er nicht Priester, sondern Arzt wurde, lag nicht daran, wie Witzbolde ihm vorhielten, dass seine Glaubenszweifel schwarzhaarig oder blond waren, sondern echte Zweifel wegen der erzkonservativen Strukturen in der katholischen Kirche und des ihm unsinnigen Anspruchs der allein selig machenden katholischen Kirche. Die ‚Gutmensch-Eigenschaften‘, die seine Kindheit bis zum achtzehnten Lebensjahr prägten, hat er sich aber im Arztberuf bewahrt. Im Krankenhaus war sein fast missionarischer Drang, helfen zu wollen, aufgefallen. Wenn es hart auf hart kam, blieb er cool und hatte eine hohe Toleranzschwelle entwickelt. Die Schwestern mochten ihn sehr, berichteten aber, dass er sich auch aufregen, sozusagen in einen heiligen Zorn geraten könne – natürlich nur verbal –, wenn Menschen verlogen und inadäquat fordernd auftraten.“

      Doktor Freund schaute stumm auf den Kommissar, der kurz die Augen geschlossen hatte.

      „Fahren Sie fort, Herr Doktor. Sie haben recht, die äußeren ökonomischen Bedingungen in Krankenhäusern aber auch in der Wirtschaft sind psychologischen Einflüssen unterworfen, die manche Hirne ganz schön durcheinanderbringen können.“

      „Oh, Herr Kommissar, Sie spielen doch nicht auf den Gentleman und Nobelpreisträger 2013 für Wirtschaft, Robert Shiller, an, der der Psyche der Banker beim Finanzgebaren eine große Bedeutung beimisst? Was mich betrifft – ich musste mich umstellen. Am schlimmsten fand ich eigentlich die Ansprüche der Angehörigen in diesem System, das zunehmend weniger Ressourcen bekam, immer weniger Zeit für Gespräche zuließ. Mein Gott, was werfen diese Leute dem Personal, bevorzugt dem Chefarzt, alles vor, wenn er auf Chefarztvisite kommt und gerade ein schwieriges differential-diagnostisches Problem zu lösen hat. Wie Kröten lauern die in den Sesseln. Die Suppe sei zu heiß oder zu kalt und nicht gesalzen. Wir haben unter Zeitdruck wirklich anderes zu tun, als all diesen Blödsinn anzuhören.“ Er bemerkte die leichte Ungeduld des Hauptkommissars, der auf seine Uhr schaute. „Ich komme gleich auf Ihre Frage zu sprechen. Immerhin haben wir jetzt unter Muniel eine positive ökonomische Entwicklung genommen. Wir stehen nicht mehr vor der Schließung. Das gibt auch uns Motivation, einander zu helfen. Zum Beispiel sind wir bezüglich der Hausdienste flexibel, tauschen auch Dienste, wenn nötig, und besprechen viel untereinander, nicht nur oder selten mit dem Chefarzt und Oberarzt bei der Morgenbesprechung. Ich finde, dass sich viel gebessert hat, seit nur noch deutsche Kolleginnen und Kollegen hier arbeiten. Halten Sie mich bitte nicht für nationalistisch.“

      Joe unterbrach ihn: „Gibt es negative Beispiele von früher?“

      „In der Tat, Herr Hauptkommissar, haben wir leider negative Erfahrungen mit Ukrainern und Weißrussen gemacht. Ein Kollege aus der Ukraine mit unterdurchschnittlichen medizinischen Kenntnissen ging oder wurde vor einem halben Jahr gegangen; zuvor wurde er oft zum Geschäftsführer gerufen. Dieser ukrainische Arzt war einfach trotz aller Hilfsbereitschaft seinerseits und auch unsererseits sichtlich ungeeignet, weil er keine Fortschritte machte, zu wenig lernfähig war und nach Monaten noch keine vernünftige Anamnese aufnehmen konnte. Die Visiten waren und blieben ein Graus. Man kam sich vor wie in der Hauptschule. Dabei war er so rührend. Mir brachte er zum Beispiel von der Kantine immer Plätzchen mit. Ich erinnere mich noch an dieses regelmäßige mittägliche Ritual: ‚Doktor Freund, Sie sehen aus so hungrig mit hohlen Augen. Warum nicht gegangen zum Mittagessen? Immer nur arbeiten der Doktor Freund!‘ Der Chefarzt wollte ihm noch etwas Zeit lassen und hatte sogar angefangen, die Entlassungsbriefe des Kollegen selbst zu diktieren. Schließlich riss dem Geschäftsführer Muniel der von Haus aus schon zu kurze Geduldsfaden. Zur Art und Weise der Entlassung kann ich nichts sagen. Aber der Kollege soll ziemlich wütend aus dem Haus gestürzt sein; offenbar ist er doch sehr gekränkt worden. Von hier aus ist er, wie man hörte, in die Ukraine gegangen, wo er ja herkam.“

      Kommissar: „Wie hieß der Kollege?“

      Freund: „Irgend etwas wie Cervinowich. Nein, das heißt ja ‚Hirschchen‘. Ein Platzhirsch war er nicht, unsere Schwestern waren eher kühl mit ihm, sondern – jetzt kommt es mir wieder – Cerebellinowitch oder so. Heimlich nannten wir ihn nämlich frei übersetzt ‚Kleinhirnchen‘; immerhin war er motorisch sehr geschickt und konnte so gut die Venen punktieren und Blut abnehmen wie keiner von uns, sodass wir ihn bei schwierigen Venenverhältnissen um Hilfe baten, während er bei der organisatorischen Stationsarbeit eher hilfebedürftig war.“

      Tatsächlich dachte Oliver Freund mit gemischten Gefühlen an diesen Kollegen zurück. An ihn konnte er sich besonders gut erinnern, obwohl noch andere aus diesen osteuropäischen Ländern kurz hier arbeiteten und sei es auch nur als sogenannte Leihärzte.

      „Auch in der Klinik gibt es also offenbar Symbiosen, nicht nur im Tier- und Pflanzenreich“, entfuhr es Joe offensichtlich amüsiert.

      Olli Freund lachte und ergänzte: „Noch was! Dieser Kollege stellte die Genetik auf den Kopf: Igor Cerebellinowitch gab immer mit seinem angeblich eineiigen Zwillingsbruder an, der manuell nicht so geschickt sei, aber ‚weißt du, großer, großer Wissenschaftler in Molekulargenetik! Mein Bruder Alexander arbeitet und forscht bei Transplantationsteam an Universität in Kiew als wissenschaftlicher Angestellter.‘ Von wegen eineiig, dachte ich. Stattdessen nahm ich an, dass seine Mutter da einmal von einem Akademiker in der Uni beglückt wurde, als sie dort in der Kantine arbeitete.“

      „Das ist ja interessant“, meint Joe, „weil möglicherweise Kooperationen unseres Transplantationszentrums der benachbarten Uniklinik Frankfurt mit Kiew bestehen könnten. Da können wir vielleicht etwas über beide Brüder herausfinden. Was mich wundert, ist, dass Sie das Betriebsklima fast rosig darstellen, wobei gerade mindestens drei Kollegen gekündigt haben sollen. Haben Sie denn auch gekündigt?“

      „Nein, Herr Moser, ich habe ein Haus und eine Familie und werde schön hierbleiben.“

      Hauptkommissar Moser schaute Herrn Doktor Freund ernst unter seinen buschigen Brauen an und meinte: „Herr Doktor Freund, danke für das Interview. Zur Beruhigung – wie ein Mörder sehen Sie wahrlich nicht aus.“

      Freund lächelte: „Danke, höflich, Herr Kommissar, wer hätte das gedacht.“

      Der Hauptkommissar notierte sich den Namen des ukrainischen Kollegen und bat über das Telefon die Klinikinformation, den Personalleiter die alte Personalakte suchen zu lassen.

      Als Nächste kam die Assistenzärztin