Группа авторов

Geschichten, die das Landesmuseum schrieb


Скачать книгу

ich schliesslich für die Führungen, die ich so gerne leite, trainiert.

      Und so beginne ich, in der Hoffnung, das Muskelpaket abzulenken und abzuregen, mit meinen Ausführungen: «Wissen Sie, Wurfwettbewerbe waren in der Schweiz seit alters her sehr beliebt. Zwar hat Wilhelm Tell mit einer Armbrust den Apfel von seines Sohnes Kopf geschossen, doch eine Strategie der freiheitsliebenden Urschweizer, wenn sie von fremden Truppen angegriffen wurden, bestand darin, Felsbrocken von den Berghängen auf die Feinde im Tal zu befördern. Um für den Ernstfall gewappnet zu sein, so stelle ich es mir zumindest vor, gab es bestimmt, obwohl nirgends verbrieft, Wettkämpfe im Steinstossen. Logisch, oder nicht?»

      Mein Gegenüber nickt leicht, mir seine Nackenmuskeln zeigend, die mich nicht nur beeindrucken, sondern mir eisige Angst die Wirbelsäule hinuntersenden. Also weiter erzählen und ihm die Wahrheit nahebringen:

      «Diese Tradition hält sich bis heute. Immer noch auf der Wiese bei Interlaken. Die Geister der Ritter von der Burg Unspunnen müssen ihre wahre Freude daran haben. Doch ein Wermutstropfen, nein, eine ganze Flasche Wermut, zehntausend Tropfen oder mehr fielen in diese Spiele. Der Unspunnenstein wurde im Zuge der beispielhaften demokratischen Loslösung des Kantons Jura vom Kanton Bern im Jahre 2004 entwendet und blieb seither verschollen. So kann ich niemanden, auch Sie nicht, zu diesem einmaligen Relikt der Schweizergeschichte führen, so gerne ich dies auch täte, denn dieser Stein gehört zu uns ins Landesmuseum.

      Wir würden ihn hegen und pflegen nach bestem Wissen und Gewissen. Ihn unseren Besuchern zeigen, nicht zuletzt als Zeuge einer einmaligen gewaltlosen Trennung zweier eidgenössischen Gebiete, die jetzt, trotz gelegentlich noch auftretender Spannungen, vertrauensvoll und im demokratischen Sinn unseres Landes zusammenarbeiten.»

      Schweisstropfen haben sich auf meiner Stirn gebildet.

      Gespannt und immer noch auf Schlimmes gefasst beobachte ich die Reaktion meines Redeschwalls auf den Fragesteller.

      Doch sein Gesicht entspannt sich, die Muskeln werden merklich weicher. Seine knappe Antwort:

image

       Burg Unspunnen.

      «Nun denn, ich werde auf die Suche gehen und bringe den Unspunnenstein dorthin, wo er hingehört.»

      Darauf kehrt er auf den Absätzen um.

      Seitdem warte ich, ohne meinen Vorgesetzten von dieser Begegnung berichtet zu haben, auf den Muskelmann und male mir aus, wie er den Stein, ihn in nur einer Hand tragend, unserer Institution überbringt.

      Entschuldigen Sie, aber träumen darf man wohl auf seinen Runden, seinen Wunschgedanken nachhängen. Und Träume sind nicht immer Schäume …

       Aus dem «Nordbadischen Rasenkraftsport- und Tauziehverband»:

      Steinstossen hat sich in der Schweiz seit dem 14. Jahrhundert ohne nennenswerte Veränderungen erhalten. Ein besonders berühmter Steinstoßwettkampf ist das sogenannte Unspunnen-Steinstossen der Älpler im Berner Oberland.

      «Dabei wird ein 167-pfündiger, eiförmiger Granitstein aus dem Stand gestossen, nachdem der Athlet ihn ohne fremde Hilfe auf seine Schultern gehoben hat. Dieser Granitstein ist ein heiliger Stein und wird das ganze Jahr in einer Kapelle aufbewahrt. Nur zu diesem speziellen Anlass wird der Unspunnen-Stein aus der Kapelle genommen.» Früher kam dem Steinstossen auch im Schweizer Heer eine besondere Bedeutung zu. Jeder, der die besonderen Bedingungen, u. a. Steinstossen, bei der Musterung für das «Regiment gemeiner loblicher eydtgenossenschaften» erfüllte, erhielt mehrere Gulden jährlich zu seinem Sold. Diese Verordnung stammt aus dem 16. Jahrhundert.

      Aus Wikipedia:

      Auf der Unspunnenmatte fand 1805 ein Alphirtenfest statt.

      Es wurde ein Stein mit einem Gewicht von 184 Pfund gestossen; dieser Stein ist heute nicht mehr auffindbar.

      1808 wurde ein zweites Unspunnenfest veranstaltet und es wurde ein neuer Stein mit 167 Pfund gestossen. Er wurde danach anscheinend von einer Familie aufbewahrt und weitervererbt. Am 18. April 1905 übergab Adolf Pfahrer aus Interlaken den Stein dem Turnverein Interlaken. Es handelte sich um den Stein von 1808.

      Ein Burgherr wird erstmals im Jahre 1232 erwähnt: Burkhard von Unspunnen. Im 13. Jahrhundert gelangte die Burg an die Herren von Wädenswil, gemäss Überlieferung aufgrund der Beteiligung Burkhards am Aufstand des Oberländischen Adels gegen Herzog Berchtold von Zähringen. 1306 Verpfändung an die Habsburger, danach diverse Handänderungen des Pfandes. 1332 erfolglose Belagerung durch die Talleute vom Haslital; 1334 Einnahme durch die Stadt Bern. Danach verschiedene Besitzer bis zum erneuten Übergang an Bern, das die Anlage 1398 an die Herren von Scharnachtal veräusserte, die um 1425 die Burg in Stand stellten. Die bis 1533 bewohnte Burg zerfiel im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts.

       … und da ganz gross!

image

       Zuckerschlecken?

      Historikerin zu sein ist nicht immer Zuckerschlecken. Obwohl mich so mancher Kommilitone, der wie ich seine Doktorarbeit schreibt, um mein Thema beneidet in der Annahme, über historische Tatsachen zu fachsimpeln, sei Kindergartenarbeit. Dies muss ich vehement bestreiten.

      Geschichte, das habe ich bereits im ersten Semester gelernt, wird immer wieder neu geschrieben, den Herrschenden oder dem Zeitgeist angepasst. Und genau dieses Thema fasziniert mich ebenso wie meinen Doktorvater, eine Koryphäe in Schweizer Geschichte der Neuzeit. Meine Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob Bundespräsidenten, also Mitglieder unserer Landesregierung, glücklich waren beziehungsweise sind und ob es im Laufe der Zeit auch Magistraten gab, die das Amt ins Unglück stürzte. Nun, man kann sich kaum vorstellen, wie schwierig dieses Thema ist. Denn Glück wird laut herausposaunt, Unglück hingegen möglichst verborgen.

      So bin ich denn – wo könnte ich sonst fündig werden? – ins Landesmuseum gepilgert, um den heutigen Tag mit diesem einzigen Thema zu verbringen und in den Akten nach Antworten auf meine Fragen zu forschen. Was sich nicht so einfach gestaltet, denn, meiner Generation mag das fremd erscheinen, aber Suchmaschinen gab es früher keine.

      Ebenso wenig wie Datenbanken mit Milliarden von Informationen. Fündig wurde man mit viel Glück in Mikrofichen, Urkunden und Dokumenten. Jede Information, die man erhielt, war so von Schweiss durchtränkt.

      Auch heute ist ein heisser Tag. Die Hitze der letzten Wochen hat sich ins Museumsgebäude verkrochen. Jedenfalls fällt mir das Arbeiten nicht leicht. Bereits nach einer Stunde gebeugt über den alten Folianten übermannt mich (weshalb kann dieser Ausdruck nicht geschlechtsneutral sein? Das stört mich als Studentin, leben wir doch nicht mehr in vergangenen Zeiten) der Durst. Also begebe ich mich ins Café im Eingangsbereich und belege mithilfe meiner Aktenmappe ein Tischchen. Als ich mit meinem doppelten Espresso zurückkehre, sitzt zu meinem Unmut – und das gebe ich mit einem betont verächtlichen Augenaufschlag auch bekannt – ein in die Jahre gekommener, ziemlich beleibter Herr auf dem leeren Platz gegenüber meiner Mappe. Hat er mich verfolgt? Was will der Greis von mir? Ich lege meine ganze Ablehnung in meinen Blick, doch der Mann löffelt ungestört schmatzend in einer Fischsuppe und hat dabei nicht einmal seinen lichten billigen Strohhut abgenommen. Wie kann man nur so etwas, denke ich, schon morgens um zehn verzehren!

image

       Bundespräsident Fridolin Anderwert.

      Geräuschvoll rücke ich meinen Stuhl zurecht und setze mich, doch der Unsympath sieht gar nicht auf. Also keine Verfolgung meines Aussehens wegen. Ich bin erleichtert, doch auch irgendwie enttäuscht. Dann schüttle ich über mich selbst den Kopf: dem gefallen, dass ich nicht lache! Ich nippe angewidert an meinem Espresso. Er löffelt. Uh, dieser Geruch! Und das