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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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wir nicht nur das Okkulte auf einer grundsätzlichen Ebene falsch verstehen, sondern uns werden auch wesentliche Dimensionen moderner Kultur und Gesellschaft verborgen bleiben.

      Der Leser sei gewarnt: diese Sammlung kritischer Studien kann ihn vieles lehren, doch ist sie nichts für die Kleinmütigen oder die Leichtfertigen. Er wird eingeführt in eine seltsame, oft groteske und zutiefst aufstörende Welt, in der Reisende angehalten sind, so manche ihnen wohl vertraute Vermutung in Frage zu stellen. Eine Welt, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint, und wo etablierte Grenzen scheinbar nur existieren, um überschritten zu werden. Diese Exkursion in den Untergrund soll den Reisenden berühren und seine Perspektive verändern: Ist seine vertraute Welt nach seiner Rückkehr noch dieselbe, dann war er nicht mehr als ein Tourist, der von der klimatisierten Sicherheit seines Ausflugsbusses aus „die Wilden“ beobachtet. Der intelligente Leser weiß es besser: Er wird feststellen, dass wir, wenn wir auf die Schattenseite der westlichen Kultur schauen, letztendlich uns selbst anblicken.

       Wouter J. Hanegraaff

      Universität Amsterdam

      EINLEITUNG

       Henrik Bogdan & Martin P. Starr

      Die erstmalige Veröffentlichung einer Sammlung von wissenschaftlichen Untersuchungen zu Aleister Crowley (1875 - 1947) bedarf einiger Erklärungen. Das Bild von Crowley, soweit in unserer vorherrschenden Kultur eines besteht, ist das eines Inbegriffs des Bösen und der Grenzübertretungen, des Vaters des zeitgenössischen Satanismus und des Verfechters jeder Art der Ausschweifung, von Sex über Drogen, bis hin – mit posthumer Unterstützung aus der Popkultur – zum Rock’n’Roll. Welchen Grund für ein zeitgenössisches akademisches Interesse liefert eine Gestalt der Gegenkultur, die eigentlich eher die Boulevardpresse beschäftigen dürfte?

      Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen verdeutlicht die Entwicklung der Vorstellungen von Crowleys Vermächtnis und seines Einflusses. Er war ein einflussreicher religiöser Synthetiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Esoterik war keine Rückkehr zu einer mittelalterlichen Weltanschauung, sondern er war, durch seine Suche nach einer Vision des Selbst, ein Vorbote der Moderne. Crowley räumte ein, dass sein schlechter Ruf als nützlicher Filter für die Leichtgläubigen diente und seine Weggefährten nahezu vollständig daran hinderte, seine Philosophie anzuerkennen. Er stand abseits und machte für seine intellektuelle Isolation eine kosmische Bestimmung geltend. Seine Mission war die eines charismatischen Propheten, der einen neuen Glauben für die Menschheit verkündete, in dessen Zentrum die absolute Freiheit des Individuums zur Selbstverwirklichung stand, ohne Rücksicht auf die Moralvorstellungen und die religiösen Beschränkungen früherer Zeiten. Die individuellen Mittel dazu waren, durch die Praxis seiner okkulten Bricolage hindurch, die er als „Magick“ bezeichnete, eine äußerst vielschichtige und sehr persönliche Kombination spiritueller Übungen aus westeuropäischen magischen Traditionen und Meditationen sowie Yogadisziplinen aus vorwiegend indischen Quellen. Dieser Reise zur Selbstbefreiung fügte Crowley noch die Kraft der Sexualität als magische Disziplin hinzu. Crowley betrachtete Sexualmagie als einfache und direkte Methode für den Anwender, seine magischen Ziele ohne das materielle Drumherum der Zeremonialmagie zu erreichen; die Macht liegt in der Absicht des Anwenders.

      Doch Crowley als Verfechter einer neuen religiösen Bewegung passt nicht ganz in das verallgemeinerte Konstrukt eines charismatischen Propheten. Eher schien er in diese Position hineinzuwachsen, ohne seine frühere Weltanschauung aufzugeben. Bevor er die Rolle des Propheten eines neuen Zeitalters annahm und seine Schrift The Book of the Law (1904) veröffentlichte, die „nicht um einen Buchstaben“ verändert werden könne, versuchte er als Student an der Universität, die Philosophie und die empirische Wissenschaft zu durchdringen. Als Reaktion auf den fundamentalistischen Glauben, der seine Kindheit prägte und auf angeblicher Irrtumsfreiheit der Bibel basierte, trieb es ihn, nach religiösen Wahrheiten zu suchen, die sich im Sinne der Wissenschaft und der Philosophie begründen ließen, mit der er sich anfangs in Cambridge befasste. Crowleys bedeutender Beitrag zur westlichen Esoterik bestand in seinem Bestreben, seine im Wesentlichen religiöse Annäherung an die Realität mit Elementen philosophischer und empirischer Skepsis zu legitimieren.1 Sein erster kritischer Interpret, J. F. C. Fuller, beschrieb Crowleys philosophische Position als „Crowleyanismus: oder, in anderen Worten, je nach Verständnis des Lesers: pyrrhonischer Zoroastrismus, pyrrhonischer Mystizismus, skeptischer Transzendentalismus, skeptische Theurgie, skeptische Energie, wissenschaftlicher Illuminismus, oder was du willst: denn kurz gesagt, ist es die bewusste Gemeinschaft mit Gott auf Seiten eines Atheisten, eine Überschreitung des Verstandes durch die Skepsis des Werkzeuges, und die Beschränkung der Skepsis durch das direkte Bewusstsein des Absoluten“.2 In Crowleys Augen hatte die zeitgenössische Wissenschaft wie auch die Offenbarungsreligion aufgrund der ihnen innewohnenden methodischen Begrenzungen darin versagt, ihre eigenen Fragen zu beantworten. Die ultimativen Wahrheiten waren nur in einer Vereinigung ihrer erkenntnistheoretischen Stärken zu finden. Als Leitgedanken seiner okkulten Zeitschrift The Equinox wählte Crowley „die Methode der Wissenschaft, das Ziel der Religion“. Magick war der dritte Weg.

      Die Entwicklung von Crowleys Theorie und Praxis ist eng mit seiner individuellen Persönlichkeit verbunden. Obwohl über ihn viele ausführliche Biographien verfasst wurden3 und trotz der vielfältigen Details, die über sein Leben niedergeschrieben wurden, scheint die Sicht auf die Strömungen, die maßgeblich die Entwicklung seiner intellektuellen und spirituellen Positionen beeinflusst haben, verdunkelt zu sein. Crowley kam 1875 in einer wohlhabenden Familie im viktorianischen England zur Welt. Diese unterschied sich von der Mehrheitsgesellschaft durch ihr Bekenntnis zur exklusiven Bruderschaft der Plymouth Brethren, einer „evangelikalen christlichen Erneuerungsbewegung. Die anspruchsvolle religiöse Praxis, gepaart mit einer rigiden Moral (und offensichtlicher Scheinheiligkeit) der Plymouth Brethren nährte in dem heranwachsenden Crowley eine gewisse Anomie. Er rebellierte, und im Prozess der Loslösung von seiner Familie setzte er sich deren Gott entgegen. Sein Vorbild war das „Große Tier“ der Offenbarung, ein Quellentext in der historisch-grammatischen Bibelinterpretation der Plymouth Brethren. John Nelson Darby, eine zentrale Figur der Bewegung, entwickelte eine prämillenaristische, dispensationalistische Theologie, deren Konstrukte Crowleys Weltsicht formte. Der Dispensionalismus versteht die biblische Geschichte als eine Reihe von Zeitaltern, in denen immer wieder Bündnisse zwischen Gott und seinem Volk geschlossen werden. Und der Prämillenarismus weist auf eine glückselige Zukunft, in welcher Gottes Herrschaft auf Erden durch die Wiederkunft Christi etabliert wird. Für Crowley war klar, dass die bequeme Welt, in die er hineingeboren war, vom Schicksal dazu bestimmt war, von einem Messias gestürzt zu werden.

      Crowley besuchte die Universität Cambridge, doch schloss er sein Studium nicht ab, weil er eine Offenbarung hatte, nach welcher er sich der Religion hingeben solle. Die Art seiner Hingabe war von Anfang an auf zwei Ziele gerichtet: Sex und Esoterik. In ersterem brauchte er keinen Unterricht, doch um 1898 kam er zum Hermetic Order of the Golden Dawn (GD), der eine anscheinend authentische Unterweisung in westlicher Esoterik bot und den initiatischem Zugang zum wahren, unsichtbaren Orden der Rosenkreuzer darstellte. Seine Mitwirkung beim GD war kurzlebig, da der Orden in London aufgrund interner Streitigkeiten um die Legitimität historischer Ansprüche und die daraus abgeleitete Autorität eines seiner Gründer, S. L. Mathers, zersplitterte. Die hierarchische Initiationsstruktur des GD, die auf der Struktur des kabbalistischen Lebensbaumes basierte, und seine Synthese mit der westlichen Esoterik sollten bleibenden Einfluss auf Crowley behalten.

      Weil er anscheinend die „Verborgene Kirche des Heiligen Grals“ im GD nicht verkörpert fand, wandte sich Crowley gen Osten und entdeckte Yoga und den Buddhismus in Indien und Burma. Mystizismus als solcher hatte nicht auf dem Lehrplan des GD gestanden. Crowley gelangte zu der Erkenntnis, dass das Konzentrationstraining durch Yogaübungen eine nützliche Hilfe zu den zeremoniellen Methoden der Esoterik des Westens sein könne.

      Das, was Crowley als den Bruch mit seiner Vergangenheit beschrieb, ereignete sich 1904. Er praktizierte gerade zeremonialmagische Anrufungen mit seiner Frau, die (wie Crowley erzählt), plötzlich konstatierte,