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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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hebräischen und christlichen Quellen antiker Weisheit und den wirkmächtigen „ägyptischen“ Schriften des Hermes Trismegistos war gekennzeichnet durch das wohldurchdachte Zusammenspiel von Philosophie und Spiritualität mit magischen Praktiken.4 Diese Kombination aus Philosophie und Magie fand ihren Weg direkt in den führenden magischen Orden der viktorianischen Zeit, den Hermetic Order of the Golden Dawn, und wurde dort zu einer seiner Hauptattraktionen. Der in den späten 1880er Jahren gegründete Hermetic Order of the Golden Dawn stellte sich selbst – in mancherlei Hinsicht zu Recht – als direkte Verbindung zu den geheimen Überlieferungen der Vergangenheit dar. Auch wenn die Gründungsdokumente des Ordens ziemlich dubios sind und seine Hauptrituale zweifelsfrei aus der Feder viktorianischer Magier und Gelehrter stammen, gründeten seine Lehren auf einer originellen Aufarbeitung der hermetischen Schriften sowie auf dem ägyptologischen und anthropologischen Wissen der Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts. Der Name des Ordens sprach von der Erkenntnis einer rosenkreuzerischen Wiedergeburt, der Regeneration der alten, verdorbenen Welt und dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters spiritueller Erleuchtung – Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende weit verbreitet waren.

      Der Golden Dawn ist heute hauptsächlich als Quelle der Inspiration für den Dichter und Bühnenautor W. B. Yeats bekannt, doch seine vorwiegend gutbürgerlichen Anhänger zählten mehrere Hundert, darunter begnadete Künstler und Schriftsteller. Im Gegensatz zur Freimaurerei zu welcher der Golden Dawn gewisse Verbindungen hatte, waren auch Frauen als Mitglieder willkommen und stiegen in prominente Positionen auf. Der Orden war nach der Symbolik der Kabbala strukturiert und gliederte sich in Tempel, die nach einer strikt hierarchischen Ordnung geführt wurden.5 Einzelne Führungspersönlichkeiten verkörperten die Autorität, und die Initianden wurden rigoros und systematisch in den „verschmähten“ Wissenschaften der westlichen Esoterik unterwiesen. Sie studierten die Symbolik der Astrologie, der Alchemie und der Kabbala, wurden in die Geomantie und die Weissagung mit Tarot eingewiesen und lernten die Grundlagen magischer Techniken. Durch eine Reihe von Prüfungen erklomm ein Schüler die Grade des Ordens, doch die Aufnahme in den fortgeschrittenen Zweiten (oder Inneren) Orden war selektiv und galt eher als Privileg denn als Recht.6 Erst im Zweiten Orden erlangten die Anhänger Zugang zu den Geheimnissen der praktischen oder operativen Magie, d. h. der Magie als einzigartiger Unternehmung, durch welche unsichtbare Kräfte zum Zwecke der Herbeiführung einer spezifischen Veränderung beeinflusst und kontrolliert werden konnten. Die Ordensleiter nahmen diese praktische magische Arbeit sehr ernst, und die höheren Eingeweihten prüften jeden Schüler sehr genau darauf, ob er für ein solches Unterfangen geeignet war. Die britischen Rosenkreuzer waren – anders als ihre okkulten Kollegen in Frankreich – zumindest was die organisatorische Ebene betraf, stets auf Einhaltung der Standards und auf Seriosität bedacht.7

      Als Crowley 1898 als Frater Perdurabo (‚Ich werde ausharren bis zum Ende’) in den Hermetic Order of the Golden Dawn initiiert wurde, ging er, wie auch die anderen Anhänger, davon aus, dass er in eine Gesellschaft mit ungebrochener magischer Tradition eintrete. Überzeugt davon, die mystische Geheimbruderschaft gefunden zu haben, auf welche Hofrat Karl von Eckartshausen in seinem okkulten Klassiker Die Wolke über dem Heiligthum (1802; die englische Ausgabe The Cloud upon the Sanctuary erschien 1896 in London) Bezug genommen hatte, stürzte er sich mit Begeisterung in seine magischen Studien. In Cambridge studiert, hochintelligent und zu höchster Konzentration fähig, durchlief Crowley die Grade des Äußeren Ordens des Golden Dawn sehr schnell. Für die bürgerliche Profanität vieler seiner Miteingeweihten hatte er nur Verachtung übrig; die langsamen, pedantischen Methoden des Ordens riefen in ihm Ungeduld hervor, und er war erpicht darauf, Zugang zu den Geheimnissen des hochgeschätzten Zweiten Ordens zu erlangen. Seinem Ehrgeiz schoben jedoch führende Funktionäre des Ordens – allen voran W. B. Yeats –, die Crowleys wildes, unberechenbares Verhalten und seine fragwürdige Moral empörte, einen Riegel vor. Später wurde Crowley in einen heftigen Machtkampf innerhalb des Golden Dawn verwickelt, den er 1900 wieder verließ. Mit neuen Lehrmeistern bildete er sich weiter und gründete schließlich seinen eigenen Orden Astrum Argenteum (Silberner Stern). 1909 verstand er sich selbst als Meistermagier; er hatte großen Einblick in altes Weistum und war geschickt in den fortgeschrittenen Techniken der operativen Magie. In dieser Zeit als selbst ernannter „Meister“ warb er Victor Neuburg an, mit dem er die ersten sexualmagischen Experimente durchführte, die ihn später berüchtigt machen sollten.

      Das Experiment von 1909 in der Wüste war jedoch weder rein eigennützig, noch diente es dem bloßen Genuss exotischer und verbotener Sexualität. Was in der Wüste geschah, war das Ergebnis ernsthafter, wenn auch fehlgeleiteter Bestrebungen, Zugang zu einem jahrhundertealten magischen System zu erhalten und es zu erkunden, und es zeugte von einem intensiven persönlichen Einsatz bei der Beschäftigung mit magischem Wissen.

      In diesem Kapitel werde ich versuchen, die Bedeutung und den Stellenwert dieses magischen Wirkens sowohl für sich selbst als auch im breiteren kulturellen Kontext zu untersuchen. Im Besonderen beleuchtet dieses Kapitel eine wiederbelebte magische Tradition in Verbindung mit den um die Jahrhundertwende aufkommenden Neuformulierungen sexueller Identität und der zeitgenössischen Beschäftigung mit den Rätseln des menschlichen Seins und Bewusstseins, die sich in den konkurrierenden Vorstellungen vom Selbst offenbart. Bei der Positionierung der Diskussion in einen konzeptionellen Bezugsrahmen zum Begriff der Subjektivität setze ich in der Analyse auf eine besondere theoretische Formulierung des Selbstseins, welche die Eventualität unterstreicht. Das poststrukturalistische Konzept der Subjektivität deutet ein Selbst an, das stabil und instabil, erfassbar und unerfassbar, konstruiert und einzigartig gleichermaßen ist. Meine zentrale Aussage in diesem Kapitel richtet sich jedoch darauf, die fortgeschrittenen magischen Praktiken des Fin de Siècle als eine besondere, befangene Art der Beschäftigung mit dem Selbstsein zu verstehen, die die Grenzen eines einheitlichen Ich-Erlebens aufzeigt, von welchen die erfahrbare sexualisierte Identität abhängt.

       Nordafrika

      Als Aleister Crowley im November 1909 mit Victor Neuburg in Algerien ankam, legte er zweifellos das unverkennbare, subtil überlegene Verhalten eines englischen Gentlemans im Ausland an den Tag. Sein Auftreten der dort ansässigen französischen Obrigkeit gegenüber war von höflicher Verachtung gekennzeichnet, und Warnungen vor den Gefahren eines unbegleiteten Ausfluges in die Wüste schlug er in den Wind. Zuversichtlich und gelassen ging Crowley sofort daran, die nötigen Vorräte für die Reise zu besorgen. Er hatte Grundkenntnisse in der arabischen Sprache und verstand einiges von der moslemischen Kultur, doch war er besorgt, dass Neuburg mit seiner „Armesündermiene“ und seinem „irren Lachen“ seine Glaubwürdigkeit untergraben könnte. Laut Crowley wurde Neuburg deshalb der Kopf rasiert, bis auf zwei Büschel an den Schläfen, die „zu Hörnern hochgedreht“ wurden. Crowley kommentiert dieses zwar augenzwinkernd, doch bezeichnend dahingehend, dass sein Chela damit „in einen Dämon verwandelt wurde, den ich gezähmt und gelehrt hatte, mir als dienstbarer Geist zur Seite zu stehen. Dies steigerte mein Ansehen außerordentlich“.8 Die Sorge um sein Ansehen beschäftigte Crowley stets sehr, und hier glaubte er sich rechtfertigen zu sollen, dass es notwendig sei, um unbehelligt das abgelegene Wüstengelände bereisen zu können. Die Bezugnahme auf Geister und Dämonen zeigt jedoch, auch wenn sie hier scherzhaft gedacht war, wie vertraut Crowley der Umgang mit den magischen Wesenheiten, um die es ihm in seiner Funktion als der Magier Perdurabo ging, in seinem täglichen Leben gewesen ist.

      Gerade zwei Nächte hatten sie unter dem Himmel der Wüste verbracht, als Crowley die plötzliche Eingebung hatte, eine magische Unternehmung auffrischen zu müssen, die er neun Jahre zuvor in Mexiko begonnen hatte. Dies erforderte die Anwendung eines komplexen magischen Systems, das der angesehene elisabethanische Mathematiker und Astrologe John Dee mit seinem Hellseher Edward Kelley entwickelt hatten. Dee und Kelley waren sehr versiert in den Praktiken der Kabbala und experimentierten mit der Engelmagie des Renaissancemagiers und Universalgelehrten Henricus Cornelius Agrippa. Agrippa hatte ein System numerischer und alphabetischer Tafeln für die Herbeirufung von Engeln ausgearbeitet, das Dee und Kelley als Rahmen für ihre Arbeit verwendeten. John Dee nutzte Kelleys hellseherische Gabe, die diesen in die Lage versetzte, die vielen Reiche der geistigen Welt zu „bereisen“, um indirekt mit den Engeln in Kontakt zu treten und ihnen die Geheimnisse des Universums zu entlocken. Während ihrer ausgedehnten