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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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       „Es war wie bei Jekyll und Hyde …“

      Für Crowley waren Selbst, Ego und Seele zusammenhängende, wenn nicht gar gleichbedeutende Begriffe. Über das „Opfer“ auf dem Berg Da’leh Addin konnte er sagen, das jedes kleinste Teilchen seiner „Persönlichkeit“ verzehrt wurde; an anderer Stelle spricht er von der „Entwerdung des Selbst in Pan“. Ähnlich schreibt er von dem entscheidenden Moment in der Wüste, „wenn es nötig wird, unter dem Schattenspiel zum verborgenen Heiligtum der Seele vorzudringen“, und dass sich im selben Moment „das Ego allein findet, demaskiert, nur seiner selbst und keiner anderen Dinge bewusst“.45 Eine präzise Ontologie der menschlichen Identität zu liefern, war niemals Crowleys Anliegen, und wenn er auf das Wesen des Seins anspielte, schöpfte er aus verschiedenen metaphysischen Quellen. Crowleys Kommentare deuten jedoch darauf hin, dass er sein erfahrungsbezogenes Selbstempfinden sowohl auf einem esoterischen als auch auf einem liberal-humanistischen Verständnis von einem einzigartigen, individuellen Wesenskern gründete. Er verstand eine Menge von dem „Schattenspiel“ der Selbstdarstellung, für die der Mann Aleister Crowley ein anschauliches Beispiel war, doch hegte er eine Vorstellung von einem „verborgenen Heiligtum der Seele“ als einer Art okkultem Schrein des ultimativen „Selbst“. Der „entscheidende Moment in der Wüste“ weist auf ein Abstreifen der Schichten der „Persönlichkeit“ – eine essentielle Vorbereitung auf die Enthüllung dieses endgültigen „Selbst“.

      Crowley war ein Mann, der alles über Masken wusste. Er hatte Freude daran, mit Identitäten zu spielen. In Cambridge wurde aus ihm ein leidenschaftlicher Jakobit, der seinen Namen von Alexander zu Aleister (einer Falschbuchstabierung dessen gälischen Äquivalents) änderte, und danach in die Rolle des unechten Lord Boleskine schlüpfte, eines Gutsbesitzers aus dem Hochland. Kurz nach seiner Initiation in den Golden Dawn nahm er sich unter dem Namen Vladimir Svareff eine Wohnung in London und genoss es, als junger russischer Edelmann aufzutreten. 1904 beschloss Crowley in Kairo, sich als persischer Prinz auszugeben, und wurde zu Prinz Chioa Khan. Während Crowley diese Experimente als Spaß und Abenteuer unternahm, wirkte sich darin zweifellos eine gewisse Unruhe aus, die mit seiner Haltung zu der ihm vorgegebenen Position im Leben zu tun hatte. Zwar sicherten Crowleys Wohlstand und seine Ausbildung ihm eine gesellschaftliche Stellung, doch sein streng puritanischer Hintergrund und die kaufmännische Familientradition waren weit entfernt von seinen romantischen Phantasien von aristokratischer Abkunft und Lebensart. Crowley wollte etwas anderes sein als der Sohn eines Bierbrauers.46

      Diese angenommenen Identitäten waren jedoch nie mehr als die Phantastereien eines reichen Mannes. Es gibt z. B. keine Anhaltspunkte, dass Crowley je so als Chioa Khan gelebt hätte, wie Richard Burton und T. E. Lawrence als Araber gelebt haben. Tatsächlich war das niemals seine Absicht. Crowleys Imitation eines persischen Prinzen war nur eine Möglichkeit zu exotischer Selbstdarstellung, eine Gelegenheit, sich in prächtige Seidengewänder zu kleiden und durch Kairos Straßen zu schlendern. Es gibt keine Darstellungen, nach denen sich Crowley als traumatisch „gespalten“ empfand. Er war nicht wie Burton ständig davon überzeugt, zwei Männer zu sein, und er teilte auch nicht Lawrence’ schmerzhaftes Gewahrsein einer psychischen Störung, in welcher er buchstäblich die Dislokation verkörperte, die in theoretischen Diskussionen über Verkleidungen identifiziert wurde.47 Crowleys Annahme verschiedener Identitäten war, wie er freimütig einräumte, bloße Schauspielerei. Er empfand seine vielfältigen Rollen nicht als „Selbste“.

      Anders sah es mit seiner magischen Identität aus. Crowley war Perdurabo, und als Meistermagier reiste er durch die zeitlosen Aethyre eines Magus des sechzehnten Jahrhunderts. Das magische Selbst war in einem spezifischen Sinne Teil von Crowleys Vorstellung von Identität. Seit seiner Initiation in den Golden Dawn gewann Crowley, wie die anderen Eingeweihten, ein Verständnis von Magie als komplexe Wechselbeziehung zwischen der Person des Magiers und der Anwendung des magischen Willens. Um 1900 experimentierte er mit der bewussten Bewegung zwischen zwei eigenständigen Selbsten und perfektionierte eine Praxis, die zu einem großen Teil Robert Louis Stevenson geschuldet ist:

      Als Mitglied des Zweiten Ordens [des Golden Dawn] trug ich ein bestimmtes, juwelenbesetztes Goldornament über meinem Herzen. Ich nahm mir vor, dass ich, wenn ich es trüge, keinen Gedanken, kein Wort und keine Handlung zulassen würde, außer solchen, die meine magischen Bestrebungen direkt betrafen. Wenn ich es ablegte, erlaubte ich mir hingegen letztere Dinge nicht; ich würde zutiefst uneingeweiht sein. Es war wie bei Jekyll und Hyde, nur, dass die beiden Persönlichkeiten einander ausglichen und ergänzten.48

      Crowleys Bezugnahme auf Stevensons Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde [Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde] ist aufschlussreich. Dieser sehr populäre Roman aus dem Jahre 1886 handelt von einem angesehenen Arzt, der sein besonderes Wissen dazu nutzt, ein zweites Selbst zu schaffen, das sich mittels eines erschreckenden Transformationsprozesses in seinem Körper manifestiert. Der abscheuliche Mr. Hyde – „die Bestie Hyde“ – ist die sprichwörtliche Verkörperung all dessen, was sein Schöpfer nicht ist; er ist die Schattenseite des spätviktorianischen bürgerlichen Mannes. Hyde versteht nichts von vernünftiger Selbstdisziplin und gibt sich freimütig seinem Verlangen nach nicht näher bezeichneten „heimlichen Gelüsten“ hin. Dass Hydes nächtliche Eskapaden sowohl sexueller als auch gewalttätiger Natur sind, wird in der sensationellen Bühnenfassung deutlich, die im August 1888 in London uraufgeführt wurde. In W. T. Steads Pall Mall Gazette wurde das Theaterstück mit den grausamen Morden Jack the Rippers in Verbindung gebracht, der in jenem Herbst im Londoner East End fünf Prostituierte umgebracht hatte. Der darauf folgende Skandal eskalierte dermaßen, dass die Aufführungen schließlich eingestellt werden mussten.49

      In Dr. Jekyll and Mr. Hyde werden spezifische, die bürgerliche Männlichkeit betreffende Ängste artikuliert. Um die 1880er Jahre herum hatte das konventionelle Bild vom zurückhaltenden, disziplinierten und gottesfürchtigen Gentleman als Inbegriff des respektablen männlichen Mittelklassebürgers einige tiefe Risse bekommen. Die spätviktorianischen Sorgen über Prostitution, Pornographie, Geschlechtskrankheiten, das moralische Wohl der Kinder und die Sicherheit ehrbarer Frauen auf städtischen Straßen konzentrierten sich in einer Reihe öffentlicher Kampagnen, die die männliche Sexualität als rücksichtslos und gefährlich darstellten.50 Gemäß der Rhetorik dieser Kampagnen gaben verheiratete wie alleinstehende Männer gleichermaßen Anlass zur Besorgnis. Tatsächlich wuchs, obwohl das Ehebett und die angeblich erlösenden Qualitäten reiner viktorianischer Weiblichkeit üblicherweise als Bollwerk gegen die männliche Lasterhaftigkeit betrachtet wurden, der Gedanke, dass die Ehe lediglich eine lizenzierte Form der sexuellen Ausbeutung von Frauen war. Eine undifferenzierte „männliche Lust“ wurde für die scheinbar endemische Verbreitung des „Lasters“ verantwortlich gemacht, und Gemeinschaften der Sittlichkeitsbewegung und der Wachsamkeitskomitees machten im ganzen Land zur Bekämpfung dieser Einflüsse mobil. Obwohl Stevenson jegliche indirekte Bezugnahme auf Sexualität in seinem Roman von sich wies, wurde die männliche Welt, die er darin beschrieb, von weiten Kreisen als das Milieu einer bildlichen Darstellung des minderwertigen Hyde betrachtet, der in Jedermann steckt – des abscheulichen und mörderischen Lüstlings, der unter der Oberfläche urbaner Höflichkeit schlummert. Die Aufführung von 1888 machte das Ziel der Gelüste des Schurken deutlich.

      „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ beschäftigt sich jedoch ebenfalls zentral mit der Vorstellung von einem gespaltenen Selbst und ist gleichermaßen eine Wiederaufnahme des Begriffs der gespaltenen Persönlichkeit, der die um die Jahrhundertwende verbreitete Faszination für Dualität, Zersplitterung und Verfall ansprach. Im Roman kann Dr. Jekyll von seinem anderen Selbst, seinem „Teufel“, nur in der dritten Person – der „Er-Form“ – sprechen („Er, sage ich – ich kann nicht Ich sagen“), während der Trank, der die Macht hat, einen Jekyll in einen Hyde zu verwandeln, einen Überfall auf die „wahre Festung der Identität“ repräsentiert.51 Die in dem Roman mitschwingende Infragestellung des Konzepts eines einheitlichen Selbst als einziger Quelle der Identität fand ihren Widerhall auch andernorts, als das Jahrhundert seinem Ende entgegen ging, was in den zeitgenössischen Diskussionen über den menschlichen Geist wahrscheinlich besonders ausgeprägt war. Tatsächlich gibt es einige Hinweise, dass Stevenson mit den Entwicklungen der Psychologie in Europa vertraut gewesen