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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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und des Bewusstseins sowie an den Verbindungen zwischen Geist, Körper und sexueller Perversion verbreitete sich in der spätviktorianischen Zeit explosionsartig, was sich in vielen Neuerungen auf dem relativ neuen Feld der medizinischen Psychologie, in der Pionierarbeit von Sexualforschern und der Gründung der Society for Psychical Research in London niederschlug.53 In Frankreich wagte der renommierte Neurologe Jean-Martin Charcot kühne Interpretationen der körperlichen Manifestationen psychischer Zustände, während Sigmund Freud, der in den 1880er Jahren mit Charcot zusammenarbeitete, versuchte, die zwangsläufige Verbindung zwischen physischer Ursache und psychischer Auswirkung zu durchtrennen. Die Society for Psychical Research, die sich vieler führender internationaler medizinischer Psychologen unter ihren Mitgliedern rühmte, verfolgte diese Debatten und partizipierte daran mit dem Bestreben, das Wesen numinaler Erfahrung und psychischer Phänomene (im Sinne von übernatürlichen und paranormalen Erscheinungen) vollständiger zu begreifen.54 Was diese verschiedenen Annäherungen und Programme verband, war der einvernehmliche Einsatz für ein klareres Verständnis der Vielschichtigkeit emotionaler und psychischer Erfahrungen.

      Eine wachsende Aufmerksamkeit wurde auf das Rätsel unerklärlicher körperlicher Symptome gelenkt, wie Hysterie, gespaltene und multiple Persönlichkeiten und veränderte Bewusstseinszustände. Zur selben Zeit galten bisher bewährte Erklärungsmodelle, nach denen ein einziges, stabiles Bewusstsein die Wurzel allen menschlichen Verhaltens sei, plötzlich als veraltet und nicht mehr stimmig. Das Haus des Geistes, so schien es, bestand aus mehreren Räumen – einige davon waren dunkel, unterirdisch und schwer zu betreten. Der menschliche Geist offenbarte sich als ein Labyrinth, von dem nur einige Teile der bewussten Selbstkontrolle zugänglich waren. Diese Interpretation deutet an, dass die Psyche eher als geteilt und fragmentiert zu verstehen ist denn als einheitliche Ganzheit. Extreme Verfechter dieser These gingen davon aus, dass der Geist – als Sitz der bewussten Identität – sich in einem dauerhaften Zustand der Anomie befindet. Ob beabsichtigt oder nicht: diese neuen Forschungsgebiete implizierten einen Angriff auf die Integrität des vernünftigen, selbstbestimmten Individuums.

      Die Gründung des Order of the Golden Dawn fiel mit diesen zeitgenössischen Entwicklungen zusammen; ich würde sogar sagen, sie sprach diese direkt an. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Astralreisen oder fortgeschrittene magische Praktiken, mittels derer die Adepten lernten, ein zweites magisches Selbst zu entwickeln, um ausgedehnte Ausflüge in Welten zu unternehmen, die gleichzeitig sowohl als innerlich wie auch als äußerlich konzipiert waren, im Zentrum der Blütezeit des okkulten Wiederauflebens standen. Doch während man diese Übungen als bemerkenswerte und anhaltende Erkundungen der Psyche interpretieren kann, war den Magiern des späten neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts nicht an der Theoretisierung des Geistes gelegen. Sie waren von magischen Unternehmungen besessen, und ihre Auffassung dieses Unterfangens drückte sich in den entsprechenden Begriffen aus. Magiern war sicherlich bewusst, dass die Anwendung magischen Wissens und magischer Kräfte auch das innere Reisen beinhaltet, doch sprachen sie nicht von der Psyche, sondern von „Aethyren“ und „Ebenen“. Die magische Praxis diente dazu, diese Ebenen zu verstehen und Kontrolle über sie zu erlangen, und die Adepten grübelten nicht übermäßig darüber nach, ob solche Reiche über eine objektive oder subjektive Existenz verfügten oder nicht. Was zählte, war, dass die magische Erfahrung mit anderen Magiern geteilt und von diesen verifiziert werden konnte, und die Authentizität wurde nach dem Erfolg der gewünschten Ergebnisse bewertet. Die unbedingte Realität der Erlebnisse wurde angenommen, ohne sie zu hinterfragen.

      Das Bestreben der magischen Praxis lag darin, ein macht- und wirkungsvolles zweites Selbst zu erschaffen, das die Sphären jenseits der bewussten Wahrnehmung erkunden würde. Dieses zweite Selbst war jedoch keine getrennte Persönlichkeit, wie etwa bei einem spiritistischen Medium oder bei psychischen Störungen. Als Crowley andeutete, dass die Existenz seiner beiden Persönlichkeiten, der eingeweihten und der „nicht eingeweihten“, dem gespaltenen Selbst des Dr. Jekyll ähnele, bestätigte er damit einfach den Bezug des Romanthemas zur magischen Praxis. Der Hauptunterschied zwischen ihm selbst und Dr. Jekyll bestand in der Tatsache, dass Crowleys „zwei Persönlichkeiten an sich ausgeglichen und in sich abgeschlossen [waren]“. Crowley hätte wohl auch gesagt, dass Perdurabo kein Monster war. Er war ein in die Magie eingeweihtes Selbst und repräsentierte in keiner Weise eine persönliche Identitätskrise. Der Punkt ist, dass ein erfahrener Magier durch eine ritualisierte Abfolge von Praktiken die eingeweihte Persönlichkeit unter Kontrolle hat; er (oder sie) kann nach Wunsch darauf zugreifen und sie mit dem weltlichen Selbst in perfektem Gleichgewicht halten. Für den wahren Adepten gibt es kein Verwischen der Grenzen. Im magischen Sinne bestätigte Crowley nicht nur ein Selbst, sondern viele (über die Zeit gesehen). Und aufgrund seiner magischen Übung erlebte er diese nicht als problematische Spaltung: „Es war wie bei Jekyll und Hyde, doch mit beiden Persönlichkeiten ausgeglichen und in sich abgeschlossen“.

      Nachdem das neue Jahrhundert begonnen hatte, fing Crowley an, das begriffliche Wörterbuch der Magie um Erkenntnisse aus der Erforschung des Geistes zu erweitern. Es erscheint wahrscheinlich, dass Crowley Freud um 1914 entdeckt hatte, zur selben Zeit, als er auch „The Soul of the Desert“ schrieb, worin er sich – wie wir gesehen haben – auf die Demaskierung des „Ego“ bezieht. Auch wenn dies noch kein schlüssiger Beweis ist, dass er das „Ego“ streng im Freud’schen Sinne betrachtete – der Begriff wurde zwar in Übersetzungen Freuds übernommen, doch wurde er fast ein Jahrhundert lang auch verwendet, um das bewusste Subjekt zu bezeichnen und war unter Okkultisten allgemein bekannt –, machten Freuds Thesen um 1914 durchaus schon seit einigen Jahren die Runde. Auf alle Fälle fasst Crowley das Ego in „The Soul of the Desert“ klar erkennbar als das „Ich“ auf, das im Namen Aleister Crowleys spricht und behauptet, dass dieses „Ich“ die Spitze des Eisberges sei. In den 1920ern gebrauchte Crowley Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse und erkannte an, dass die Freud’sche Theorie die Bestätigung für einige entscheidende Erkenntnisse aus der magischen Praxis bietet. Für Crowley und andere, ähnlich denkende, Magier untergrub die Psychoanalyse die Glaubwürdigkeit magischen Wirkens keineswegs. Sie präsentiert lediglich einen anderen Bericht über den heldenhaften Reisenden und über die Landschaft, die er oder sie bereist.55 Crowley machte zwar deutlich, dass er Freuds Theorien von der Beziehung des Bewussten mit dem Unbewussten zustimmte, doch hob er hervor, dass Freud erst etwas spät zu seinen Schlussfolgerungen gekommen sei. Nach Crowleys Verständnis artikulierte der Vater der Psychoanalyse lediglich das, was Magier bereits seit Jahrhunderten gewusst hatten.56

       Die Linie im Sand auslöschen

      Es war eher die magische Praxis denn die psychoanalytische Theorie, die Crowley zeigte, dass die scheinbare Kohärenz menschlichen Selbstseins eine Illusion ist. Obwohl Crowley an der Vorstellung eines verborgenen, essentiellen „Selbst“, eines einzigartigen Wesenskerns im Herzen des Menschen, festhielt, lehrte ihn die Magie, dass das „Ich“ des Aleister Crowley nur ein mögliches Selbst unter vielen war. Die furchtbarste Lektion, die Crowley zu lernen hatte und die er in der Wüste lernte, war jedoch, dass es genau dieses „Ich“ ist – das einem dem Anschein nach seinen Platz in der weltlichen Ordnung sichert –, das seine Auflösung in den Qualen des Abyssus durchlaufen muss. Crowley begriff den Abyssus als eine große Kluft zwischen der „verständlichen Intuition“ und dem „Intellekt“. Andere Kommentatoren betrachteten den Abyssus als „eine imaginäre Kluft“ zwischen dem Realen und dem Idealen, oder als „die Kluft zwischen individuellem und kosmischem Bewusstsein“.57 Wie bei jeder magischen Praxis kann der Abyssus aber auch eine plastische Repräsentation seiner angenommenen Eigenschaften in physischer Form manifestieren. Doch ob man ihn nun symbolisch oder wörtlich begreift: die Überschreitung des Abyssus beinhaltet in jedem Fall die endgültige und unwiderrufliche Aufgabe des „Ich“ und des damit einhergehenden Anspruchs einer Alleinherrschaft des Rationalen.

      Die Konfrontation mit dem Abyssus und seinem dämonischen Wächter Choronzon wird von einer mentalen Krise eingeleitet, einem „schrecklichen Höhepunkt des Geistes“; um den Abyssus zu überschreiten, „muss man gänzlich und für immer all das aufgeben, was man hat und ist“. Was Crowley erkannte, bezeichnen Mystiker als „die völlige Hingabe des Selbst an Gott“ – den mystischen Tod als Voraussetzung für die mystische Vereinigung; in weltlichen Begriffen ausgedrückt,