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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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bekam, gewissenhaft auf. Auf diese Weise stellte Dee nach und nach eine ganze Kosmologie von Engeln und Dämonen auf und umriss dreißig Aethyre bzw. Reiche jenseitiger Existenz.9

      Crowley waren Dees Forschungen bekannt, weil sie Bestandteil der Lehren des Golden Dawn waren. Obwohl ihm der Zugang zum Zweiten Orden verwehrt war, hatte Crowley mit anderen Adepten des Ordens studiert, vor allem mit Allan Bennett, der nur einen Rang unter dem höchsten Ordensmitglied stand. Doch während sich die Eingeweihten daran machten, Dees so genanntes Henochisches System wissenschaftlich zu untersuchen, war Crowley bereit, seine Wirksamkeit zu erproben. Er war bereits ausgebildet darin, das zu erkunden, was der Golden Dawn als Astrallicht bezeichnete – einzelne nichtphysische Ebenen oder Existenzordnungen, die sich mit der Welt irdischer Wahrnehmungen gegenseitig durchdringen.10 Er betrachtete sich selbst als einen Meister der Astralreisen und war dabei, Neuburg die dazu erforderlichen Techniken und Vorgehensweisen beizubringen. Dieses beinhaltete die absolute Vertrautheit mit der okkulten Symbolik, die für das sichere Reisen in astralen Reichen so entscheidend ist. Tatsächlich räumten Magier potenzielle Gefahren bei Astralreisen ein, wenn es sich dabei auch um innere Reisen handelt, die aus der Begrenzung des physischen Körpers heraus unternommen werden. Novizen wie Victor Neuburg kehrten erschöpft von ihren Ausflügen zurück, doch war Crowley kein Novize. Kenntnisreich und im astralen Reisen bewandert, mit den Mitteln der astralen Verteidigung und des Angriffs vertraut und ein Kenner der geistigen Welt, glaubte Crowley, dass er für eine Reise durch John Dees Aethyre bereit sei.

      Crowleys Methode war einfach: er würde sich einen abgelegenen Ort suchen und dort die passende Anrufung – die rituelle Beschwörungsformel, die ihm Zugang zum jeweiligen Aethyr verschaffen würde – rezitieren. Nachdem er sich vergewissert hätte, dass die angerufenen Kräfte anwesend seien, würde Crowley seinen magischen „Schaustein“, einen großen Goldtopas, aufnehmen und damit seine Visionen erschauen, wie Kelley es schon Jahrhunderte zuvor getan hatte. Der Topas „spielte eine ähnliche Rolle wie der Spiegel bei Alice hinter den Spiegeln“.11 Indem er die jeweilige Anrufung durchführte und sich auf den Topas konzentrierte, konnte Crowley den Aethyr betreten. Ihm war bewusst, was das bedeutete: „Wenn ich sage, dass ich in einem Aethyr gewesen bin, dann meine ich damit einfach, dass ich in den Merkmalen seiner Beschaffenheit und dessen, was sein Wesen ausmacht, gewesen bin“.12 Mit anderen Worten: Crowley hatte erkannt, dass diese Erfahrungen den Astralreisen gleichen, da sie sich innerhalb des eigenen Geistes abspielen. Wenn er den Aethyr betritt, würde er seine Erlebnisse Neuburg mitteilen, der sie niederschreiben würde. Erwähnenswert ist, dass Crowley – wie üblich – das Procedere seinen eigenen Vorstellungen angepasst hat. Anders als Dee würde er, der Meistermagier, sein eigener Seher sein. Neuburg, dessen hellsichtige Begabung Crowley durchaus erkannt hatte, war der Sekretär.

      Auf dem Weg der beiden Männer durch die Wüste geriet Crowley zunehmend in den Bann seiner Erfahrungen in John Dees Aethyren. Er begegnete sowohl schönen als auch schrecklichen himmlischen Wesen, die in einer prächtigen Symbolsprache von den Reichen erzählten, in denen sie wohnten. Crowley verstand viel von dieser Symbolik und begann zu erkennen, dass die Anrufungen dem Seher tatsächlich Zugang zu einem komplizierten und dennoch in sich schlüssigen und zusammenhängenden universellen System anderer Welten und Wesenheiten gewähren. Doch im weiteren Verlauf der Anrufungen bekam es Crowley zunehmend mit der Angst zu tun. Ihm war, als ob, so sagt er, eine Hand sein Herz festhalte, während eine flüsternde Stimme ihn in furchtbare und zauberische Worte hülle. In einer Umkehrung der Geschlechter, wie sie für viele seiner magischen Erlebnisse bezeichnend war, verrät Crowley, dass er begann, sich „ … nun ja, nicht direkt ängstlich zu fühlen; es war das feine Zittern einer Jungfrau vor dem Bräutigam“.13 Um sich gegen die zunehmend aufkommenden Angst- und Schreckensgefühle zu wappnen, rezitierte er Stellen aus dem Koran, während er durch die Wüste marschierte. Die endlos weiten, leeren Landstriche, die tägliche Hitze und die eisige nächtliche Kälte bewirkten im Zusammenspiel mit dem kontinuierlichen Anstimmen magischer und religiöser Formeln einen Zustand von nahezu überwältigender spiritueller Intensität.

      Gut zwei Wochen, nachdem sie in Algerien angekommen waren, erreichten Crowley und Neuburg Bou Saada. Diese entlegene Oase in der Wüste mit ihren Palmen, Gärten und Obstplantagen lag dort, wo die Wüstenstraße endete. Bou Saada erweckte den Eindruck, eine der letzten Verbindungen zur Zivilisation zu sein. In einiger Entfernung zur Stadt befand sich ein Berg, der Da’leh Addin. Hier vollzog Crowley eine Anrufung nach Anweisungen, die er aus früheren Gesprächen mit Engeln erhielt, und mit welcher er versuchte, in den vierzehnten Aethyr zu gelangen. Sein Versuch wurde jedoch vereitelt. Er begegnete einem „über und über prächtigen Engel“, der von Schwärze und „den Schreien von Bestien“ umgeben war. Der Engel sprach eine Warnung aus und wies den Magier zum Rückzug an. Erschrocken bereitete sich Crowley auf die Rückkehr nach Bou Saada vor. Noch während er dies tat, „kam plötzlich der Befehl, eine magische Zeremonie auf dem Gipfel“ des Berges abzuhalten. In welcher Form auch immer er diesen „Befehl“ empfing, fest steht, dass Crowley ihn als unbedingt wahrgenommen hatte. Er und Neuburg reagierten, indem sie aus losen Felsstücken einen großen Kreis aufbauten. Diesen besprachen sie mit magischen Worten der Kraft und „errichteten einen Altar“ in seiner Mitte, wo – in Crowleys Worten – folgendes geschah: „Ich opferte mich selbst. Das Feuer der allsehenden Sonne schlug auf den Altar herunter und verzehrte jedes Teilchen meiner Persönlichkeit“.14

      In nüchternen Worten ausgedrückt, war etwas anderes passiert: Crowley hatte in einem homosexuellen Ritual zu Ehren des Gottes Pan Geschlechtsverkehr mit Neuburg. Pan, der Ziegenbock-Mann, war für die beiden Männer von besonderer Bedeutung. Crowley verehrte ihn als den diabolischen Gott der Wollust und der Magie, und Neuburg verfügte über ein, wie Bekannte es beschrieben, elfisches und „faunartiges“ Aussehen.15 Wahrscheinlich war das, was auf dem Da’leh Addin geschah, eine klassische Beschwörung; der junge Chela hat wohl, in Übereinstimmung mit anerkannten magischen Methoden, den Gott Pan „herabgerufen“ oder beschworen. Eine erfolgreiche Beschwörung zeigt sich darin, dass der Neophyt von der Kraft der Gottheit „entflammt“, von ihr durchdrungen wird. Wenn es bei dem Ritual auf dem Berge so gewesen ist, dann würde sich Neuburg in jenem Moment in seiner magischen Funktion mit allem identifiziert haben, was der Bocks-Menschen-Gott repräsentiert. Einfach ausgedrückt, würde Neuburg mit seinen büscheligen „Hörnern“ zu Pan werden – dem „faunhaften“ und dennoch wilden Liebhaber aus Crowleys psychosexueller Welt. Auch wenn Crowley und Neuburg eine homosexuelle Beziehung hatten, war dies möglicherweise der erste magische homosexuelle Akt, den die beiden Männer vollzogen haben. Crowley gelangte schnell zu der Überzeugung, dass Sexualmagie ein unschlagbares Mittel war, um zu großer magischer Macht zu gelangen, und er wurde zu einem höchst erfinderischen Fachmann darin. Das Bild Pans sollte Neuburg für den Rest seines Lebens verfolgen. Es inspirierte ihn zu einigen seiner besten frühen Gedichte, doch später erfüllte es ihn mit Schrecken. Die Erfahrung war für beide Männer überwältigend, doch vorübergehend traumatisierte sie Crowley. Seine Zusammenfassung ist kurz: „Da war ein Tier in der Wildnis“, schreibt er, „doch das war nicht ich“.16

      An seine Rückkehr nach Bou Saada erinnerte sich Crowley nicht. Als er langsam wieder zu sich kam, wusste er jedoch, dass er nicht mehr derselbe war.

      Ich wusste, wer ich war, und erinnerte mich an alle Ereignisse meines Lebens; doch sah ich mich nicht mehr in ihrem Mittelpunkt … ich habe nicht existiert … Alle Dinge waren wie Schatten, die über die stille Oberfläche eines Sees streichen – ihr Bild hat keine Bedeutung für das Wasser, keine Macht, an seiner Stille zu rühren.17

      Crowley spürte, dass er zeremoniell den Abyssus überquert hatte – ein Begriff, der Anklänge an Nietzsche enthält (den Crowley überaus bewunderte), aber auch auf jene letzte schreckliche Reise hindeutet, die ein Magier unternehmen muss, bevor er berechtigt ist, Ansprüche auf die höchsten Einweihungsgrade zu erheben. Meister des Tempels zu sein – ein erleuchteter Einweihungsgrad, den in Crowleys eigenem magischen Orden nur jene erwerben konnten, die den Abyssus überquert hatten – bedeutete, sich von allem loszusagen, was das Leben ausmacht. Der Orden des Golden Dawn lehrte, dass diese Erkenntnis nicht diesseits des Todes zu erlangen sei, und Crowley bestätigte das auf seine Weise. Er lehrte, dass es nicht nur eines symbolischen Todes und einer Wiedergeburt bedürfe, um Meister des Tempels zu werden, sondern der Vernichtung des persönlichen Selbst.