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Aleister Crowley & die westliche Esoterik


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diese Sichtweise zu ändern. In der Sprache der Psychoanalyse, die Crowley sich später dennoch zueigen machte, lässt sich sagen, dass Choronzon zugleich eine Manifestation der dunklen, unterdrückten Seelenanteile ist. Nach dieser Deutung ist der große, widerständige Schrei Choronzons, „Ich bin Ich“, gleichermaßen des Magiers letzter Ausruf des Entsetzens und Schreckens, als er kopfüber in den Abyssus stürzt, und die aufkommende Stimme des unbekannten und unbegleiteten Unbewussten. Gekennzeichnet von Zusammenbruch, Zerstreuung und Chaos – Eigenschaften, die wir auch in der zersplitternden Erfahrung der Moderne wieder finden – ist der Abyssus sowohl symbolisch als auch real. Er steht sinnbildlich für den Zusammenbruch – den Zusammenbruch des persönlichen Selbstgefühls, wie es sich im Ego manifestiert, für die Abkopplung des Körpers vom „Ich“ und die Auflösung des Alltagsbewusstseins. Er markiert die formelle Auslöschung der Grenze zwischen dem Bewussten und den Unbewussten, eine Auslöschung, die der künftige Magus absichtlich heraufbeschwören muss. Die erfolgreiche Überwindung des Abyssus ist die ultimative Prüfung hoher Einweihung. Der Magus ist jemand, der in der Lage ist, eine harmonische Beziehung mit dem Unbewussten einzugehen und damit „Wandel im Einklang mit dem Willen“ herbeizuführen.59

      Der Magier, dem die Überschreitung des Abyssus gelingt, ist ein Eingeweihter, der vollständige Kontrolle erlangt hat, so dass er sich dem Zerfall seiner Persönlichkeit preisgeben und sich von allem Wissen vom und jeglicher Wahrnehmung des „Ich“ loslösen kann, während er die Kraft und Autorität des magischen Selbst und des magischen Willens behält und behauptet. Der Adept, der aus dieser Erfahrung unbeschadet hervorgeht, hat den entfesselten Furien des Unbewussten gegenübergestanden und sie in sich aufgenommen, nicht mittels der Patrouillenmanöver des kurzsichtigen Ego, sondern durch eine unendlich klarsichtige und allgewaltige magische, vom persönlichen Selbst losgelöste Persönlichkeit. So gesehen, ist der Magus ein magischer Eingeweihter, der einen flüchtigen Blick auf die vollständigen Verwicklungen seiner Subjektivität erhascht hat. Für immer verloren ist das begrenzende und begrenzte Verständnis vom „Ich“ als endlichem Mittelpunkt seines Universums. Er hat das Unbewusste betreten und erkennt die Durchlässigkeit seiner Grenzen. In Crowleys Fall hatte er für sich selbst erfahren, dass Choronzon fähig war, die Linie im Sand auszulöschen.

      Crowleys Bericht von den Ereignissen in der Wüste ist in der unmittelbaren Sprache des Realismus geschrieben. Er macht aus seinen Erlebnissen keine psychoanalytische Interpretation. Crowley behandelt die Episode als magische Unternehmung und präsentiert sie als klaren Beweis dafür, dass er das erleuchtete Bewusstsein erlangt hat. Das erste Erlebnis erhöhter Wahrnehmung empfand er nach dem Opfer auf dem Da’leh Addin: „Ich wusste, wer ich war … [aber] ich existierte nicht“. Mit anderen Worten verstand Crowley, dass dieses „Ich“ nur eine bequeme Fiktion war, um einen Aspekt der Realität zu erfassen. Nach seiner Konfrontation mit Choronzon nahm Crowley an, dass er die Erkenntnisse des wahren Magus, des Meisters des Tempels, erlangt hatte:

      Ich begriff, dass das Leid keine Substanz hat; dass nur meine Ignoranz und mangelnde Intelligenz mich dazu gebracht hatten, an eine Existenz des Bösen zu glauben. Sobald ich meine Persönlichkeit zerstört und sobald ich mein Ego abgestreift hatte, für welches das Universum in der Tat eine fürchterliche und tödliche, mit allen Formen der Angst belastete Gewalt war, war dieses nur noch in Verbindung mit dieser Vorstellung vom „Ich“ der Fall; so lange „ich ich bin“, muss alles andere feindlich erscheinen.60

      Nachdem Crowley sein Ego „abgestreift“ hatte und nichts im Universum mehr als „fürchterliche und tödliche Gewalt“ empfinden konnte, war ihm jede neue Erfahrung höchst willkommen; zu differenzieren weigerte er sich. Die leichtsinnige Verantwortungslosigkeit und Amoralität seines späteren Gebarens ist Legende. Zunehmend integrierte er „abstoßende Rituale“ in seine magischen Praktiken, und in den 1920er Jahren hatte er seinen Ruf als „König der Verderbtheit“ und „Bösester Mann der Welt“ gefestigt – ein Ruf, der (fälschlicherweise) sogar eine Neigung zum Ritualmord einschloss.61

      Kritische Beobachter meinen, dass Crowley 1909 schließlich sein wahres Potential ausgeschöpft hätte und verrückt geworden sei. Aus magischer Sicht würde man dies als fehlgeschlagene Bezwingung des Dämons Choronzon und Erliegen dessen Fluches betrachten. Gewiss räumte Crowley ein, sich in der Folge seiner Erlebnisse von 1909 äußerst einsam und verloren gefühlt zu haben; auch im materiellen Sinne „ist es ständig schwieriger geworden, liquide zu bleiben“.62 Anscheinend fiel es Crowley mit der Zeit immer schwerer, zwischen dem erleuchteten magischen Selbst, das sich nach eigenem Ermessen Zugang zum Unterbewussten verschafft und keine Beschränkungen anerkennt, und dem Mann Aleister Crowley, der in der Welt funktionieren muss, zu unterscheiden. Um in der Welt zu zurechtzukommen, braucht man ein stabiles persönliches Identitätsgefühl, ein klar definiertes Ego – auch wenn dieses Ego nur als Teil einer unendlich komplexen Geschichte verstanden wird. Der Magus kann sich mit Leichtigkeit zwischen einem eingeweihten und einem „uneingeweihten“ Bewusstsein hin- und herbewegen, doch Crowleys Begegnung mit Choronzon führte zur Verwischung jener entscheidenden Linie zwischen dem magischen Selbst und dem diesseitigen „Ich“. Crowleys anschließendes Verhalten legt tatsächlich nahe, dass er den Abyssus nicht erfolgreich überschritten hat – dass er von unbewussten Kräften in den Griff genommen wurde, die er nicht mehr filtern, überwachen oder kontrollieren konnte. Statt zu einer allsehenden, harmonischen Verbindung mit dem Unbewussten zu finden und mit ihm zu arbeiten, um damit magische Ziele zu erreichen, wurde er nun vom Unbewussten kontrolliert und beherrscht.63

      Als selbsternannter Meister des Tempels fuhr Crowley damit fort, sich eine Methode für die systematische Zerstörung des Egos auszudenken, welches er als ein Hindernis für das magische Vorwärtskommen betrachtete. Während der 1920er Jahre wurden seine Anhänger in der berüchtigten Abtei von Thelema in Cefalù auf Sizilien streng bestraft, wenn sie das Wort „Ich“ gebrauchten.64 Crowleys Erkenntnis war solide, doch seine Methode war fehlerhaft. Er versuchte, den strukturellen Ablauf zu untergraben, der jeglichen Sinn hervorbringt, einschließlich des Gefühls eines einzigartigen, unverwechselbaren und geschlechtsspezifischen Selbst. Es kann kein „Ich“ ohne ein klares Verständnis dessen geben, was nicht „Ich“ ist, und wie Crowley es formulierte, „so lange ‚ich ich bin’, muss alles andere feindlich erscheinen“. Er verfolgte etwas, das man als Auslöschung des Unterschiedes bezeichnen mag, und eine solche Auslöschung ist, im Sinne einer Bewegung jenseits gegensätzlicher Dualitätsbegriffe – ich/​du, selbst/​anders, männlich/​weiblich – ein traditionelles Ziel des Okkultismus. Crowleys Bestreben war, eine Abkürzung zu einem der höchsten Ziele des Okkultismus zu finden: der Rückkehr zu einem verlorenen Eden der Ganzheit und Vollendung.

      Die Vorstellung, dass die Menschen ursprünglich als vollständige Wesen zweigeschlechtig waren, taucht in der okkulten und magischen Tradition immer wieder auf. Es gibt esoterische Lehren, die auf eine solche Rasse Bezug nehmen, die – wie Adam und Eva in der Bibel – vor dem tragischen Fall auf der Welt existierten. Die modernen magischen Schulen haben die okkulte Signifikanz der männlich-weiblichen Polarität erkannt, und die Suche nach seelischer Zweigeschlechtigkeit ist eine Deutung des alchemistischen Planes, die fortgeschrittene Mitglieder des Golden Dawn gewiss verstanden. Crowley wusste bestimmt um die okkulte Herkunft der Zweigeschlechtigkeit, die für ihn eine besondere magische Bedeutung gewann. 1904 empfing Crowley von einem Wesen, das er als seinen heiligen Schutzengel bezeichnete, eine Reihe von Lehren, die in dem Buch gipfelten, das er Liber Legis – The Book of the Law betitelte. Nach dem Inhalt dieser Botschaften stehe die Welt an der Schwelle eines neuen Zeitalters – des neuen Äons des Horus –, dessen Hauptmerkmal die Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen ist, wie es die doppelgeschlechtliche Gestalt des Horus repräsentiert. Obwohl Crowley diese Lehren zu jener Zeit von sich wies, sollten sie sich für seine anschließende magische Entwicklung von fundamentaler Bedeutung erweisen. Außerdem hatte das Vorstellungsbild von Horus noch einen breiteren kulturellen Stellenwert – einen, der Crowley merklich sympathisch war.

      Die zweigeschlechtige Gestalt, die in den okkulten Lehren eine so wichtige Rolle spielt, war zudem ein Symbol des Fin de Siècle. In den Werken Aubrey Beardsleys während der 1890er Jahre wird die Faszination dieser Zeit für geschlechtliche Ambiguität – und die Angst davor – festgehalten. Seine verstörenden Illustrationen für The Yellow Book und The Savoy wurden schnell zu Sinnbildern einer verdrehten