Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend


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eine Aus­s­tel­lung von fünf­zig und mehr sel­te­nen Tau­ben­ar­ten be­su­chen woll­te. Zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen wuss­te man dort nichts von ei­ner der­glei­chen Ver­an­stal­tung. Da zog er eine ge­druck­te An­zei­ge aus der Ta­sche her­aus, auf der in der Tat eine sol­che Aus­s­tel­lung an­ge­kün­digt und Fan­tas­ti­sches auf dem Ge­bie­te der Tau­ben­zucht ver­spro­chen wur­de. Es soll­ten da alle be­kann­ten und vie­le nie ge­se­he­ne Ras­sen sein: nicht nur Trom­mel-, Schlei­er-, Hau­ben- oder Perück­en­tau­ben, Pfau­en­tau­ben, Tümm­ler, Mö­w­chen und an­de­re, son­dern auch afri­ka­ni­sche und ost­asia­ti­sche Ar­ten, die man bis­her noch nicht in Eu­ro­pa ge­se­hen hat­te.

      Auch der Tau­ben­narr ist nicht im­mer nüch­tern ge­we­sen. Als ein Teil sei­ner Guts­ge­bäu­de und auch der mit den Tau­ben­schlä­gen ab­brann­te, hol­te man ihn aus dem Wirts­hau­se. Und als er vor dem bren­nen­den Ge­höft um­her­tau­mel­te und sei­ne Tau­ben teils flie­gend ent­ka­men, teils mit bren­nen­den Fe­dern in die Flam­men zu­rück oder tot auf die Erde schlu­gen, soll er nur im­mer em­pört ge­ru­fen ha­ben: »Nu da saht ersch, nu da saht ersch, wo mei­ne Tau­ba sein.«

      Mein Va­ter, der für die Ei­gen­art sei­ner Mit­menschen viel In­ter­es­se be­saß, war Zeu­ge die­ses Vor­gan­ges und er­zähl­te ihn oft so­wie auch die Fop­pe­rei mit der Tau­ben­aus­stel­lung.

      Nun über­kam mei­nen Bru­der Carl in ge­mil­der­ter Form eine ähn­li­che Tau­ben­lei­den­schaft. Er wünsch­te sich im­mer neue Sor­ten, die er auch nach und nach er­hielt, schließ­lich be­saß er auch in be­son­de­ren Kä­fi­gen Lach­tau­ben. Er hat­te die Be­sor­gung des großen Tau­ben­schla­ges un­ter sich, und ich habe ihm öf­ters da­bei ge­hol­fen. Er trieb eine re­gel­rech­te Be­wirt­schaf­tung, de­ren ma­te­ri­el­ler Er­trag ihm aus­drück­lich ge­währ­leis­tet wur­de. Eier sel­te­ner Sor­ten wur­den ver­kauft, Jun­ge ein­fa­cher Ras­sen des­glei­chen, wo etwa Kran­ken­sup­pen ver­langt wur­den. Wir stell­ten ver­wil­der­ten Kat­zen nach, die sich mit­un­ter an jun­gen Tie­ren ver­grif­fen. Ein be­son­de­res Ka­pi­tel der Tau­ben­zucht wa­ren die in an­de­re Schlä­ge Ver­irr­ten oder Ver­flo­ge­nen, die mein Bru­der oft nur nach Kämp­fen mit Bau­ern, Bau­ern­knech­ten und Bau­ern­wei­bern zu­rück­erobern konn­te, und Kla­gen über den Flur­scha­den, den Carls Tau­ben un­ter der Win­ter- und Früh­jahrs­saat wie ge­wöhn­lich an­rich­te­ten. Es wur­den so­gar, weil sich die Flü­ge im­mer ver­grö­ßer­ten, Be­schwer­den bei der Orts­be­hör­de ein­ge­reicht.

      Viel­fach habe ich mei­nen Bru­der be­glei­tet, wenn es galt, ver­flo­ge­ne Exem­pla­re zu­rück­zu­ho­len, und bei die­ser Ge­le­gen­heit die ent­fern­tes­ten Tei­le des Or­tes ken­nen­ge­lernt, über­haupt mei­nen Vor­stel­lungs­kreis be­deu­tend er­wei­tert. Spä­her und De­nun­zi­an­ten, be­freun­de­te Jun­gens, die sich in Carls Dienst stell­ten, be­rich­te­ten al­ler Au­gen­bli­cke, wie sie beim Bau­ern Tscher­sich in Weiß­stein, beim Mau­rer­meis­ter Schmidt im Flam­men­den Stern, im War­schau­er Hof, beim Guts­be­sit­zer Sound­so im Nie­der­dorf einen Moh­ren­kopf, einen Tümm­ler oder eine sons­ti­ge Sel­ten­heit aus sei­nem Schla­ge un­ter den ge­wöhn­li­chen Tau­ben er­kannt hät­ten. Dann brach Carl al­lein oder in mei­ner Ge­sell­schaft auf, um der Sa­che mit Span­nung nach­zu­spü­ren. Un­ser Be­gin­nen, das wir mit Vor­sicht und Um­sicht, öf­ters mit Schlei­chen, Hor­chen und Auf-der-Lau­er-Lie­gen durch­füh­ren muss­ten, hat­te sei­nen be­son­de­ren Reiz. Na­tur­haf­tes an In­stinkt wur­de auf­ge­ru­fen. Und schließ­lich war der Mut des of­fe­nen Her­vor­tre­tens nö­tig, der Mit­tei­lung un­ter den Au­gen des Bau­ern, dass ein frem­des Ei­gen­tum un­ter sei­ne Tau­ben ge­ra­ten sei. Be­stritt er es, was fast im­mer ge­sch­ah, so muss­te man in der meist im­mer hef­ti­ger wer­den­den Aus­ein­an­der­set­zung von Bit­te zu For­de­rung auf­stei­gen.

      Auch klei­ne Leu­te hiel­ten Tau­ben, so­gar die Be­woh­ner vom Deut­schen Haus, wie sich das Ar­men­asyl von Salz­brunn be­zeich­ne­te, und dort konn­ten wir oft nur noch an den blu­ti­gen Fe­dern das Schick­sal ei­ner Ver­flo­ge­nen fest­stel­len.

      In der Fa­mi­lie ent­stand eine üp­pi­ge Le­gen­den­bil­dung über die un­er­schro­cke­nen und sieg­haf­ten Rückerobe­rungs­zü­ge mei­nes Bru­ders Carl, die be­son­ders von Jo­han­na ge­pflegt wur­de, aber auch mei­nes Va­ters, ich glau­be be­frie­dig­tes, Ohr ge­wann.

      Mei­ne Mut­ter war gar nicht krie­ge­risch, sie sah von dem al­lem nur die Kehr­sei­te. »Wes­halb«, sag­te sie, »bin­den wir mit den En­kes an?« – Es wa­ren un­se­re nächs­ten Nach­barn im Haus Eli­sen­hof auf dem Kro­nen­berg. – »Wir ha­ben sie so schon oft ge­nug auf dem Hal­se. Der Säu­fer Ru­dolf, mit dem sich Carl we­gen ei­ner lum­pi­gen Tau­be ge­zankt hat, ver­gisst eine Krän­kung nicht. Carl soll sich in acht neh­men, dass nicht die Leu­te vom Deut­schen Haus ihm ein­mal im Dun­kel übel mit­spie­len! Der Bau­er De­muth hat ge­sagt: Ihr Jun­ge nimmt den Mund sehr voll« – sein Guts­hof war vom Gast­hof zur Kro­ne nur durch die Stra­ße ge­trennt –, »Ihr Jun­ge nimmt den Mund sehr voll, wir ha­ben nicht nö­tig, Tau­ben zu steh­len!«

      Die Tau­ben Carls mach­ten große Aus- und Um­flü­ge, de­nen wir gern mit den Au­gen nach­folg­ten, und nicht nur das, son­dern auch mit den Fü­ßen bei der er­wähn­ten Su­che nach Flücht­lin­gen. Ei­nen wei­te­ren Um­kreis des Dor­fes Salz­brunn ge­nau­er ken­nen­zu­ler­nen, war das die bes­te Ge­le­gen­heit. So ge­rie­ten wir nach Adels­bach, nach dem na­hen Kon­rad­stal, in die­ses und je­nes der Weiß­stei­ner Bau­ern­gü­ter, ge­rie­ten nach dem Aus­flugs­ort Wil­helms­höh, ja ein­mal bis in den so­ge­nann­ten Zips, ein lieb­li­ches Tal, das in den Fürs­ten­stei­ner Grund mün­de­te. In die­sen Grund blick­te von sei­ner fel­sich­ten Höhe das Schloss Fürs­ten­stein, wo zu­wei­len der Fürst re­si­dier­te, dem das Bad Salz­brunn ge­hör­te und von dem so viel als dem Fürs­ten schlecht­hin die Rede war.

      *

      Wenn das Tau­ben­in­ter­es­se mich mit Carl in Berüh­rung brach­te, eine Spiel­ge­mein­schaft hat­ten wir nicht. Er be­saß sei­nen ei­ge­nen Jun­gens­kreis, und ich weiß nicht, was sie ge­mein­sam trie­ben. Dass es Spie­le wa­ren, wie ich sie lieb­te, glau­be ich nicht. Wir ha­ben uns, scheint mir, in­stink­tiv von­ein­an­der fern­ge­hal­ten, wo­bei al­ler­dings der Un­ter­schied im Al­ter, es wa­ren vier Jah­re, was in der Ju­gend viel be­deu­tet, mit­ge­spro­chen hat.

      Schen­ken, nicht emp­fan­gen, war Carls höchs­ter Ge­nuss. Es moch­te da­bei schon da­mals ein Wer­ben um Men­schen­see­len mit­spie­len. Mut­ter be­kämpf­te ge­le­gent­lich sei­ne Frei­ge­big­keit, aber er hat­te eine schö­ne, ei­gen­wil­lig mo­ra­li­sche Art, ab­zu­weh­ren. Er mach­te auf alle, die ihn hör­ten, auch Va­ter und Mut­ter, Ein­druck da­mit.