Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend


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Den Ge­dan­ken, mei­ne Um­ge­bung, vor­an mei­ne El­tern, in Stau­nen zu ver­set­zen, kann ich ge­habt ha­ben, aber der ei­gent­lich ers­te Be­weg­grund war er nicht, viel­mehr woll­te sich, wie ich glau­be, ein noch dump­fer künst­le­ri­scher Trieb, der über­große Zie­le hat­te, vor­zei­tig Ge­nü­ge tun.

      Ich muss ei­ner klei­nen Un­bill ge­den­ken, die ich von mei­nem Va­ter er­fuhr, als ich wie­der ein­mal in sein Schreib­zim­mer kam und um schö­ne wei­ße Pa­pier­bo­gen bet­tel­te. Hin­ge­nom­men und grü­belnd über Ge­schäfts­bü­chern, gab er mir al­ler­dings das Ge­wünsch­te, aber als ich es aus Ver­se­hen fal­len ließ, mir dann auch der Blei­stift ent­fiel, weil ich ängst­lich und un­ru­hig wur­de, ward ich un­sanft beim Kra­gen ge­packt und mit ei­ni­gen Klap­sen hin­aus­ge­wor­fen.

      *

      Im großen gan­zen habe ich den Schau­platz mei­nes Le­bens im­mer ge­nau­er in mei­nen Geist träu­mend und me­di­tie­rend ein­ge­baut, ihn un­be­wusst-be­wusst, ich glau­be in ei­nem über­ra­schend schnel­len Tem­po, er­wei­tert. Die Him­mels­kup­pel mit Gott­va­ter wölb­te sich über mir, der drei­ei­ni­ge Olymp hat­te aber dar­in noch kei­ne Stät­te.

      Wo ist nun die­ser Olymp? Wie ist die re­li­gi­öse Welt über­haupt in mei­ne Träu­me und Me­di­ta­tio­nen ein­ge­drun­gen?

      Von den bei­den Schwes­tern mei­ner Mut­ter, Tan­te Au­gus­te und Tan­te Eli­sa­beth im Dachrö­dens­hof, ging ein welt­ver­nei­nen­des We­sen aus, et­was Kryp­ten­haf­tes von ih­ren Wohn­räu­men. War ich in ihre Nähe ge­ra­ten und über­haupt in den Dachrö­dens­hof, so riss es mich fast im­mer flucht­ar­tig in die Son­ne hin­aus. Tho­luck, Strach­witz, Tho­mas a Kem­pis und der Geist des Gra­fen von Zin­zen­dorf, die hier herrsch­ten, müs­sen eine Aura ver­brei­tet ha­ben, in der für mich nicht zu at­men war.

      Im Gast­hof zur Kro­ne, in­son­der­heit in der Fa­mi­lie, also bei uns, herrsch­te ein an­de­rer Geist. Kein Wort von ei­ner Ver­sto­ßung aus dem Pa­ra­dies, von Erb­sün­de oder Sün­de über­haupt, von dro­hen­dem Fe­ge­feu­er, nun gar ei­ner Höl­le, ging je aus dem Mun­de von Va­ter und Mut­ter her­vor. Es wa­ren nur we­sent­lich ir­di­sche Din­ge, mit de­nen sie sich ernst­haft ab­ga­ben.

      Da­bei war in mei­nem Va­ter, in mei­ner Mut­ter eine tie­fe Fröm­mig­keit. »Geh mit Gott!« oder »Mit Got­tes Hil­fe!« hieß es bei al­ler­lei Un­ter­neh­mun­gen, de­ren gu­ten Aus­gang man wünsch­te.

      Es blieb mei­ner Schwes­ter Jo­han­na vor­be­hal­ten, ihre rei­ne und gute Ab­sicht vor­aus­ge­setzt, mich mit dem Ge­dan­ken an Sün­de und Sün­den­schuld zu­nächst zu be­las­ten. Sie wand­te zum Bei­spiel den Aus­druck Lüge auf die meis­ten mei­ner hei­te­ren Fan­tas­te­rei­en an und be­haup­te­te dann, dass, wenn ich wirk­lich ge­lo­gen hät­te, mich der Blitz beim nächs­ten Ge­wit­ter er­schla­gen wür­de. Da­durch hat sie mir eine lang quä­len­de Ge­wit­ter­furcht ins Blut ge­bracht, denn dar­an, dass es ei­gen­wil­lig stra­fen­de Göt­ter ge­ben konn­te, zwei­fel­te ich als dä­mo­ni­scher Schöp­fer vie­ler Dä­mo­nen nicht.

      Als ich die Fül­le mei­ner Sün­den in mei­nem Ge­wis­sen un­end­lich ver­mehrt hat­te, trös­te­te mich Jo­han­na wie­der in mei­ner Ge­wis­sens­not, in­dem sie er­klär­te, dass Je­sus Chris­tus, Got­tes Sohn, so­fern man be­reue, alle Sün­den auf ein­mal ver­ge­be, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge im Ge­nuss des Abend­mahls.

      Durch den un­ver­ant­wort­li­chen, kin­disch-mut­wil­li­gen Er­zie­hungs­ver­such ei­ner kind­haf­ten Schwes­ter wur­de ich so in das kirch­li­che We­sen gleich­sam bei­läu­fig ein­ge­führt.

      Wenn man mich also ge­le­gent­lich in Grü­belei­en ver­sun­ken sah, konn­te es sein, dass ich gra­de mein Sün­den­re­gis­ter nach­prüf­te.

      Das Kind be­darf kei­nes Hei­lan­des, da­mit ihm Stei­ne zu Brot wer­den. Ihm wird auch ohne die Kö­nig Mi­das ge­währ­te Be­ga­bung al­les, was es an­fasst, zu Gold. Aber mein lei­den­schaft­li­ches Le­ben, mei­ne se­li­gen Ener­gi­en, in de­nen sich ein erns­ter Wer­de­pro­zess doch stets halb be­wusst mach­te, er­lit­ten durch sol­che Ein­grif­fe be­deut­sa­me Tr­übun­gen. Fort­an leb­te ich gleich­sam nur noch in ei­ner sor­gen­vol­len Glück­se­lig­keit.

      So, wie sie je­doch war, ent­sprach sie mir, und ich dach­te nicht an­ders, als dass sie mir durch das Le­ben treu blei­ben wür­de.

      Habe ich dar­in recht ge­habt?

      Nach sei­ner schwe­ren Krank­heit dem Le­ben wie­der­ge­won­nen, ge­noss mein Bru­der Carl eine lan­ge Zeit die Haupt­an­teil­nah­me der Fa­mi­lie. Auch den Dachrö­dens­hof – der Groß­va­ter leb­te noch – hat­te Carl längst durch sein ge­sel­lig-of­fe­nes, lern­freu­dig-be­gab­tes We­sen für sich ein­ge­nom­men. Er über­traf mich da­mals und im­mer hier­in.

      Ein Kin­der­ge­schicht­chen, das sich mit ihm im Dachrö­dens­hof zu­ge­tra­gen hat­te, wur­de wie­der und wie­der er­zählt. Der Groß­va­ter Straeh­ler, der wür­di­ge Brun­nen­in­spek­tor, hat­te sich mit Schlaf­rock und lan­ger Pfei­fe, um ihn zu amü­sie­ren, vor dem Drei­kä­se­hoch tan­zend in gan­zer Grö­ße her­um­ge­dreht, was die­ser mit küh­lem Phleg­ma be­ob­ach­te­te. Schließ­lich hat er mit den Wor­ten »Nee, ’s is doch ein ver­f­lisch­ter Kerl!« sei­ner Be­wun­de­rung Aus­druck ge­ge­ben, wo­mit er nach mund­art­li­cher Ge­pflo­gen­heit in ge­mil­der­ter Form einen ver­fluch­ten Kerl be­zeich­nen woll­te.

      Das küh­le Phleg­ma mei­nes Bru­ders ist frei­lich spä­ter in sein Ge­gen­teil um­ge­schla­gen.

      Eben­so wur­de im Fa­mi­li­en­ge­dächt­nis auf­be­wahrt, wie Carl dem Groß­va­ter ein Lied­chen zum Ge­burts­tag vor­tra­gen muss­te, das die Stel­le ent­hielt:

       Auf ei­ner Flur, wo fet­ter Klee

       und Gän­se­blüm­chen stand …

      und wie er sie un­ge­wollt ver­än­der­te:

       auf ei­ner Lur, wo Wet­ter­klee

       und Gän­se­liem­chen stand …

      und so zum Ver­gnü­gen des sieb­zig­jäh­ri­gen Ge­burts­tags­kin­des tap­fer ge­sun­gen hat­te.

      Um die Zeit aber nach Carls Wie­der­ge­ne­sung wur­den, be­son­ders von Jo­han­na, Hel­den­stücke über Hel­den­stücke von ihm er­zählt, die den Fa­mi­li­en­stolz aufs höchs­te stei­ger­ten. So soll­te er ei­nes un­se­rer Kutsch­p­fer­de, das er zur Schwem­me ge­rit­ten hat­te und das mit ihm durch­ge­gan­gen war, auf eine eben­so ge­wand­te wie to­des­mu­ti­ge Art und Wei­se zum Ste­hen ge­bracht ha­ben. Von oben habe er sei­nen Hals um­fasst und sich dann her­un­ter­ge­las­sen, bis er vor der Brust des Pfer­des hing, so­dass es beim bes­ten Wil­len nicht wei­ter­konn­te. Carl selbst hat nie von der Sa­che er­zählt, und man denkt nicht ohne un­will­kür­li­che Hei­ter­keit ei­ner Vor­stel­lungs­welt, die der­glei­chen für mög­lich hielt.

      Im­mer­hin hat­te Carl eine Lie­be zu Pfer­den, eine ge­wis­se Ge­wandt­heit mit ih­nen um­zu­ge­hen und auch Furcht­lo­sig­keit.

      Tau­ben und einen Tau­ben­schlag hat­te mein Bru­der nach sei­ner Wie­der­ge­ne­sung gleich­sam als Schmer­zens­geld von mei­nem Va­ter ge­schenkt er­hal­ten. Das Flug­loch