helfen, die gerade erst mit der Praxis begonnen haben, und andererseits erfahreneren Praktizierenden ermöglichen, ihr gegenwärtiges Verständnis der Praxis zu vertiefen. Es wird auch für Meditationslehrer ein nützliches Nachschlagewerk sein.
Das Buch ist in erster Linie praxisorientiert, denn Pema hat die Sicht der Kultivierung von Bodhichitta und die ihr zugrundeliegende Philosophie bereits in anderen Büchern diskutiert. Wer diese Sicht weiter erkunden will, der sollte Beginne, wo du bist lesen (vor allem die Kapitel eins bis sechs) und Geh an die Orte, die du fürchtest.
Für Menschen in den Anfangsgründen der Praxis sind Begriffe, die ihnen nicht vertraut sein könnten, beim ersten Auftauchen kursiviert und im Glossar erklärt.
Die Autorin geht davon aus, dass Menschen, die dieses Buch lesen, bereits mit der Praxis der sitzenden Meditation, dem „Sitzen“*, vertraut sind, die für den rechten Zugang zur Übung des Tonglen eine wesentliche Voraussetzung ist. Wer es nicht ist, der findet die grundlegende Technik in allen früheren Büchern Pemas beschrieben; allerdings wäre es besser, sie in persönlichem Kontakt mit einem Meditationslehrer zu erlernen. Tonglen ist ursprünglich eine buddhistische Praxis. Doch da es eine Übung ist, die uns in Kontakt bringt mit der Essenz unseres Menschseins – Liebende Güte und Mitgefühl–, kann im Grunde jedermann davon profitieren. Sie kann von Anhängern jeglicher religiösen Tradition ausgeübt werden, ebenso wie von Menschen, die es vorziehen, keinem religiösen Weg zu folgen.
* Wenn im Zusammenhang mit Meditation (und in diesem Buch) vom „Sitzen“ die Rede ist, so ist damit üblicherweise die formelle „Meditation im Sitzen“, die „sitzende Meditation“ oder „Sitzmeditation“ gemeint. (Anm. d. Übers.)
TONGLEN
Der tibetische Weg mit sich selbst und anderen Freundschaft zu schließen
Die Übung im Alltag besteht einfach darin, vollkommene Hingabe an und totale Offenheit für alle Situationen und Gefühle sowie für alle Menschen zu entwickeln – alles ganz und gar und rückhaltlos, ohne mentale Blockaden, auf eine Weise zu erfahren, bei der man sich niemals entzieht oder sich auf sich selbst zurückzieht.
Chögyam Trungpa Rinpoche
Tonglen im täglichen Leben
Alle fühlenden Wesen ohne Ausnahme besitzen Bodhichitta, also die angeborene Zartheit des Herzens, seine natürliche Neigung zu lieben und sich um andere zu kümmern. Um uns gegen die Erfahrung von Schmerz und Unbehagen abzuschirmen, haben wir jedoch im Laufe der Zeit massive Barrieren aufgebaut, die unsere Zartheit und Verletzlichkeit überdecken. Das führt dazu, dass wir oft der Entfremdung, Wut und Aggressivität anheimfallen und uns der Sinn des Lebens abhanden kommt – sowohl auf der individuellen als auch auf der globalen Ebene. Auf der ständigen Jagd nach dem Glück haben wir uns, ohne es zu beabsichtigen, nur noch größeres Leiden aufgeladen.
Tonglen, oder die Übung des Aussendens und Empfangens, kehrt diesen Prozess der Verhärtung und Abschottung um, indem es Liebe und Mitgefühl kultiviert. Statt vor Schmerz und Unbehagen davonzulaufen, nehmen wir sie in der Praxis des Tonglen voll und ganz zur Kenntnis und machen sie uns ganz zu eigen. Statt ständig auf unseren eigenen Problemen herumzureiten, versetzen wir uns in die Situation anderer Menschen und würdigen unsere gemeinsame Teilhabe am Menschsein. Dann beginnen die Barrieren zu schmelzen, und unser Herz und Geist fangen an, sich zu öffnen.
Bevor ich mich der formellen Tonglen-Praxis zuwende, möchte ich an einigen Beispielen aufzeigen, wie wir die Haltung des Tonglen in unser Alltagsleben integrieren können. Denn schließlich ist der entscheidende Punkt einzig und allein, wie wir unseren Alltag leben – ob wir es mit Maitrī* und Mitgefühl für uns selbst und für andere tun. Außerdem wird uns die formelle Praxis viel leichter fallen, wenn wir uns zuvor täglich in der allgemeinen Haltung des Tonglen geübt haben.
Trungpa Rinpoche empfahl seinen SchülerInnen immer, ihr Leben als ein Experiment anzusehen. Das sollte heißen: Seid neugierig, seid offen und ohne Erwartungen; dann seht zu, was geschieht, und lernt aus euren Erfahrungen. Aus diesem Grund schlage ich meinen SchülerInnen oft vor, sie sollten erst einmal einen begrenzten Zeitraum – sagen wir drei Monate oder ein Jahr – der Arbeit mit dem Tonglen-Ansatz widmen, um einfach herauszufinden, wie sich das auf ihr Leben auswirkt. Wir sollten allerdings nicht glauben, dass wir diese Praxis in einer derart kurzen Zeit meistern können. Im Grunde ist Tonglen eine Übung für den Rest unseres Lebens.
Sitzen als Grundlage
Ein guter Anfang für unsere Schulung in der Tonglen-Haltung ist es, wenn wir jeden Tag ein wenig Sitzen oder Samādhi vipassyana-„Einsichtsmeditation“ üben. Das ist ein Weg, uns über unseren gegenwärtigen Bewusstseinszustand klarzuwerden – so, als hielten wir uns selbst einen Spiegel vor. Insbesondere müssen wir Standhaftigkeit kultivieren, den Mut und die Geduld, einfach zu sitzen mit allem, was während der Meditation in uns aufsteigt. Ansonsten werfen uns die Emotionen, die das Tonglen hervorruft, nur allzu leicht von unserem Sitzkissen. Deshalb ist es immer angeraten, jede Tonglen-Übung mit Sitzen zu beginnen und abzuschließen. Auch wenn Sie gerade nicht auf dem Kissen sitzen oder sich in einer Meditationshalle befinden, können Sie mit der Übung von Achtsamkeit und Gewahrsein experimentieren.
Sie können diese Übung als ein Hilfsmittel benutzen, das Sie mit Ihrem Fühlen im gegenwärtigen Augenblick in Berührung bringt. Manchmal zum Beispiel, wenn ich allein bin oder mich in einer friedlichen Umgebung befinde – bei einem Spaziergang im Wald, während ich still aus dem Fenster meiner Hütte in die Ferne schaue oder auf einer Bank am Meer sitze –, lasse ich einfach ab von meinen Gedanken und versuche zu sehen, was darunter liegt.
Das ist in der Tat die Essenz der Achtsamkeitspraxis: immer wieder in die Unmittelbarkeit unserer gegenwärtigen Erfahrung zurückkehren und alles Nachdenken und Urteilen darüber loslassen. Wahrscheinlich werden Sie dann entdecken, dass da etwas übrig bleibt, wenn Sie all die Gedanken und Skripts haben fallen lassen. Was bleibt, ist die Unmittelbarkeit der Sinneswahrnehmungen – Sehen, Riechen, Tastsinn und so weiter – sowie ein Gefühl oder eine Stimmung.
So könnte das Gefühl unter Ihren Gedanken zum Beispiel eines von Selbsthass sein. Wenn Ihre Gedanken dann wieder hervorsprudeln, nehmen sie leicht die Form an von „schlecht, schlecht; gut, gut; du solltest, du darfst nicht“. Sobald Sie merken, dass Sie solche Gedanken hegen, lassen Sie sie einfach los und kehren zur Unmittelbarkeit Ihrer Erfahrung zurück. Das ist an sich schon die Übung von Maitrī, des Sich-mit-sich-selbst-Anfreundens.
Wunschgebete sprechen
Ich bin ein großer Fan von Wunschgebeten. Meiner Auffassung nach sind sie eine große Hilfe auf dem Weg, weil sie uns helfen, in Kontakt mit unserer Motivation zu bleiben und Bodhichitta zu entwickeln. Die Lojong-Losung „Zwei Aktivitäten: eine zu Beginn und eine am Ende“ empfiehlt uns, jeden Tag damit zu beginnen und abzuschließen, dass wir unsere Motivation, alle Barrieren aufzulösen, unser Herz zu öffnen und uns anderen Menschen zuzuwenden, bekräftigen. So könnten Sie jedes Mal ein Wunschgebet sprechen, wenn Sie morgens aufwachen und bevor Sie abends einschlafen. Sie können dabei Ihre eigenen Worte wählen oder ein traditionelles Wunschgebet wie die „Vier Grenzenlosen“ oder das „Bodhisattva-Gelübde“ sprechen (siehe das Kapitel „Tägliche Rezitationen“, Seite 125).
Manchmal haben Sie vielleicht das Gefühl, dass die formelle Praxis des Tonglen Sie im Moment überfordert. Wenn das der Fall ist, könnten Sie einfach das Wunschgebet sprechen: „Möge ich eines Tages fähig sein, mein Herz ein wenig weiter zu öffnen, als es mir heute möglich ist.“ Gehen Sie auf diese Weise damit um, dann kommen keine Schuldgefühle und keine Selbstbezichtigungen ins Spiel. Das ist einfach der aufrichtige Wunsch zu wachsen.
Übung der Gleichheit
Die Übung der Gleichheit ist eine Art und Weise, eine Verbindung zu anderen fühlenden Wesen herzustellen und zu erkennen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Es ist