Pema Chödrön

Tonglen


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sein, respektiert und geschätzt werden für seine einzigartigen Qualitäten. Ein jeder möchte gesund sein und sich in seiner Haut wohlfühlen. So wie Sie selbst, will niemand ohne Freunde und einsam dastehen, von anderen verachtet werden, krank sein oder sich wertlos und deprimiert fühlen.

      Die Übung der Gleichheit soll Sie immer dann, wenn Sie einer anderen Person begegnen, an diese einfache Tatsache erinnern. Sie denken: „Genau wie ich, wäre dieser Mensch gern glücklich; genau wie ich, möchte er nicht leiden.“ Sie können sich dafür entscheiden, dies einen ganzen Tag lang zu üben oder nur für eine Stunde oder fünfzehn Minuten. Ich schätze diese Übung sehr, weil sie die Schranke der Gleichgültigkeit gegenüber der Freude anderer Menschen, gegenüber ihrem persönlichen Schmerz und ihrer wundervollen Einzigartigkeit durchlässig macht.

      In „Der Weg des Bodhisattva“ betont der große indische Meister und Dichter Shāntideva, wie wichtig es ist, über die Gleichheit von Ich und anderen auf diese Weise zu meditieren:

      Bemühe dich zuerst, zu meditieren

      Über die Gleichheit von dir selbst und anderen.

      In Freude und Leid seid ihr gleich.

      Behüte darum alle anderen genauso wie dich selbst.

      Jeffrey Hopkins, der zehn Jahre lang Übersetzer des Dalai Lama war, erzählt folgende Geschichte über seine Reisen mit dem Dalai Lama im Westen. Wo immer sie hinkamen, pflegte der Dalai Lama auf Englisch zu sagen: „Jeder Mensch wünscht sich Glück und will nicht leiden.“ Zuerst dachte Jeffrey: „Warum sagt er das nur ständig“, denn es schien ihm allzu simpel und gewöhnlich. Aber nach einiger Zeit begann die Botschaft tiefer in sein Bewusstsein einzusinken, und er dachte sich: „Ja, genau das ist es, was ich brauche!“ Es ist ganz einfach – aber es ist auch zutiefst wahr … und es war genau die Art von Unterweisung, die er selbst nötig hatte.

      Anfangs mag uns diese Praxis als Gemeinplatz und ziemlich seicht vorkommen. Aber glauben Sie mir: Sie ist ein wahrer Augenöffner. Sie macht uns demütig, weil sie uns unsere Gewohnheit, uns selbst für das Zentrum der Welt zu halten, vor Augen führt. Durch die Übung bestätigen wir, dass wir alle teilhaben am Menschsein; wir stellen eine überraschend intime Beziehung zu den anderen her. Sie werden so etwas wie Familienmitglieder für uns, und das trägt dazu bei, unsere Isolation und Einsamkeit aufzulösen.

      Die Übung des Öffnens unseres Herzens hat zwei Aspekte: Glück teilen und Schmerz annehmen. Das heißt zuerst einmal: Wenn in Ihrem Leben irgend etwas besonders Erfreuliches geschieht, dann wünschen Sie sich, dass andere an Ihrer Freude teilhaben können. Zum anderen heißt es: Wenn Sie irgendeine Form von Leiden erfahren, dann denken Sie, dass viele andere Menschen ebenfalls leiden, und Sie hegen den Wunsch, sie mögen frei sein vom Leiden. Das ist das Wesentliche der Tonglen-Haltung: Sind die Umstände angenehm, denkst du an andere; sind die Umstände schmerzlich, denkst du an andere. Sollte diese Praxis das Einzige sein, woran Sie sich nach der Lektüre dieses Buches noch erinnern, so wird sie doch Ihr Leben und das aller Menschen, mit denen Sie in Kontakt kommen, bereichern.

       Glück teilen

      Wenn Sie in Ihrem Leben irgendeine Freude, irgendetwas Angenehmes erfahren – ob Sie sich an einem strahlenden Frühlingstag freuen, ein gutes Mahl genießen, mit einem niedlichen Haustier spielen oder unter einer wohltuenden heißen Dusche stehen –, dann nehmen Sie es bewusst wahr und genießen Sie es! Solche einfachen Freuden können uns viel Glück, Sanftheit sowie ein Gefühl der Erleichterung bescheren. Es gibt viele solcher flüchtigen goldenen Momente in unserem Leben, aber wir hasten gewöhnlich einfach über sie hinweg. Der erste Teil der Übung besteht einfach darin, innezuhalten, diese Momente bewusst wahrzunehmen und ganz auszukosten. Als Nächstes hegen Sie dann den Wunsch, auch andere Menschen mögen diese Freude erfahren. Wenn Sie das häufiger üben, werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass Ihnen diese Augenblicke des Glücks und der Zufriedenheit immer häufiger auffallen.

      Üben Sie auf diese Weise das Geben, dann gehen Sie nicht achtlos an Ihrem eigenen Glück und Ihrer eigenen Freude vorüber. Wenn Sie zum Beispiel eine Schüssel köstlicher Erdbeeren essen, dann denken Sie nicht etwa: „Ach, du solltest diese Erdbeeren eigentlich nicht derart genießen. Denk doch nur an all die armen Menschen, die nicht mal ein Stück Brot zu essen haben!“ Stattdessen können Sie denken: „Ahh! Was für eine herrliche Erdbeere. Selten so etwas Köstliches gegessen!“ Sie können Ihre Erdbeere aus vollem Herzen genießen. Aber dann denken Sie: „Ich wünschte, jedermann könnte diese Freude teilen; ich hoffe, dass alle Menschen die Gelegenheit haben, sich ebenfalls an solcher Köstlichkeit zu freuen.“

      Sie könnten auch an einen persönlichen Besitz denken, der Ihnen viel Freude bereitet, etwa Ihren Lieblingspullover oder Ihre liebste Krawatte, und sich dann vorstellen, dass Sie diese Dinge Menschen schenken, denen Sie begegnen. Bei dieser Übung geht es nicht tatsächlich darum, etwas wegzuschenken, denn Sie arbeiten ja auf der Ebene der Imagination. Aber die Übung macht Sie aufmerksam auf Ihre Gewohnheit, an Dingen festzuhalten, sich zu verschließen und nicht mit anderen teilen zu wollen. Im Verlauf der Übung gewinnen Sie Zutrauen zu Ihrem inneren Reichtum – der Tatsache, dass Sie anderen stets sehr viel zu geben haben.

      Treya Wilber beschreibt diese Art der Übung des Gebens in dem Buch Mut und Gnade, das von ihrem Kampf gegen eine tödliche Krebserkrankung berichtet. Sie hatte schon längere Zeit Tonglen geübt. Eines Tages verlor sie ein Halskettchen mit einem goldenen Stern, das ihre Eltern ihr geschenkt hatten; es war so etwas wie ein Glücksbringer für sie gewesen, und sie hatte es in ihren schwersten Zeiten während Chemotherapie und Operationen getragen. Als sie es nicht mehr wiederfinden konnte, schien ihr das ein schlechtes Omen zu sein, und sie war sehr niedergeschlagen. Aber aufgrund ihrer Übung des Tonglen kam ihr plötzlich die Idee, Millionen dieser Sterne zu visualisieren und sie allen Menschen, denen sie begegnete, zum Geschenk zu machen. Während sie auf diese Weise übte, wurden ihr all ihre Gewohnheitsmuster des Begehrens, Anhaftens und Festhaltens überdeutlich vor Augen geführt, und so begann sie alle Dinge wegzuschenken, sobald ihr auffiel, dass sie daran hing. Das half ihr zwar nicht immer, ihr Anhaften zu überwinden, aber durch diese Übung entwickelte sie Mitgefühl mit allen Menschen, die in einer ähnlichen Situation waren wie sie – die gute Absichten hatten, diesen aber nicht immer gerecht werden konnten. Mithilfe dieser Praxis sah sie durch persönliche Erfahrung ein, dass sie den Verlust des Sterns durchaus verschmerzen konnte, und, was noch wichtiger war, sie entdeckte, welche Freude es macht, vom Festhalten abzulassen und anderen etwas zu geben.

       Schmerz annehmen

      Der zweite Teil dieser Praxis ist für schon ein wenig fortgeschrittene Übende. Versuchen Sie sich deshalb erst dann damit, wenn Sie sich mit dem Grundgedanken anfreunden können. Wenn Sie etwas Unangenehmes, Schmerzhaftes oder Unerfreuliches erfahren, dann nehmen Sie es zuerst einmal aufmerksam zur Kenntnis. Dann wünschen Sie sich, alle anderen Menschen mögen vollkommen frei von diesen Dingen sein, und Sie stellen sich vor, dass Sie alles, was den Menschen Erleichterung verschaffen könnte, zu ihnen aussenden.

      Wenn Sie sich zum Beispiel niedergeschlagen fühlen, dann sagen Sie sich selbst: „Da ich mich sowieso niedergeschlagen fühle, möge ich dieses Gefühl vollkommen annehmen, so dass andere Menschen davon frei sein können.“ Oder: „Wenn ich schon Zahnschmerzen habe, möge ich sie völlig annehmen, so dass andere Menschen davon frei sein können.“ Senden Sie dann das Gefühl der Linderung des Schmerzes zu ihnen aus. Tun Sie das ganz einfach, ohne sich viele Gedanken über die Logik dieser Übung zu machen.

      Manch einem mag es so vorkommen, als verlange diese Art von Austausch etwas viel. Ich präsentiere diese Übung hier trotzdem, denn ich persönlich finde, dass sie uns viel Kraft geben kann. Sie verwandelt den Abscheu und die Paranoia, die wir gewöhnlich allem Unangenehmen gegenüber empfinden – das Gefühl, dass wir das Opfer sind –, und wir benutzen sie als Antrieb zum Erwecken des Herzens.

      „Verkehrsstau-Tonglen“ ist eine besondere Variante dieser Übung. Wir arbeiten dabei mit all den unangenehmen Gefühlen, die uns überkommen, wenn wir in einem Verkehrsstau feststecken oder vielleicht in einer langen Schlange an der Kasse im Supermarkt stehen: Ärger, Empörung, Ungeduld, Nervosität, die Angst, einen Termin zu