Pema Chödrön

Tonglen


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und senden ein Gefühl der Entspannung und Erleichterung aus – für sich selbst und für alle anderen im Stau. Sie vergegenwärtigen sich, dass sie als Menschenwesen alle im selben Boot sitzen. Jedermann baut Barrieren um sich herum auf und fühlt sich aufgrund der unangenehmen Gefühle im Verkehrsstau mehr und mehr von den anderen isoliert. Also kehren Sie die Situation um und machen sie zu etwas, das Sie mit all den anderen Menschen verbindet, die in ihrem Auto festsitzen. Plötzlich werden sie dann, wenn Sie sich umschauen, alle zu menschlichen Wesen.

      Diese Übung ist im Grunde die Essenz der Tonglen-Haltung. Da ich sie für mich selbst als sehr hilfreich erfahren habe, empfehle ich sie allen meinen Schülern. Auch wenn Sie sich entscheiden, die formelle Tonglen-Praxis nicht auszuüben, können Sie diese Übung im Augenblick jederzeit durchführen. Wenn Sie sich einmal daran gewöhnt haben und sie regelmäßig üben, wird die formelle Tonglen-Praxis wirklicher und bedeutsamer für Sie werden.

      Dies ist eine Übung, die Sie in vielen konkreten Situationen des Alltagslebens anwenden können. Immer wenn Sie sich mit einer Situation konfrontiert sehen, die Ihr Mitgefühl weckt oder die schmerzlich oder schwierig für Sie ist, können Sie für einen Augenblick innehalten, das Leiden, das Sie sehen, einatmen und ein Gefühl der Erleichterung ausatmen. Das ist ein einfacher und direkter Vorgang. Anders als in der formellen Praxis beinhaltet diese Übung keine Visualisierungen und Stufen. Es ist ein ganz schlichter und natürlicher Austausch: Sie sehen ein Wesen leiden, Sie nehmen das Leiden mit dem Einatmen in sich auf, und Sie senden mit dem Ausatmen Linderung aus.

      Sie könnten zum Beispiel in einem Supermarkt sehen, wie eine Mutter ihre kleine Tochter ohrfeigt. Es tut Ihnen weh, das mit ansehen zu müssen, aber Sie können in dem Moment nichts sagen oder dagegen tun. Ihr erster Impuls könnte sein, sich unangenehm berührt abzuwenden und zu versuchen, die Sache einfach zu vergessen. Aber in dieser Übung wenden Sie sich nicht ab. Sie machen vielmehr Tonglen für das kleine Mädchen, das zu weinen begonnen hat, sowie für die wütende Mutter, die mit den Nerven am Ende ist. Sie können ein allgemeines Gefühl der Entspannung und Offenheit aussenden oder etwas Spezifischeres wie eine Umarmung, ein freundliches Wort, oder was immer Ihnen in diesem Augenblick angemessen erscheint. Das ist kein sonderlich begrifflicher Vorgang – es geschieht beinahe spontan. Wenn Sie auf diese Weise auf eine schmerzliche Situation eingehen und dabeibleiben, dann kann sie Ihr Herz öffnen und zu einer Quelle des Mitgefühls werden.

      Sie können auch Tonglen im Augenblick üben, wenn starke Emotionen in Ihnen aufwallen und Sie nicht wissen, wie Sie damit fertigwerden sollen. Sie mögen zum Beispiel einen unschönen Streit mit Ihrem Partner oder am Arbeitsplatz mit Ihrem Chef haben. Man schreit Sie an, und Sie wissen nicht, wie Sie reagieren sollen. In dieser Situation fangen Sie einfach an, die schmerzlichen Gefühle einzuatmen und ein Gefühl der Weite und Entspannung mit dem Ausatem auszusenden – für Sie selbst, für die Person, die Sie anschreit, und für alle Menschen, die sich in einer ähnlich schwierigen Situation befinden. Natürlich müssen Sie irgendwann auf die Person reagieren, die Sie anschreit, aber wenn Sie derart etwas Raum und Wärme in die Situation einbringen, werden Sie wahrscheinlich geschickter damit umgehen können.

      Sie können diese Übung auch ausführen, wenn Sie eine Blockade gegen das Sich-Öffnen und die Entwicklung von Mitgefühl verspüren. Sie begegnen zum Beispiel einem Obdachlosen auf der Straße, der Sie anbettelt und der ein Alkoholiker zu sein scheint. Obwohl Sie sich darum bemühen, mitfühlend zu sein, wollen Sie sich unwillkürlich abwenden, fühlen sich abgestoßen und wollen nichts mit ihm zu tun haben. An diesem Punkt können Sie beginnen, Tonglen für sich selbst auszuführen und für alle Menschen, die gern offen sein möchten, sich aber für die Außenwelt verschlossen haben. Sie atmen dieses Gefühl des Zumachens ein, ihr eigenes und das aller anderen Menschen. Dann senden Sie ein Gefühl der Weite und Entspannung und des Loslassens aus. Wenn Sie sich blockiert fühlen, so ist das kein Hindernis für die Übung von Tonglen – es ist ein Teil der Übung. Sie arbeiten mit dem Gefühl des Blockiertseins, und es wird für Sie zu einem Keim des Erwachens Ihres Herzens und zu einer Verbindung mit anderen Menschen.

      Diese Übung besteht darin, die Straße entlangzugehen, vielleicht nur ein oder zwei Häuserblocks weit, in der Absicht, für jeden, dem Sie begegnen, so offen wie möglich zu bleiben. Auf diese Weise schulen Sie sich darin, ehrlicher mit Ihren eigenen Gefühlen umzugehen und emotional zugänglicher für andere zu sein. Während Sie so die Straße entlanggehen, könnten Sie Ihre Körperhaltung entspannen und das Gefühl haben, dass die Gegend um Ihr Herz und Ihr Brustkorb sich öffnen. Wenn Sie an anderen Menschen vorübergehen, dann mögen Sie sogar eine subtile Verbindung zwischen deren Herz und Ihrem eigenen spüren, so, als seien Sie beide durch eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Sie können im Vorübergehen denken: „Mögest du glücklich sein!“ Der wichtigste Punkt ist, dass Sie dieses Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen empfinden, denen Sie begegnen.

      Sollten Sie sich irgendwie bloßgelegt fühlen und sich genieren, die Übung auszuführen, dann nehmen Sie das einfach zur Kenntnis und machen sich klar, dass die anderen Menschen wahrscheinlich ähnlich empfinden wie Sie selbst. Ihnen mag auffallen, wie die Menschen Sie für einen Moment anschauen, während sie näherkommen – meist aus sicherer Distanz, so dass es nicht zu sehr auffällt –, in einer automatischen Geste der Zuwendung. Vielleicht warten diese Menschen ja nur auf jemanden, der freundlich zu ihnen ist und sie begrüßt, jemanden, zu dem sie einen echten Kontakt herstellen können. Kommt Ihnen das vielleicht bekannt vor?

      Während Sie den Menschen so begegnen, werden Sie sich in jedem Fall Ihrer Gedanken und emotionalen Reaktion ihnen gegenüber bewusst. Achten Sie darauf, ob Sie ein Gefühl der Zuneigung, der Abneigung oder der Indifferenz gegenüber den Menschen empfinden, an denen Sie vorübergehen. Aber fügen Sie dem nicht noch irgendeine Selbstbeurteilung hinzu. Vielleicht lächelt irgendjemand Sie an, und Sie fühlen sich sofort leichter und können sich weiter öffnen. Oder Sie sehen jemanden, der deprimiert dreinschaut, und das könnte ein Gefühl der Zärtlichkeit und des Mitgefühls in Ihnen auslösen.

      Achten Sie darauf, wann Sie beginnen, sich zu verschließen oder sich zu öffnen. Doch wenn Sie merken, dass Sie sich verschließen, dann verurteilen Sie sich nicht dafür. Sie können dann einfach Mitgefühl mit all den Menschen empfinden, die sich ebenso verschließen, wie Sie selbst es tun, und die doch so gern offener wären. Genauso können Sie sich wünschen, jedes Gefühl der Erleichterung und der Freude, das während Ihres Spaziergangs in Ihnen aufsteigt, mit den Menschen zu teilen, denen Sie begegnen.

      Diese Übung des Tauschens mit anderen wird in Shāntidevas „Der Weg des Bodhisattva“ vorgestellt. Es ist eher eine Kontemplationsübung, und anders als beim Tonglen wird diese Übung nicht mit dem Ein- und Ausatmen synchronisiert. Diese Praxis kann Ihnen nicht nur helfen, sich für die sogenannten „neutralen“ oder „indifferenten“ Menschen in Ihrem Leben zu öffnen und Mitgefühl mit ihnen zu empfinden – sie hilft auch bei denen, mit denen Sie wirkliche Schwierigkeiten haben.

      Zuerst stellen Sie sich die Person, mit der Sie arbeiten wollen, möglichst lebhaft vor. Fühlen Sie sich so weit wie möglich in sie ein, und versetzen Sie sich für eine Weile an ihre Stelle. Versuchen Sie die Welt so zu sehen, wie diese Person es tut. Was fühlt sie? Was wünscht sie sich? Wovor fürchtet sie sich? Wenn Sie anderen Menschen ein derart großes Interesse entgegenbringen, dann können Sie bei der Entwicklung von Anerkennung und Fürsorge für diese Menschen sehr weit vorankommen.

      Schließlich gehen Sie noch einen Schritt weiter und denken, dass Sie diese Person sind und die Person ist Sie. Sie versetzen sich an ihre Stelle und sehen sich selbst nun so, wie diese Person Sie sieht. Wie also sieht diese Person Sie? Nur als eine neutrale Person, als einen potenziellen Freund, als Feind, als überheblichen Menschen, als warmherzigen Menschen? Was bekäme diese Person gern von Ihnen: eine freundliche Umarmung, ein ermutigendes Wort, ein offenes und aufmerksames Ohr, die Anerkennung ihrer Intelligenz, eine Entschuldigung, Vergebung?

      Indem Sie derart mit anderen tauschen, entdecken Sie, das diese Menschen sich im Grunde genau dasselbe wünschen wie Sie selbst. In diesem Sinne sind Sie und andere gleich. Vielleicht wird