Jon Kabat-Zinn

Mit Kindern wachsen


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und nützt uns nichts mehr. Alle Regeln scheinen über Nacht oder in einem einzigen Augenblick ungültig geworden zu sein. Wir wissen nicht mehr, was vor sich geht und warum bestimmte Dinge geschehen. Wir fühlen uns wie die erbärmlichsten Versager.

      Doch selbst in solchen Augenblicken können wir versuchen, uns dessen bewusst zu bleiben, was geschieht, ganz gleich, wie unangenehm und schmerzhaft es auch sein mag. So schwer es uns auch fallen mag, wir versuchen anzunehmen, was geschieht und selbst in solch schwierigen Augenblicken herauszufinden, was die Situation von uns fordert. Die Alternative wäre, dass wir uns in unseren impulsiven und automatischen Verhaltensweisen verfangen und unserer Angst oder Wut oder Abwehr unser Mitgefühl und unsere Klarheit opfern. Und da auch dies zuweilen unvermeidlich ist, können wir in solchen Fällen das Geschehene später, in einem ruhigeren Zustand, noch einmal untersuchen, um vielleicht zumindest nachträglich etwas daraus zu lernen.

      Dieses Buch ist aus unserer eigenen Erfahrung als Eltern entstanden. Sicherlich unterscheidet sich diese in vielerlei Hinsicht von dem, was Sie als Mütter oder Väter erleben. Vielleicht unterscheiden sich einige der spezifischen Verhaltensweisen, für die wir uns entschieden haben, um unsere Aufgabe als Eltern zu erfüllen, sehr stark von dem, wie Sie erzogen wurden oder von Ihrer eigenen Art, mit Ihren Kindern umzugehen. Vielleicht werden Sie auf einiges von dem, was wir in diesem Buch vertreten, oder auf bestimmte Entscheidungen, die wir beschreiben, mit starken Gefühlen reagieren. Das ganze Thema, wie wir mit unseren Kindern umgehen, kann sehr tiefe Emotionen wecken, weil es immer wieder unser Selbstbild und die Art, wie wir das Leben sehen, berührt und in Frage stellt.

      Es geht uns keineswegs darum, dass Sie alles genauso machen sollen, wie wir es gemacht haben, oder Ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass Sie andernfalls irgendetwas völlig falsch machen. Wie wir alle wissen, sind die Probleme, mit denen Eltern sich tagtäglich beschäftigen müssen, nicht leicht zu lösen, und es gibt auch keine allgemeingültigen Antworten und Lösungen. Ebenso wenig wollen wir den Eindruck vermitteln, dass Achtsamkeit die Antwort auf alle Probleme des Lebens oder auf alle Fragen ist, mit denen wir als Eltern konfrontiert werden. Wir wollen Ihnen lediglich eine andere Art, die Dinge zu sehen, nahe bringen; eine andere Art zu sein, die sich vielleicht auf viele unterschiedliche Weisen mit Ihrer persönlichen Art, Ihre Aufgabe als Mutter oder Vater zu erfüllen und Ihr Leben zu leben, vereinbaren lässt. Letztlich müssen wir alle ganz individuell entscheiden, was wir für unsere Kinder und für uns selbst für das Beste halten, und dabei sind unsere Kreativität und unsere Fähigkeit, wach und aufmerksam zu sein, unsere wichtigsten Stützen.

      Wir möchten versuchen, Ihnen unsere Erfahrungen mit diesem Weg der „Achtsamkeit in der Familie“ zu vermitteln, weil wir hoffen, dass das transformierende Potenzial dieses Weges Ihren Werten und Intentionen entspricht und Ihnen bei der Erfüllung Ihrer Aufgabe von Nutzen sein wird.

      Achtsamer Umgang mit Kindern beinhaltet letztlich die Möglichkeit, sie klarer zu sehen und unserem Herzen zuzuhören und zu vertrauen. Achtsamkeit gibt den täglichen Herausforderungen des Elterndaseins Struktur und Unterstützung. Sie kann uns auch helfen, für unsere Kinder zu Quellen bedingungsloser Liebe zu werden – Augenblick für Augenblick, Tag für Tag.

      Wie soll ich das schaffen?

      Jede Familie befindet sich in einer ganz speziellen Situation, und keine kann auf genau die gleichen Ressourcen zurückgreifen wie eine andere. Doch glauben wir, dass alle Familien und Individuen, einfach weil sie Menschen sind, über immense innere Ressourcen verfügen, die sie nutzen und weiterentwickeln können, unabhängig von den Umständen, in denen sie sich befinden. Diese Ressourcen können uns bei unserem Bemühen, wichtige Entscheidungen für unser eigenes Leben und für unsere Familie zu treffen, in ungeheurem Maße helfen.

      Es gibt Menschen, die stets Möglichkeiten finden, das Wohl ihrer Kinder an die erste Stelle zu setzen, so schwierig ihre persönliche oder ökonomische Situation auch sein mag. Wir meinen, dass Kinder es in jedem Fall verdienen, im Leben ihrer Eltern an erster Stelle zu stehen. Aber was heißt es, Kinder an die erste Stelle zu setzen? Es lohnt sich, darüber nachzudenken. Was auch immer es für Sie bedeutet, es wird sich ändern, während Ihre Kinder älter werden, und es kann für jedes Kind etwas anderes sein. Ganz bestimmt bedeutet es nicht, von unseren Kindern besessen zu sein und ständig wachsam über ihnen zu schweben (was in dem Schlagwort „Helikopter-Eltern“ zum Ausdruck kommt). Es bedeutet auch nicht, dass Sie Ihre eigenen Bedürfnisse auf eine Art opfern müssen, die im Grunde unklug und für alle Beteiligten potenziell ungesund ist. Achtsamkeit bedeutet nicht, auf ein Kind dermaßen fokussiert zu sein, dass Sie sich selber verlieren. Der Dreh- und Angelpunkt für alles heißt „Balance“. Achtsamkeit hilft uns dabei, unser Lebensgefühl eines buchstäblich „leibhaftigen“ Gewahrseins weiterzuentwickeln und zu vertiefen, die gelebte Erfahrung, im Körper und im Leben geerdet zu sein.

      Wie bei einem Staffellauf, bei dem in einer Übergangsphase der Stab weitergereicht wird – sprich: wenn sie volljährig sind –, ist es unsere Aufgabe als Eltern, unseren Kindern eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, damit sie ihre „Solo-Runden“ erfolgreich laufen können. Um das zu ermöglichen, müssen wir ihnen in der Zeit, in der wir neben ihnen herlaufen, alles geben. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Es gibt nicht nur einen einzigen richtigen Weg, und es gibt kein Patentrezept. Es geht auch nicht nur um ein „Machen“. Im Gegenteil: Auf lange Sicht gesehen, könnte es mehr um unser „Da-Sein“ gehen als um unser Tun. Ganz gleich, unter welchen Umständen wir leben, wenn der Wille, die Motivation und das Interesse da sind, können wir lernen, die inneren Ressourcen von Stärke und Weisheit, Kreativität und Fürsorglichkeit zu nutzen, die in uns allen schlummern. Noch mehr: Jeder Augenblick gibt uns dazu aufs Neue Gelegenheit, und deshalb ist es wichtig, dass wir einen Rhythmus finden und verstehen, dass wir sanft zu uns sein müssen, denn wir haben einen weiten Weg vor uns. Und das ist es, was die Praxis der Achtsamkeit uns Eltern bietet.

      Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie fordert Eltern Energie und Engagement ab, so wie das auch für jede andere intensive spirituelle Praxis und für jede Bewusstseinsdisziplin gilt. Vielleicht werden wir uns hin und wieder fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, eine solche Aufgabe auf uns zu nehmen, deren Erfüllung unser ganzes Leben in Anspruch nehmen kann. Vielleicht fragen Sie sich: „Wie soll ich das denn zusätzlich zu all dem anderen, was ich schon tue, auch noch schaffen?“ Vielleicht unterstützt und inspiriert es Sie dann, wenn Sie entdecken, dass Sie aufgrund Ihrer Funktion innerhalb der Familie bereits mit wichtigen Aspekten systematischer Disziplin und mit Methoden der Achtsamkeit vertraut sind. Achtsamkeit als innere Disziplin zu praktizieren ist Eltern möglich, weil sich diese Art der Anwesenheit ganz natürlich aus den Erfahrungen und Anforderungen entwickelt, denen wir innerhalb der Familie Tag für Tag gegenüber stehen.

      Wir müssen als Eltern ohnehin ständig aufmerksam und diszipliniert sein. Wir bringen uns dazu, jeden Morgen rechtzeitig aufzustehen, dafür zu sorgen, dass auch unsere Kinder aufstehen und frühstücken, so dass sie rechtzeitig zur Schule aufbrechen, und dann, falls wir nicht zu Hause arbeiten, uns selbst für die Arbeit bereitzumachen und rechtzeitig loszugehen. Es fordert Disziplin und Aufmerksamkeit, die komplizierten Zeitpläne unserer Kinder und unsere eigenen Termine aufeinander abzustimmen, und auch bei der Planung und Ausführung tagtäglicher Verrichtungen wie Einkaufen, Kochen, Waschen und Putzen sind diese Faktoren wichtig.

      Wir haben bereits erstaunliche Fähigkeiten entwickelt. Wir betreiben Tag für Tag Krisenmanagement, jonglieren mit unterschiedlichen, oft miteinander konkurrierenden Anforderungen an unsere Zeit und Energie, und wir setzen jenen unglaublichen sechsten Sinn ein, den wir als Eltern sehr schnell entwickeln und der uns in jedem Augenblick sagt, wo unsere Kinder sind und ob ihnen Gefahr droht. Wir sind auch geübt darin, ein Gespräch zu führen, während wir andere Dinge erledigen, sowie darin, uns trotz unzähliger Unterbrechungen nicht von einem bestimmten Gedankengang abbringen zu lassen. Andere Menschen mögen sich zuweilen verletzt oder abgespeist fühlen, weil sie das Gefühl haben, dass wir ihnen nicht unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Doch als Eltern können wir unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig auf viele Dinge richten: Wir können uns mit jemandem unterhalten und dabei auf unser Kind aufpassen, eine Jacke zuknöpfen oder das Kind rasch auf den Arm nehmen, bevor etwas Gefährliches passiert. Solche Fähigkeiten entwickeln Eltern zwangsläufig. Je mehr wir sie nutzen und entwickeln – und das müssen wir als Eltern ohnehin –, umso besser