unter die Oberfläche meines Geistes schaue. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet, aber dieses Gefühl hat mich ein wenig geängstigt. Vielleicht werde ich, wenn ich regelmäßig meditiere, herausfinden, was mich davon abhält, ganz zu sein. Doch im Augenblick spüre ich Löcher in meinem Körper oder in meiner Seele, die bewirken, dass ich überall, wohin ich auch gehe, Schutzwälle um mich herum errichte. Ich fühle mich wie ein Schweizer Käse. Das ist schon seit meiner Kindheit so. Ich habe einige Verluste erlitten, als ich noch sehr klein war. Ich glaube, damals habe ich Teile von mir verloren, weil Menschen, die mir wichtig waren, gestorben sind und weil andere Menschen Teile von mir weggenommen haben. Meine Schwester ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Und meine Eltern sind daraufhin in eine Art Depression verfallen, die bis zu ihrem eigenen Tod dauerte. Ich glaube, sie haben Teile von mir genommen und sich davon ernährt. Ich empfinde das so. Ich war früher ein sehr lebendiges Kind, das wusste, was es wollte, und ich habe das Gefühl, dass bestimmte Teile von mir einfach weggenommen worden sind. Es scheint mir nicht möglich zu sein, diese Teile wieder zurück zu bekommen. Warum ist mir das nicht möglich? Was ist mit mir geschehen? Ich habe Teile von mir verloren. Während ich heute hier sitze und meditiere, wird mir klar, dass ich noch immer nach diesen Teilen suche und dass ich nicht weiß, wo sie sind. Ich sehe keine Möglichkeit, ganz zu werden, wenn es mir nicht gelingt, die Teile wiederzufinden, die ich damals verloren habe. Meine ganze Familie ist mittlerweile tot. Sie haben all die Teile, die mir fehlen, mitgenommen und sind dann gegangen, und ich sitze jetzt hier mit diesem Schweizer Käse.“
Ein schreckliches Bild, die Eltern hätten dieser Frau bestimmte Bereiche entfernt, um sich davon zu ernähren. Doch so etwas geschieht tatsächlich, und wenn es im Leben eines Kindes früh geschehen ist, leidet es sein ganzes Leben lang darunter.
Zu allem Überfluss fügen Eltern ihren Kindern oft im Namen ihrer Liebe tiefe Verletzungen zu, indem sie sie beispielsweise schlagen, um ihnen eine Lektion zu erteilen, und dabei auch noch Dinge sagen wie:
„Das ist nur zu deinem Besten“, „Das tut mir mehr weh als dir“ oder „Ich tue das nur aus Liebe“ – dieselben Sätze, die sie selbst zu hören bekamen, als sie von ihren Eltern geschlagen wurden, wie die Schweizer Psychologin Alice Miller in Am Anfang war Erziehung gezeigt hat. Im Namen der „Liebe“ werden Kinder hemmungsloser Wut, Verachtung, Intoleranz und Gewalt ausgesetzt. Von Eltern, die sich nicht darüber im Klaren sind oder denen es gleichgültig ist, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf ihre Kinder hat, obwohl sie weder Freunde noch Fremde jemals so behandeln würden. Und solche Dinge geschehen in allen gesellschaftlichen Schichten.
Wir sind der Ansicht, dass automatisches, unbewusstes Verhalten, das sich am Maßstab des geringsten Aufwandes orientiert – ob es sich nun in Form physischer Gewalt manifestiert oder nicht –, bei den betroffenen Kindern tiefe, dauerhafte Schäden und gravierende Entwicklungsstörungen verursachen kann. Gleichzeitig nehmen wir uns als Eltern, wenn wir uns so verhalten, die Möglichkeit, an unserer Aufgabe zu wachsen. Die Folgen derart unbewussten Verhaltens sind häufig eine generelle Traurigkeit, das Gefühl, wichtige Chancen vertan zu haben, Verletztheit, Groll, Vorwürfe, eine Verengung des Selbst- und des Weltbildes – und letztlich Isolation und Entfremdungsgefühle.
Wenn wir jedoch wach bleiben gegenüber den Herausforderungen, mit denen wir als Eltern konfrontiert werden, so kann das alles nicht geschehen. Im Gegenteil, wir können dann alle Situationen im Zusammenleben mit unseren Kindern nutzen, um die Barrieren in unserem Geist und unserem Herzen abzubauen, um tiefer in unser eigenes Inneres zu schauen und um im Kontakt mit unseren Kindern stärker präsent zu sein.
Wir leben in einer Kultur, die die Arbeit von Eltern nicht konsequent würdigt und anerkennt. Es gilt als völlig normal, dass wir hundert Prozent unserer Energie für Karriere oder „Beziehungen“ oder „Selbstfindung“ aufwenden, nicht aber für unsere Kinder. Dahinter steckt die Ansicht, dass man ein Kind nur „verwöhnt“, wenn man ihm verlässlich und offen Aufmerksamkeit schenkt.
Die Gesellschaft als Ganzes und ihre Institutionen und Wertvorstellungen, die den Mikrokosmos unseres individuellen Geistes und seiner Werte sowohl erzeugen als auch spiegeln, tragen erheblich zur Unterminierung der Aufgabe der Eltern bei. Welche Arbeit wird in unserem Land am höchsten bezahlt? Ganz bestimmt nicht die der Tagesmütter, Erzieherinnen oder Lehrer, deren Arbeit eine so wichtige Unterstützung für die Bemühungen der Eltern ist. Wo sind die geeigneten Leitbilder, die unterstützenden Netzwerke, der bezahlte Erziehungsurlaub für junge Eltern, die Möglichkeiten zu Jobsharing und Teilzeitbeschäftigung für Mütter und Väter, die länger als nur ein paar Wochen nach der Geburt bei ihren Kindern zu Hause bleiben wollen? Wo bleibt die Förderung von Schulungsprogrammen für Eltern? Durch ihre bloße Existenz würden solche Programme deutlich machen, dass tüchtige Eltern für die gesamte Gesellschaft von größter Bedeutung sind und von dieser auch hoch geschätzt werden. Aber sie sind erschreckend selten.
Natürlich gibt es auch Signale, die hoffnungsvoll stimmen. Viele Eltern sehen ihre Aufgabe als heilige Herzensaufgabe an und entwickeln, oft trotz großer Hindernisse und Schwierigkeiten, kreative und einfühlsame Wege, ihre Kinder anzuleiten und zu fördern. Überall im Land ergreifen Menschen die Initiative und organisieren Vorbereitungskurse für Eltern, Kurse zu grundlegenden Kommunikationsfähigkeiten, zur Gewalt-Prävention und Stress-Reduzierung sowie Beratungsdienste für Eltern und Familien.
Es gibt auch zahlreiche Gruppen, die sich für den Aufbau und die Weiterentwicklung des Gemeinschaftslebens engagieren und sich politisch für die Interessen von Kindern einsetzen. Zahlreiche Bücher beleuchten die Rolle von Achtsamkeit, Gewahrsein und Einfühlung im Elterndasein. William und Martha Sears’ Baby Book liefert einen Bezugsrahmen, wie die Bedürfnisse von Babys und Kleinkindern gewürdigt werden können. Dan Hughes’ Buch „Attachment-Focused Parenting: Effective Strategies to care for children“ und das Buch „Parenting from the Inside out“ von Dan Siegel und Mary Hartzell verbinden neurowissenschaftliche Forschung zur Interpersonalität mit der Forschung zu Bindungsverhalten und zur Achtsamkeit. Nancy Bardackes Buch „Mindful Birthing: Training the Mind, Body and Heart for Childbirth and Beyond“ ist eine Pionierarbeit zum Thema Achtsamkeit, Gewahrsein und Elternschaft. Und ständig erscheinen neue Bücher zu diesen Themen
Doch sind die Probleme andererseits gewaltig, ja geradezu überwältigend. Wir leben in einer Zeit, in der es für Familien immer schwerer wird, Kinder auf gesunde Weise aufwachsen zu lassen. In vielen Haushalten ist heutzutage kein Erwachsener zu Hause, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen, weil sowohl beide Eltern als auch die Nachbarn arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Kinder bleiben sich deshalb in ihrer Freizeit häufig selbst überlassen. Manchmal haben sie mehr Kontakt zur Welt von Fernsehen und Internet als zu liebevollen und fürsorglichen Erwachsenen. Dass Kinder tagtäglich die Liebe, Unterstützung und Energie und das Interesse lebendiger Erwachsener und älterer Menschen erleben, die sie achten, wird in unserer Gesellschaft immer seltener.
Doch wir haben trotz der ungeheuer starken gesellschaftlichen Kräfte, die auf unser eigenes Leben und das Leben unserer Kinder einwirken, immer auch die Freiheit, als Individuen bewusst darüber zu entscheiden, wie wir mit den Umständen unseres Lebens umgehen wollen. Wir alle haben – meist mehr, als wir ahnen – das Potenzial, einen eingeschlagenen Weg zu hinterfragen und zu prüfen, ob er das widerspiegelt, was wir ersehnen und was uns wirklich wichtig ist. Wir haben immer die Möglichkeit, unser Leben aufmerksamer und bewusster zu leben, vor allem, wenn es unsere Kinder betrifft.
Die Schritte auf diesem eigenen Weg werden wesentlich leichter und sicherer wenn wir einen umfassenden Bezugsrahmen haben, innerhalb dessen wir untersuchen und verstehen können, was wir tun und um was wir uns vielleicht noch kümmern müssen. Einen Bezugsrahmen, der uns hilft, nicht vom Weg abzukommen, auch wenn sich die äußere Situation ständig verändert und oft nicht klar ist, welchen Schritt wir als nächsten tun müssen. Achtsamkeit kann uns einen solchen Rahmen bieten.
Beispielsweise kann es schon wichtige Türen in unserem Geist öffnen, wenn wir es schlicht für möglich halten, dass wir bestimmte Situationen auch anders sehen können, als wir es im Augenblick tun, und dass uns in jedem Augenblick mehr Handlungsmöglichkeiten offen stehen, als uns klar ist.
Achtsamkeit