Daniel Siegel

Das achtsame Gehirn


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war, und im nächsten Augenblick hatte ich mich „in Gedanken verloren“. Es gab keine Trennung zwischen dem Gedanken und mir. Ich hatte mich nicht nur in ihm verloren, sondern ich war der Gedanke. In jenen Momenten befand ich mich nicht länger im Tal, sondern war hinauf in die Wolken gefegt worden.

      Als mir bewusst wurde, dass ich mir meines Atems nicht länger bewusst war, bestand der Schlüssel darin, nicht wütend zu werden, sich nicht frustriert oder als Versager zu fühlen, sondern diese Erfahrung einfach zur Kenntnis zu nehmen. Es half auch, sich daran zu erinnern, was unsere Lehrer uns gesagt hatten: Ganz gleich, wie viele Jahrzehnte Menschen in achtsamem Gewahrsein zubringen, es gibt regelmäßig die Erfahrung des „Sich-in-Gedanken-Verlierens“. So funktioniert der Geist nun einmal. Doch achtsames Gewahrsein aufzubauen hilft Ihnen, einen Gedanken als etwas zu sehen, das einfach nur aufsteigt und wieder wegschwebt. Der Gedanke verliert seine Macht, Sie zu entführen und zu seinem Gefangenen zu machen.

      Wir haben auch an uralten meditativen Praktiken zur Kultivierung „liebevoller Güte“ gearbeitet. Die liebevolle Güte ist ein fundamentaler Bestandteil der Achtsamkeitsmeditation und zielt darauf ab, uns eine positive Achtung für alle Lebewesen, was auch uns selbst und die Welt insgesamt einschließt, mitzugeben. Bei dieser Praxis wird eine Reihe von Formeln wiederholt. Zuerst richtet man den Fokus dabei auf sich Selbst. Im Folgenden finden Sie die besonderen Formulierungen, die von Sharon Salzberg (1995) gelehrt werden: „Möge ich sicher und vor Leid beschützt sein. Möge ich glücklich sein und ein friedliches und freudvolles Herz haben. Möge ich gesund sein und einen Körper haben, der mich mit Energie unterstützt. Möge ich mit der Leichtigkeit leben, die vom Wohlbefinden kommt.“ Ein Bild von sich selbst im Sinn zu haben kann diese Praktiken vertiefen. Während diese Anweisungen ausgesprochen werden, kann man sein Bewusstsein mit jeder Ein- und Ausatmung auf die Herzregion konzentrieren, den Bereich direkt unterhalb des Brustkorbs.

      Nachdem wir uns auf uns Selbst fokussiert haben, fokussieren wir uns auf andere. Wir wünschen zunächst einem Gönner (jemandem, der uns und unsere Entwicklung im Leben unterstützt hat) Sicherheit, Glück, Gesundheit und Leichtigkeit, dann einem Freund und schließlich jemandem, dem gegenüber wir uns neutral fühlen. Häufig ist es nützlich, ein Bild der betreffenden Person vor seinem geistigen Auge zu haben, während man diese Wünsche zum Ausdruck bringt. Der nächste Schritt ist komplizierter – diese Segnungen einem „schwierigen“ Menschen in unserem Leben zu wünschen; jemandem, zu dem wir vielleicht eine schwierige Beziehung haben. Und der nächste Schritt kann sogar noch komplizierter sein: Man bittet uns, Vergebung anzubieten und um sie zu bitten. „Ich bitte dich um Vergebung für alles, was ich getan oder gesagt habe, was dir Schaden zugefügt oder schmerzliche Gefühle bereitet hat.“ Dann vergibt man dieser Person mit denselben Worten.

      Ich habe einen Freund ausgewählt, mit dem ich lange Jahre in enger Verbindung stand, die vor kurzem mit Verwirrung und Feindseligkeit endete. Ich stellte mir sein Gesicht vor, sah die Probleme, die zu unserem Zerwürfnis geführt hatten, und bat ihn um seine Vergebung für das, was zwischen uns passiert war. Es war schwierig, da er mir bei dem Versuch, unsere Freundschaft wieder aufzunehmen, nicht entgegenkam. Aber die Übung, einschließlich dessen, ihm für das zu vergeben, was passiert war, half mir, das Gefühl zu bekommen, dass sich das Problem gelöst hatte.

      Ich persönlich fand das zutiefst berührend, aber mehrere Gruppenteilnehmer berichteten beim Abendvortrag, wie schwer es ihnen gefallen sei, denen zu vergeben, die ihnen Schaden zugefügt hatten. Für andere war diese ganze „Metta“- oder Liebevolle-Güte-Praxis unangenehm, und einige kamen erst gar nicht mehr, wenn dies das Thema der Sitzung für die geführte Meditation war. Eine Reihe von Leuten sagte später, es sei ihnen schwer gefallen, jemandem zu vergeben, der ihnen Unrecht getan und sich nicht für seine Vergehen entschuldigt hatte.

      Sechster Tag

      Ich fühle mich gerade, als würden drei greifbare Ströme des Gewahrseins in den Fluss meines Bewusstseins hineinfließen. Einer ist das unmittelbare sensorische Erleben. Diese Empfindungen meines Körpers oder meiner Wahrnehmungen fühlen sich roh und nackt an. Wenn ich gehe, fühle ich den Druck der Ferse, den Übergang zum Ballen, die ungleichmäßige Verteilung des Gewichts auf meinen Zehen, die Bewegung meiner Hüften, während mein anderes Bein langsam über den Körperschwerpunkt schwingt und mein Körper sich vorbeugt, wobei die andere Ferse den Boden berührt, die Zehen meines anderen Fußes sich lösen und flüchten. Ich beobachte das nicht als Wahrnehmung; ich spüre es. Da es in Echtzeit passiert, fühle ich, dass es keine Worte gibt, um diese Empfindungen zu beschreiben, und keine Konzepte, um sie zu analysieren und Cluster daraus zu machen. Sie sind einfach nur ihre sensorische Fülle – Anblicke und Geräusche, inneres Gurgeln, Spannungen, Druckgefühle. Ich werde mir auch des zweiten Stroms recht deutlich bewusst – des begrifflichen Stroms in der Vorstellung des Gehens. Ich kann den Gedanken fast hören – „gehen“ –, in Worten, die in meinem Geist nicht ganz hörbar sind. Aber jetzt gibt es da auch noch einen dritten fließenden Strom, den ich den Beobachter nenne – das Empfinden, dass ich mich selbst aus der Ferne beobachte, aus meinem Kopf heraus, wie ich im Saal über mir oder in den Bäumen über dem Weg schwebe, wo ich gerade gehe.

      Jeder Strom – Empfindung, Konzept, Beobachter – scheint im Tal des gegenwärtigen Moments nebeneinander zu existieren. Ich nehme alle drei Ströme zur Kenntnis und beobachte sogar den Beobachter. Wie seltsam. An irgendeinem Punkt habe ich das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, während mein Gefühl der Realität zerbröselt, sich ganz wörtlich vor meinem inneren Auge auflöst. Oder finde ich ihn in Wirklichkeit? Ich gehe weiter. Schritt für Schritt beobachte ich meinen Geist. Ich spüre meine Schritte. Ich beobachte mein Empfinden und spüre sogar mein Beobachten.

      Ich habe fast eine Woche lang mit niemandem gesprochen, von den kurzen Augenblicken mit meinen Lehrern einmal abgesehen. Keine Interaktionen, kein Sprechen, keine Gegenseitigkeit. Ich bin von anderen umgeben, bin weit weg und dennoch so nah. Ich habe die mir zugewiesene Aufgabe erfüllt und jeden Tag die Toiletten unseres Saals geputzt. Vor dieser Routine hat mir anfangs gegraut, aber irgendwie ist es mir gelungen, sie zu genießen, ja diese Aufgabe sogar zu mögen. Ich fühle eine gewisse Verbindung zu dem Mopp, während ich die Toilette schrubbe und das Waschbecken säubere. Tag für Tag erwartete ich dann dieselbe Reaktion von den Reinigungsflüssigkeiten, den Schwämmen und den Putzlappen. Es fühlt sich tröstlich an zu wissen, dass es in alldem eine gewisse Vorhersagbarkeit gibt. Ich schrubbe, und der Schmutz verschwindet. Zauberei. Doch im offenen Tal des gegenwärtigen Moments weiß ich nie, was auftauchen wird.

      Da ich während des Gehens irgendeinen Ankerpunkt brauche, denke ich mir eine Eselsbrücke für das Ganze aus. Ich weiß, dass man uns gesagt hat, wir sollten zu uns selbst sagen, „nicht jetzt“ oder „nein, danke“, um eine interessante Idee anzuerkennen und uns nicht von ihr überschwemmen zu lassen. Doch ich kann mir nicht helfen. Oder vielleicht helfe ich mir gerade doch. Schritt für Schritt schweben meine unbeschuhten Füße über den Holzboden dieses Raumes, in dem wir die Gehmeditation machen. Schritt für Schritt. Ich denke: Empfindung. Okay. Beobachtung. In Ordnung. Konzept. Gut. Jeder dieser drei Ströme gibt mir das Gefühl, den gegenwärtigen Moment zu kennen; ein Wissen, das sich paradoxerweise ohne Worte, ohne Konzepte und ohne Empfindungen vollzieht. Dieses Wissen ist eine Art unterirdischer Strom unter diesem Tal des gegenwärtigen Moments, ein formloses Wissen. Wie kann ich mich später an diese erstaunliche Vision erinnern? Dann denke ich „S.O.C.K.“ (Sensation. Observation. Concept. Knowing). Also, eine Socke befindet sich um meine Fußsohle herum und SOCK umgibt die Seele der Achtsamkeit, Schritt für Schritt, Moment für Moment: Empfindung, Beobachtung, Konzept und Wissen.

      Vorher habe ich drei Bewusstseinsströme in einer Frage- und Antwortphase beschrieben und gefragt, ob ich wohl den Verstand verliere. Wenn der Beobachter übermäßig aktiv wird, so sagte ich, dann scheint er die unmittelbare sensorische Erfahrung zu zerstören, genauso wie die begrifflichen Gedanken es vorher taten. „Muss ich den Beobachter loswerden?“, habe ich gefragt. „Nein“, antwortete der Lehrer, „es geht um Ausgeglichenheit.“ Damit kann ich leben. Ja, ich kann sogar damit schweben. Und natürlich taucht beim nächsten Gehen eine weitere Eselsbrücke auf – das ABCDE der Achtsamkeit: A Balance of Concept and Direct Experience, also eine Balance aus Konzept und unmittelbarem Erleben. Meine linke Hemisphäre gibt einfach nicht