Daniel Siegel

Das achtsame Gehirn


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von Empfindung, Beobachtung, Konstruktion und vielleicht auch durch dieses nichtbegriffliche Wissen erzeugt wurde, das die Nabe des Geistes, unseren reflektiven Zustand achtsamen Gewahrseins, umkreist (siehe Abbildung 4.3). War diese rezeptive Dimension des achtsamen Gewahrseins dasselbe wie das selbstlose Gewahrsein? War Wahllosigkeit tatsächlich eine aktive Form des Rezeptivseins? Ließ die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtung mit der Linse der Beobachtung diese geräumige Freiheit zu, in der sich eine Wahl und die Entkopplung von den Automatismen einstellen konnten? Was für ein Haufen begrifflichen Denkens!

      Die neurologischen Aspekte dieses ganzen Rahmenwerks wurden als Bilder in meinem Kopf registriert, nicht nur als Worte, sondern als anschauliche Bilder. Meine linken und meine rechten Kortices erlebten eine Glanzzeit. Ich konnte sehen, wie die mittleren Präfrontalregionen den Fluss nach unten blockierten, um sich auf die Empfindungen konzentrieren zu können. Das fühlte sich so an, als könnte ich im Tal des gegenwärtigen Moments vom Fluss des Bewusstseins aus stromaufwärts wandern, um in den Oberlauf der Empfindung zu gelangen (Abbildung 4.1).

      Ich konnte auch in den konstruierten begrifflichen Strom eintauchen, mir der Gedanken und der Bilder bewusst sein, aus denen mein innerer Dialog und meine visuelle Kunstfertigkeit bestanden, und die extrapolierte begriffliche Welt erforschen. Dieser Strom konnte direkt gespürt werden, über den siebten Sinn, aber er hat eine andere Bewusstseinsqualität, eine andere Struktur, die sich zwar sehr real, aber wild verschlungen anfühlt und sich voller Assoziationen gerade über den Rand der Talwand bewegt.

      Trat ich einen Schritt von den Strömen der Empfindung und konstruktiven Konzepte zurück, dann war ich am Beobachten und nahm die Haltung eines Erzählers des Moments ein. Ich dachte an einen jugendlichen Patienten, den ich behandle und bei dem ich Praktiken des achtsamen Gewahrseins einsetze. Dieser Patient ist bisher in der Lage, seine depressiven Symptome signifikant zu verringern und eine medikamentöse Behandlung zu vermeiden. Handelt es sich dabei um das Wachstum seiner Beobachterfunktion oder sein selbstloses Gewahrsein? In meinem Beobachterstrom fühlte es sich so an, als sei es diese kraftvolle Form der Distanzierung und Selbstbeobachtung statt einer Form von Gewahrsein, der es an einem Selbstgefühl mangelt. Als ich das später mit unserem Lehrer besprach, da schien es ihm ebenfalls so, dass die Entwicklung des Gewahrseins in Form eines Beobachters oder Zeugen tatsächlich eine wesentliche Quelle der Erleichterung für Menschen mit Stimmungsstörungen ist, die das Achtsamkeitstraining erlernen. Der achtsamkeitsbasierte kognitive Therapieansatz (MBCT) nutzt dies auf sehr wirksame Weise, um Rückfälle bei chronisch Depressiven zu verhindern (Segal, Williams & Teasdale 2002).

      Irgendwie war das beruhigend: Die Beobachtungsgabe zu stärken scheint sehr viel direkter zu sein, als dem durchschnittlichen Anfänger in diese Welt des achtsamen Gewahrseins hineinzuhelfen, um sich in der Annahme selbstlosen Empfindens zu üben. Es ist einfach ein bisschen viel, Menschen darum zu bitten, oder es auch nur begrifflich zu erfassen, zumindest am Anfang. „Würden Sie gerne in eine Erfahrung hineinspringen, bei der das Selbstgefühl, durch das Sie sich definieren, transformiert wird?“ Wahrscheinlich nicht.

      Zurück in der Stille stellte ich fest, dass ich die Intimität mit meinem eigenen Geist genoss. Ich weiß, dass dies erst mein zweiter Retreat gewesen ist, aber ich konnte die Verlockung spüren, die Zeit zu haben, das eigene Selbst wirklich kennen zu lernen.

      Eine faszinierende Veränderung vollzog sich. Dieses Mal konnte der Beobachter jenes Gewahrsein vertiefen, ohne mit der unmittelbaren Empfindung zu kämpfen, wie sie mich beim ersten Retreat gequält hatte. Das schien Wachstum zu sein. Der Tag schritt voran und bei der Abendmeditation gab ich mir schließlich die Erlaubnis, mich zu amüsieren: Ich dachte, ich fühlte und ich hieß alles willkommen, was auftauchte, während ich meinen Geist erforschte. Ich begann mit meinem Körper. Ich bemerkte eine Schwere in der Brust und beschloss, ihr mit Wissbegierde, Energie und Neugier zu folgen. Ich wollte für alles offen sein, was auftauchte, und nahm das andere Trio – Konzentration, Ruhe und Gleichmut – als meine Leitprinzipien auf. Das sind die letzten drei der sieben Elemente eines erwachenden Geistes, die uns im ersten Retreat vermittelt worden waren. Zu diesen gehören auch die ersten vier: Achtsamkeit, Erforschung, Energie und Glückseligkeit angesichts der Entdeckung.

      Ich ließ mich die Schwere in meiner Brust unmittelbar fühlen, statt sie nur zu beobachten. Ich tauchte in den Strom der Empfindungen ein und stellte fest, dass sich mein Gesicht schwer anfühlte. Tränen begannen sich in meinen Augen zu sammeln, und plötzlich, vielleicht auch allmählich – es war schwer, die Geschwindigkeit zu bestimmen –, verspürte ich Bauchschmerzen. Dann begann ich zu schluchzen. Ich ließ das Schluchzen da sein, es beobachtend, es fühlend und darauf neugierig seiend. Ich durchsuchte meinen Geist und nahm die Empfindungen auf, um Bilder, Gefühle und Gedanken zu erforschen. Ein Bild meiner Mutter kam mir in den Sinn, und es stellte sich ein Gefühl von Angst und Traurigkeit zugleich ein. Der Gedanke an ihre bevorstehende Operation in der Woche darauf, die Gefühle von ihr als Mutter, als ich noch ein Kind war, und die möglichen Komplikationen ihrer Operation gingen mir durch den Kopf, während sich das Schluchzen in ein Starren in den leeren Raum verwandelte.

      Ich folgte dem Gedanken an meine Mutter und fasste die klare Intention, tief in das hineinzugehen, was dies für mich zu dieser Zeit bedeutete. Ein Bild von meiner Mutter und mir – eine Erinnerung an einen Schnappschuss – trat in den Vordergrund. Ich begann, noch stärker zu schluchzen. All die Nähe, all die Distanz, die Probleme und die Sorgen, und jetzt, wo ich erwachsen war, blieben die Sehnsüchte meiner Vergangenheit, die mein Empfinden, mein nichtbegriffliches Wissen ausmachten. Ich fühlte sie einfach und kannte sie – nicht nur als Empfindungen, sondern als eine Verschmelzung von Spüren, Beobachtung und Gedanken, die all ihrer begrifflichen Ursprünge beraubt waren und einfach einen klaren Weg beschrieben, um eine Essenz in mir zu kennen. Ich sagte mir, dass ich bereit sein müsse, mich von ihr zu verabschieden, falls es Komplikationen bei der Operation gab. Also traf ich die Entscheidung, sie vor jenem Tag zu besuchen und während der Operation bei meinem Vater zu sein.

      Mit dem Fortsetzen der Gehmeditation verebbte das Schluchzen; mein Körper fühlte sich leicht an, die Schwere in der Brust wich einer Leichtigkeit des Seins, einem tiefen Atem, einer Freiheit in meinem Bauch. Ich würde diese Phase wach angehen und bereit sein, für das, was auftauchte, vollkommen präsent zu sein.

      Ich weiß nicht, wie das selbstlose Gewahrsein mit dem nichtbegrifflichen Wissen zusammenhängt. Sie fühlen sich unterschiedlich an – hier „weiß“ ich etwas über die Gesamtvorstellung von meiner Mutter, die Kümmernisse der Liebe und die Traurigkeit des Lebens und des Todes.

      Aber sehen Sie sich diesen Satz mit einem „ich weiß“ unmittelbar dahinter an. Im wahllosen Zustand des selbstlosen Gewahrseins ist das Gefühl anders. Da gibt es einen zutiefst friedvollen, passiven Zustand des Schwebens, in dem das „Sich-gewahr-Sein“ wie die Wolken am Himmel ist, die ohne einen Anker existieren oder verschwinden. Im nichtbegrifflichen Wissen gibt es ganz eindeutig ein „Ich“, das weiß. Und daran ist die Vorstellung geknüpft: All das ist „real.“ Es gibt kein „besser“, wenn man sein Selbstgefühl verliert, wenn man Identität und Ego umgeht, als einen Ort des „Ich“ zu haben, jenes verortete Paket, welches das „Ich“ und das „Mein“ erschafft. Alle sind gut, alle sind in Balance.

      Und so blieb in jenem Moment ein köstliches Empfinden der vier Ströme des Gewahrseins übrig, die den Fluss des Bewusstseins speisen. Jeder dieser vier umgibt vielleicht die Nabe des Bewusstseinsrads und filtert und kanalisiert unser Erleben des Jetzt (vergleiche Abbildung 4.2). Selbst in der reinen Rezeptivität, so stelle ich mir vor, können wir einen der vier Ströme als den vorherrschenden spüren. Und bei jenen Gelegenheiten, wo es klar wird, ist sogar eine Rezeptivität, die kein Selbst hat, de facto Teil unserer Erfahrung. Der Wissende, das Wissen und das Gewusste werden in jenem „transpirationalen“ Zustand eins: Wir atmen durch alle Dimensionen Leben ein; wir integrieren eine tiefe Empfindung der Verbundenheit von allem. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit bleibt im Hintergrund der Potenziale, es nährt die Leichtigkeit unseres Seins, die „Flaumigkeit“ der Wolken, die wir als Erfahrung des „Selbst“ bezeichnen. Wir müssen unser körperlich definiertes Selbst nicht so ernst nehmen, aber wir können alles in uns aufnehmen, jeden süßen Moment lang.