Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie


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wissen, dass diese Möglichkeit besteht, können wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf die nicht-integrierten neuronalen Netze lenken, die durch solch eine mangelhafte Selbstregulation entstehen, welche intergenerational weitergegeben wird. Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, ob die Vorstellung zutrifft, dass wir möglicherweise in der Lage sind, unsere eigenen inneren Zustände zu verändern und diese epigenetischen Herausforderungen durch therapeutische Interventionen rückgängig zu machen.

      Es gibt ein interessantes Forschungsergebnis, das für dieses Thema relevant ist: Die Praxis der Achtsamkeit* steigert die Menge eines Enzyms, welches die Langlebigkeit unserer Zellen unterstützt. Ersten Erkenntnissen zufolge hat die Achtsamkeitsmeditation eine positive Wirkung auf die Steigerung der Telomerase. Dies ist ein Enzym, das notwendig ist, um die Moleküle zu erhalten, die als Telomere bezeichnet werden. Die Telomere befinden sich am Ende eines jeden Chromosomen und sind für die Langlebigkeit der Zellen zuständig. Derartige Forschungsergebnisse unterstützen die Hoffnungen, die sich darauf richten, dass die Kraft des Geistes die epigenetische Regulierung der Genexpression zu verändern in der Lage ist.

      Neuroplastizität hat einen Vorteil und einen Nachteil. Die Schwierigkeit ist, dass negative Erfahrungen die Hirnstruktur lang anhaltend verändern können und so unser Leben erschweren. Die positive Möglichkeit, die uns die Neuroplastizität eröffnet, besteht darin, dass es nie zu spät ist, um den Fokus der Aufmerksamkeit* zur Veränderung der Architektur des Gehirns zu nutzen. Es geht darum, zu lernen, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren können, um dadurch die integrative Funktionsweise unseres Gehirns zu optimieren. Die Grundlagen der Neuroplastizität deuten auch auf mehrere Elemente hin, die dazu beitragen, dass unsere Erfahrung – einschließlich des Fokus der Aufmerksamkeit – unsere neuronalen Verbindungen bleibend verändert.

      Sieben – oder möglicherweise acht – Faktoren unseres Lebens fördern die Neuroplastizität. Dazu gehören:

      1. Ausdauerübungen – wenn es medizinisch möglich ist, kann Sport zum fortwährenden Wachstum des Gehirns beitragen.

      2. Ausreichend Schlaf – wir verfestigen das im Laufe des Tages Gelernte, wenn wir genügend Schlaf mit vielen REM-Phasen (rapid eye movement, Traumphasen) bekommen.

      3. Gute Ernährung – die „Erde“ der Hirnstruktur braucht gute Nahrung und Wasser, einschließlich gesicherter Quellen von Omega 3-Fettsäuren, um ihre Funktion gut zu erfüllen und die „Samen“ des guten Fokus der Aufmerksamkeit keimen zu lassen.

      4. Beziehungen* – unsere Verbindungen mit anderen unterstützen ein lebendiges und formbares Gehirn.

      5. Neuheit – wenn wir unseren Trott verlassen und das Gehirn für neue Stimuli öffnen, wenn wir spielerisch und spontan sind, kann das Gehirn weiter wachsen und jung bleiben.

      6. Konzentrierte Aufmerksamkeit – wenn wir Multitasking und Ablenkungen vermeiden und uns gewahr werden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, können wir in der Tat die Freisetzung von Chemikalien (lokal und im ganzen Körper) stimulieren, die die Neuroplastizität unterstützen.

      7. Einkehrzeit* – Wenn wir uns auf unsere eigenen inneren Empfindungen, Bilder, Gefühle und Gedanken fokussieren und innerlich reflektieren, unterstützen wir das Wachstum regulativer, integrativer neuronaler Netze.

      8. Und möglicherweise Humor – einige Vorstudien deuten darauf hin, dass wir durch Lachen das gesunde* Wachstum des Gehirns fördern. Neuroplastizität scheint in der Tat „zum Lachen zu sein“.

      In der Interpersonellen Neurobiologie* suchen wir nach direkten Anwendungsmöglichkeiten von Wissenschaft für den praktischen Nutzen in der Welt. Eine Möglichkeit, um die grundlegenden Prinzipien der Neuroplastizität anzuwenden, besteht in der „täglichen Ernährung“ durch mentale Aktivitäten*, die das gesunde Wachstum des Geistes, des Gehirns und der Beziehungen fördern. Einer meiner Kollegen, David Rock, hat ein Menü des gesunden Geistes* gestaltet, das mit einer Empfehlung für einen tägliche Speiseplan vergleichbar ist (s. Abb. J). Wir empfehlen den Menschen, einen Weg zu finden, um die Aktivitäten des Menüs in eine regelmäßige Routine einzubinden. Regelmäßigkeit scheint der Schlüssel zu sein, um Gewohnheiten zu schaffen und zu erhalten. Und Regelmäßigkeit spielt offenbar auch bei der Förderung der neuroplastischen Veränderungen eine wichtige Rolle. Zu den sieben empfohlenen mentalen Aktivitäten gehören Zeit für Schlaf, Zeit für den Körper, Zeit für Verbundenheit, Zeit für Entspannung, Zeit für Spiel, fokussierte Zeit und Einkehrzeit.

      In Bezug auf das Wachstum des integrativen Gewebes, ein gesundes Gehirn, einen gesunden Geist und um ein Netz sozialer Beziehungen zu unterstützen, bestimmt die besondere Fokussierung der Aufmerksamkeit die spezifische Aktivierung der Neurone. Aufmerksamkeit aktiviert die spezifischen Pfade neuronaler Aktivierung im Gehirn. Die Neuronen, die zusammen aktiviert werden, können ihre Verbindungen miteinander stärken. Wenn solche Koppelungen ihrer Natur nach integrativ sind, sehen wir, wie der Fokus der Aufmerksamkeit das Wachstum der integrativen strukturellen Veränderungen im Gehirn möglicherweise fördern kann. Dadurch wird wiederum die integrative Funktionsweise unterstützt, die das Herz der Gesundheit ist.

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      SNAG: „Neuronen, die zusammen aktiviert sind, vernetzen sich“

      Worum geht es?

      SNAG* ist eine Abkürzung, die für „die Stimulation von neuronaler Aktivierung und neuronalem Wachstum“ steht (stimulate neuronal activation and growth). Wenn wir das Gehirn* mit SNAG stimulieren, versuchen wir absichtsvoll die neuronale Aktivierung* und die darauf folgende Genexpression zu fördern, die es den Neuronen* ermöglicht, ihre Verbindungen miteinander wachsen zu lassen.

      Diese einfache Abkürzung basiert auf der Arbeit zahlreicher bahnbrechender Denker. Der gesamte Ansatz der Interpersonellen Neurobiologie* ermöglicht es uns, „auf den Schultern von Riesen zu stehen“, denn wir finden in einer ganzen Reihe von Disziplinen konsiliente* Erkenntnisse. In diesem Abschnitt werden wir nur einige ausgewählte Forscher erwähnen, deren Arbeit auf den Gebieten der Erinnerung* und der neuronalen Funktionsweise dafür gesorgt hat, dass es das Konzept von SNAG überhaupt gibt. Viele weitere Forscher könnten hier erwähnt werden, aber das ist nicht die Aufgabe dieses Leitfadens. Stattdessen wird dieser kurze Überblick nur einen ersten Eindruck von all den Forschungen geben können, die die Bedeutung dieser Abkürzung unterstützen. Zahlreiche klinische und akademische Autoren haben geschrieben, dass bei der Aktivierung miteinander verbundener Neuronen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie in Zukunft zusammen aktiviert werden. Sigmund Freud bezeichnete diese Feststellung als Gesetz der Assoziation und Donald Hebb diskutierte in seinen Werken die gleiche Vorstellung. Deshalb sprechen Neurowissenschaftler heute vom „Hebbschen Gesetz“ oder von der „Hebbschen Synapse*“, die durch diese verbundene Aktivierung gebildet wird. Carla Schatz, eine Neurowissenschaftlerin, die Hebbs Ideen weiterführte, nutzte eine leicht einprägbare Formulierung: „Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzten sich“* („Neurons that fire together, wire together“). Und Robert Post und seine Kollegen erweiterten die Formulierung und fügten hinzu: „und überleben zusammen“. Dadurch wollten sie andeuten, dass wir Fähigkeiten des Gehirns „nutzen oder verlieren“ können („use it oder loose it“) – wenn Neuronen zusammen aktiviert werden, verringert sich ihre Menge nicht. Der Verlust neuronaler Verbindungen wird als neuronales Beschneiden, als Parcellation oder Apoptose, bezeichnet. Fred Gage hat gezeigt, wie Neuheit das Wachstum neuer Neuronen in der Hirnregion des Hippocampus* stimuliert. Und Eric Kandel erhielt den Nobelpreis für seine Forschungsarbeit, in der er zeigte, wie neuronale Aktivierung tatsächlich die Genexpression fördert und diese verbundenen Muster des synaptischen Wachstums unterstützt. Michael Meaney und andere haben auch zu unserem Verständnis darüber beigetragen, wie die Erfahrung und davon ausgelöste neuronale Aktivierung das Wachstum des Gehirns beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, wie Erfahrungen in der Kindheit die neuronalen Verbindungen in Bereichen formen, welche die Reaktion auf Stress* regulieren, und außerdem, wie die epigenetische* Kontrolle der Genexpression in diesen neuronalen Gebieten verändert wird.

      Implikationen: Was bedeutet es für unser Leben, dass Neuronen, die zusammen