Das heißt, dass wir auf unseren Ärger niemals aus dem »Flucht-Kampf-Starre-Modus« heraus reagieren, der unser Kind wie den Feind erscheinen lässt und sich so anfühlt, als müssten wir »gewinnen« und unser Kind »verlieren«. Vergessen Sie es, Ihrem Kind etwas beizubringen, bevor Sie sich als emotional großzügig erleben und Sie liebevoll vermitteln können. Lehrreiche Augenblicke ereignen sich nur, wenn alle Beteiligten zugänglich und positiv gestimmt sind. Ärger und Strafe gründen niemals auf Liebe, denn Ihr Kind nimmt Ihnen die Liebe nicht ab, wenn Sie ärgerlich sind. Es kann dann gar nicht anders, als in den Kampf-Flucht-Starre-Modus zu wechseln, was bedeutet, dass die am Lernen beteiligten Hirnregionen dicht machen.
»Aber ist es denn nicht gesund, meinen Ärger auszudrücken?« Ihren Ärger an jemand anderem auszulassen ist nie gesund; das verstärkt bloß Ihre Wut.14 Gesund ist es dagegen, sich selbst einzugestehen, wie Sie sich fühlen und dann mutig genug zu sein, um innezuhalten und das zu spüren, was sich unter Ihrem Ärger verbirgt – Verletzung, Angst, Traurigkeit, Enttäuschung. Wenn Sie sich erlauben, diese Empfindungen in Ihrem Körper zu fühlen, dann lösen sie sich allmählich auf. Sobald Sie sich beruhigt haben, werden Sie sich besser um Ihre eigenen Verletzungen kümmern und bei Ihrem Kind so eingreifen können, dass es sein Benehmen besser in den Griff bekommt.
»Aber hat mein Kind nicht eine Lektion zu lernen?« Natürlich, aber Wut oder sogar Kritik sind nicht die Lektionen, die Sie Ihrem Kind beibringen wollen. Wenn Sie Ihre lehrreichen Augenblicke in lernbare Momente verwandeln, indem Sie warten, bis Ihr Kind dafür empfänglich ist, dann wird es Ihre Unterweisung aufnehmen. Außerdem wird Ihr Kind etwas viel Besseres mitnehmen als eine Lektion über gutes Benehmen: nämlich eine Lektion in Selbstregulation. Und es wird die ebenso wichtige, unerschütterliche Überzeugung entwickeln, dass es mitsamt allen chaotischen und leidenschaftlichen Emotionen, die unser Verhalten antreiben und unser Menschsein ausmachen, ganz und bedingungslos geliebt wird.
»Aber soll mein Kind nicht lernen, dass alle Menschen ärgerlich werden, dass das zum Leben dazugehört; es ist doch normal und nicht furchterregend?« Erst, was die Eltern mit ihrem Ärger anstellen, erschafft die Überzeugung, dass Ärger furchterregend ist. Wenn Sie explodieren, lernt Ihr Kind, dass Ärger furchterregend ist. Wenn Ihr Kind dagegen sieht, dass Sie ärgerlich werden – und das lässt sich im Alltag einfach nicht vermeiden – und dann beobachtet, wie Sie innehalten, ein paar tiefe Atemzüge nehmen und dann Ihre Bedürfnisse ohne Angriff oder Tobsuchtsanfall äußern, dann haben Sie Ihrem Kind beigebracht, dass Ärger normal und eben nicht furchterregend ist. Außerdem haben Sie Ihr Kind gelehrt, wie man mit Ärger verantwortungsvoll umgeht und ihn sich auch noch zunutze macht, um eine Situation zu verbessern.
»Aber ich will nicht, dass mein Kind glaubt, Emotionen seien nicht erlaubt.« Gutes Argument! Hoffentlich fühlen wir uns mit unseren Gefühlen wohl genug, um sie zu achten, wenn sie in uns aufsteigen. Den ganzen Tag wechseln wir also von einer Emotion in die nächste. Glück/Zufriedenheit, Traurigkeit, Enttäuschung, Frustration, Freude – Emotionen kommen und gehen. Tränen fallen und Lächeln entsteht. Wenn wir all diese Emotionen akzeptieren und durch uns hindurchziehen lassen, ist es wahrscheinlicher, dass sie sich auflösen anstatt uns zu triggern. Wenn wir mit unseren Kindern darüber reden, wie man auf jene Emotionen konstruktiv reagiert, während man sie spürt, dann unterweisen wir sie in emotionaler Ganzheit (dem Integrieren von positiven und negativen Emotionen in ein Ganzes) und Selbstdisziplin. Also sagen Sie hoffentlich den Tag über immer wieder etwas von der Art:
• »Mir tut die warme Sonne am Rücken so wohl!«
• »Oh, nein! Der Boden ist mit Farbe bekleckst! Das bringen wir jetzt schnell in Ordnung.«
• »Ich vermisse meine Schwester. Es macht mich traurig, dass sie so weit weg wohnt.«
• »In fünf Minuten müssen wir aus dem Haus und ich mache mir Sorgen, wie wir das schaffen sollen. Was braucht jede noch, um startklar zu sein?«
• »Ich bin so frustriert, dass ich das nicht aufbekomme.«
• »Mich nerven all die Spielsachen auf dem Fußboden! Wir müssen beim Aufräumen zusammenarbeiten, damit wir es schaffen.«
Falls das Zulassen unserer Emotionen beinhaltet, manchmal weinend auf dem Fußboden zu sitzen, dann glaube ich, dass es Kindern guttut, das zu sehen. Wir können ja einfach erklären, dass wir gerade traurig sind und deshalb weinen, aber dass alles wieder gut wird. Und wenn unsere Kinder darüber bestürzt sind? Dann nehmen wir sie in die Arme und versichern ihnen, dass sie an unseren Tränen nicht schuld sind, dass jeder manchmal weinen muss und wir damit klarkommen. Das ist für ein Kind eine großartige Lernerfahrung, insbesondere wenn wir es dabei anlächeln und kurz danach darüber reden können. Auf diese Weise Vorbild zu sein, vermittelt den Kindern die Sicherheit, sich zu erlauben die ganze Bandbreite ihrer Emotionen zu fühlen. (Wenn Sie natürlich täglich weinen müssen, dann brauchen Sie Unterstützung, um heilen zu können, ohne Ihr Kind in diesen tiefgehenden emotionalen Heilungsprozess einzubeziehen.)
»Wenn ich aber meinem Kind gegenüber echt sein will?« Um authentisch zu sein, wird von Ihnen nie verlangt, Ihre Erfahrung auf jemand anderen ungefiltert »abzuwälzen«. Wie schon der Dalai Lama sagt: »Wenn möglich, sei freundlich. Es ist immer möglich.«15
Abgesehen davon, beinhaltet Ärger an sich nicht die ganze Wahrheit. Er ist die Verteidigungsreaktion des Körpers auf Angst, Machtlosigkeit, Trauer oder eine sonstige zutiefst verstörende Emotion. Wenn wir also wirklich beabsichtigen, unseren Kindern gegenüber authentisch zu sein, dann würden wir sie nicht anschreien, wenn sie keine Hausaufgaben machen wollen. Wir würden die tiefere Wahrheit zugeben: »Ich mache mir schreckliche Sorgen, dass du eine Lernstörung haben könntest, wenn du so handelst, … ich fühle mich machtlos, dich dazu zu bringen, deine Aufgaben zu erledigen, und ich habe Angst, du versagst in der Schule und ruinierst dein Leben.«
Aber natürlich wäre es ebenso schädlich im Namen der Authentizität dem Kind gegenüber unsere Urängste zu äußern. Auch jene Ängste sind nicht die Wahrheit. Angst ist selten die Wahrheit und schon gar nicht die ganze.
Die Lösung besteht darin, unsere Bedürfnisse auszudrücken, Grenzen zu setzen und das Problem mit unserem Kind partnerschaftlich anzugehen. Schließlich entstehen jene Emotionen aus Bedürfnissen. In diesem Beispiel ist Ihr Bedürfnis, dass Ihr Kind seine Hausaufgaben erledigt. Also würden Sie genau das tun, worum wir immer unsere Kinder bitten – das Bedürfnis ausdrücken, ohne dabei den anderen anzugreifen: »Ich möchte, dass du deine Hausaufgaben machst, weil das von der Schule verlangt wird. Mich frustriert es, wenn du die Aufgaben anscheinend nicht bereitwillig erledigst und ich sehe, dass sie dir wirklich keinen Spaß machen. Aber du kommst nicht darum herum, also lass uns herausfinden, wie du es schaffen kannst.«
»Aber was ist, wenn mein Kind auf die Straße rennt? Da muss es doch wissen, dass mich das wütend macht?!« Viel eher glaube ich, dass Ihr Kind erfahren soll, dass Sie darüber fürchterlich erschrocken waren. Jedes Kind übernimmt Sicherheitshinweise von seinen Eltern; nur so hat die Menschheit bis jetzt überlebt. Ihr Kind wird viel wahrscheinlicher Ihren Schrecken ernst nehmen als Ihren Ärger. Kinder spüren bei unserem Ärger sogar oft das Bedürfnis, uns auszutesten. Ihrem Kind gelegentlich zu sagen, wie sehr Sie sich über einen größeren Verstoß ärgern, ist wahrscheinlich unvermeidlich und wird ihm nicht schaden, aber es ist nicht der beste Weg, ihm etwas beizubringen oder seine Kooperation zu erreichen.
ÜBUNG
Geben Sie Ihren Bedenken Raum
Jedes Mal, wenn wir uns für Veränderung entscheiden, ist ein Teil von uns motiviert, den neuen Weg einzuschlagen. Aber ein anderer Teil hängt noch loyal am Vorherigen. Solange wir diese Anteile in uns nicht anerkennen und auf ihre Bedenken eingehen, entsteht in uns keine Einheit für das neue Ziel. Wir blockieren selbst unsere Veränderung.
Denken Sie über die Ideen nach, die Sie über Selbstregulation gelernt haben. Spüren Sie irgendwelche Ängste oder Vorbehalte dagegen, diesen Ansatz auszuprobieren? Zählen Sie im Folgenden alles auf. Dann gehen Sie, so gut Sie können, mit dem bisher Gelerntem auf jeden Vorbehalt ein und schreiben die Antwort daneben. Falls Ihnen noch nichts einfällt, markieren