der Beweislage in diesen Studien sowie in Hunderten weiteren, die Jahr für Jahr veröffentlicht werden, ist, dass an der Praxis der Achtsamkeit etwas dran sein muss, das einen großen Einfluss auf unsere Biologie, unsere Psychologie und sogar auf unsere Interaktionen miteinander, also unsere Sozialpsychologie, haben kann. Zwar steckt die wissenschaftliche Forschung zu Meditation noch immer in den Kinderschuhen, doch inzwischen ist sie deutlich ausgereifter als vor zwölf Jahren. Wenn Sie sich für einige der beständigsten Befunde interessieren, die einerseits aus zahlreichen Studien an Mönchen und Nonnen stammen, die auf Zehntausende Stunden Meditationspraxis zurückblicken, und andererseits aus Studien an Menschen, die an MBSR- und MBCT-Kursen teilgenommen haben, empfehle ich Ihnen, einen Blick in das Buch Altered Traits von meinen Kollegen Richard Davidson und Daniel Goleman zu werfen, das im Oktober 2017 erschienen ist. Darin sind viele der besten Studien und deren Befunde zusammengefasst. Da das Feld inzwischen so weit geworden ist und weiterhin rapide wächst, habe ich in diesem Buch darauf verzichtet, jüngere Studien im Detail zu schildern, obgleich ich einige davon erwähne. Falls Sie die neuesten Entwicklungen genauer nachvollziehen möchten: Eine Reihe von ausgezeichneten Büchern zum Thema, hauptsächlich von Wissenschaftlerinnen für eine Laienleserschaft verfasst, sind in den Literaturverweisen am Ende dieses Buches aufgelistet, daneben auch einige, die sich eher an ein wissenschaftlich und medizinisch versiertes Publikum richten.
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Wenn wir die formale Meditationspraxis in unser alltägliches Leben hinein ausweiten, dann wird das Leben selbst zu unserem Achtsamkeitslehrer. Es bietet uns zudem das beste Curriculum für unsere Heilung, nämlich genau da ansetzend, wo wir uns sowieso gerade befinden. Die Prognose ist sehr gut: Auch Sie können von dieser neuen Seinsweise profitieren, wenn Sie sich mit ganzem Herzen der Praxis widmen und einen der zahlreichen Zugangswege nutzen, die Ihnen durch Ihr Menschsein an sich und in Ihren aktuellen Umständen offen stehen. Jeder Umstand, egal wie ungewollt oder schmerzhaft, ist eine potenzielle Tür in die Heilung. In der Welt der Achtsamkeit als Praxis und als Seinsweise gibt es viele, viele Türen. Sie alle führen in den gleichen Raum, den Raum des Gewahrseins an sich, den Raum des eigenen Herzens, den Raum Ihrer eigenen innewohnenden Ganzheit und Schönheit. Ganzheit und Schönheit sind bereits da, in Ihnen, wie auch Ihre intrinsische Fähigkeit zu Wachheit, selbst unter den aufreibendsten Umständen.
Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu etablieren, bedeutet eine große Veränderung des eigenen Lebensstils, wie MBSR-Teilnehmerinnen meist schnell selbst herausfinden, auch wenn sie das stets gesagt bekommen, bevor sie sich anmelden. Aber wenn wir die Disziplin einer täglichen formalen Achtsamkeitspraxis als Experiment durchführen und uns, so gut es uns gelingt, mit ganzem Herzen jeden Tag aufs Neue darauf einlassen, entdecken wir bald, dass wir einige Freiheitsgrade in unserer Entscheidung haben, wie wir uns auf das Unerwünschte oder das Beängstigende in unserem Leben beziehen, – ohne dabei zu leugnen, wie unerwünscht oder beängstigend manche Dinge sein können. In genau dieser Kultivierung von Achtsamkeit, als formale Meditationspraxis und als Seinsweise, entdecken wir, dass wir kraftvolle innere Ressourcen haben, aus denen wir schöpfen können, wenn wir dem Unerwünschten, Stressigen, Schmerzhaften oder Erschreckenden ins Auge blicken. Wir erleben, dass wir zahllose Gelegenheiten haben, uns dem, was auftaucht, zuzuwenden und uns damit anzufreunden, anstatt davor davonzulaufen oder uns einzumauern – ihm sozusagen den roten Teppich auszurollen. Warum? Aus dem einfachen Grund, dass es ohnehin bereits da ist. Und das Gleiche gilt für das Erwünschte, das Angenehme, das Verführerische, für Verstrickungen aller Art. Auch diese Erfahrungen können zu Objekten unserer Aufmerksamkeit werden, sodass wir uns vielleicht weniger darin verfangen oder sogar süchtig danach werden auf Weisen, die uns und anderen schaden oder uns von unseren eigentlichen Absichten ablenken.
Und genau an dieser Stelle kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Es ist tatsächlich eine neue Seinsweise… eine neue Weise, in Beziehung zu den Dingen zu sein, so wie sie in diesem Moment sind, ob wir die Umstände, in denen wir uns befinden, nun mögen oder nicht, und unabhängig von unseren Gedanken darüber, was diese Umstände für die Zukunft bedeuten mögen. In der Praxis können wir Nicht-Wissen erkunden; wir können lernen, darin zu verweilen, und zumindest für diesen einen Augenblick mit dem Nicht-Wissen in Frieden zu sein. Es ist eine eigene Form von tiefer und heilsamer Intelligenz, sich damit vertraut zu machen und sogar damit einverstanden zu sein, zu wissen, dass wir nicht wissen. Zum einen befreit uns das von extrem eingrenzenden oder größtenteils nicht zutreffenden Geschichten, die oft auf Angst basieren und die wir nie müde werden, uns selbst zu erzählen, aber so gut wie nie wirklich darauf hin untersuchen, ob sie tatsächlich wahr sind, oder zumindest wahr genug in Anbetracht der Umstände, in denen wir uns befinden. Die meisten Gedanken, die das Wort sollte beinhalten, fallen wahrscheinlich in diese Kategorie. Wir denken, dass die Dinge auf eine bestimmte Weise sein sollten, aber stimmt das denn überhaupt?
Diese neue Seinsweise lädt zu etwas ein, das zunächst so wirken mag, als würden Sie sich selbst und die Welt ein klein wenig anders betrachten. Wie klein dieser Wandel auch sein mag, er ist zugleich auch riesig, tiefgreifend und vielleicht sogar befreiend, so wie er es für Margaret Donald war, die Verfasserin des obenstehenden Briefes. Wenn Menschen, oft sehr emotional, davon sprechen, dass die Praxis ihnen ihr Leben zurückgegeben oder es gerettet habe, nehme ich an, dass sie sich auf diesen kleinen Wandel, der gar nicht so klein ist, hin zu einer neuen Seinsweise beziehen.
Durch stete Hinwendung, Zugewandtheit und Sanftheit – und genau darum geht es bei den formalen und informellen Achtsamkeitsübungen, die in Teil 2 detailliert beschrieben werden – sind wir nun in der Lage, Achtsamkeit als Seinsweise zu leben. Wenn Achtsamkeit ein Diamant mit vielen Facetten wäre, dann könnte man sich jedes Kapitel in diesem Buch als eine von potenziell unendlich vielen einzigartigen Facetten vorstellen, von denen eine jede eine Eintrittspforte in die kristalline Struktur Ihrer eigenen Ganzheit und inneren Schönheit darstellt.
Man könnte aber auch eine andere Metapher verwenden und sagen, dass Achtsamkeit uns eine Reihe von fein geschliffenen Linsen anbietet, durch die wir einen Blick darauf werfen können, wie wir das, was in unserem Leben auftaucht, sei es erwünscht oder unerwünscht, in jedem Moment aufs Neue willkommen heißen und in der Tiefe betrachten können. Im zweiten Teil dieses Bandes stelle ich eine ganze Reihe solcher Perspektiven dar; viele davon stammen aus meiner eigenen Erfahrung. Doch es gibt unzählige weitere, die sich aus Ihrem eigenen Leben und Ihrer eigenen Kultivierung von Achtsamkeit ergeben werden, wenn Sie sich mit ganzem Herzen darauf einlassen, und sei es nur als Experiment für eine gewisse Zeit, damit Sie selbst sehen können, was sich daraus entfaltet.
Diese neuen Perspektiven werden Ihnen letztlich vielleicht helfen, Ihre jeweiligen eigenen Lebensumstände und Herausforderungen dazu zu nutzen, sich selbst an Ihrer eigenen Tür willkommen zu heißen, wie im letzten Kapitel dieses Buches vorgeschlagen, und mithin Ihre eigene ursprüngliche Fülle und Schönheit zu erkennen, wiederzuentdecken und zu verkörpern. Dies kann sich nur von Moment zu Moment entfalten, insbesondere, wenn Sie sich dazu entschließen, Ihr Leben so zu leben, als käme es wirklich darauf an, und zwar in dem einzigen Moment, den Sie, genau wie wir alle, je haben werden.
»So lange Sie atmen, ist mehr mit Ihnen in Ordnung, als mit Ihnen nicht stimmt, ganz egal, was das Problem ist«, sagen wir oft zu den Menschen, die für einen MBSR-Kurs in die Stress Reduction Clinic kommen. Achtsamkeit zu kultivieren ist ein Weg, Energie in Form von Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Akzeptanz in das fließen zu lassen, was bereits mit Ihnen stimmt, was bereits heil ist, in Ergänzung zu und nicht als Ersatz für die Hilfe, die Unterstützung und die Behandlungen, die Sie gegebenenfalls bekommen oder benötigen – und zu sehen, was dann passiert.
Für dieses lebenslange Abenteuer wünsche ich Ihnen das Allerbeste.
Jon Kabat-Zinn
Northampton, MA
16. Mai 2018
1 Farb, Norman et al., Attending to the present: Mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference. In: Social Cognitive and Affective Neuroscience, 2 (4), 2007, S. 313–322. Auf: www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18985137 (Stand: 22. 11. 2019) (doi: 10.1093/scan/nsm030)
2 Gedankenabschweifung und Tagträumerei werden unterschiedlich definiert. Das Abschweifen