Jon Kabat-Zinn

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit


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nach und nach immer komplexere Nervensysteme entwickelten, bis dann irgendwann wir selbst auf den Plan traten.

      Aus dieser Sicht gibt es keinen inhärenten Grund dafür, anzunehmen, dass wir nicht eines Tages Leben erzeugen können, auch wenn wir bis heute nicht einmal auf der Ebene einer einzelnen Zelle, nicht einmal auf der Ebene eines ganz »einfachen« einzelligen Organismus wie eines Bakteriums das verstehen, was wir »Leben« nennen, und tatsächlich wurde im Jahr 2010 das erste vollständig synthetische Bakterium hergestellt. In einem ähnlichen Durchbruch gelang es Forschern, das Polio-Virus im Labor aus einfachen Chemikalien anhand der im Internet gefundenen Informationen über die genetische Sequenz des Virus zusammenzusetzen. Nachdem sie es erzeugt hatten, konnten sie zeigen, dass es infektiös war und sich in einer lebenden Zelle replizieren und neue Viren erzeugen konnte – womit bewiesen war, dass keine »zusätzliche« Lebensenergie notwendig war.

      Diese Perspektive, dass lebende Systeme nicht durch ein »zusätzliches« nichtmaterielles Elements belebt werden, ist in der Biologie ein Bollwerk gegen das, was früher »Vitalismus« genannt wurde, nämlich die Überzeugung, dass es einer besonderen Energie bedarf, die jenseits der von Physik, Chemie und Biologie erklärbaren Kräfte besteht, und nicht allein dadurch zustande kommt, dass das Leben über sehr lange Zeiträume seine einzigartigen Eigenschaften entwickelt, zu denen auch das Bewusstsein gehört. Der Vitalismus wurde als mystisch, irrational, antiwissenschaftlich und schlichtweg falsch angesehen. Und nach der bisherigen historischen Bilanz war und ist er es auch. Das heißt jedoch nicht, dass eine reduktionistische und rein materialistische Sichtweise richtig sein muss. Es gibt verschiedenste Methoden, das Mysterium des Lebens wissenschaftlich zu erforschen und zu verstehen, Methoden, die höhere Ordnungen von Phänomenen und deren emergente Eigenschaften in Betracht ziehen und anerkennen.

      Vom Standpunkt der Biologie aus gibt es an der Basis lebender Systeme, einschließlich des Menschen, nichts anderes als unpersönliche Mechanismen. Sie sieht die Emergenz des Lebens selbst als eine Folge einer umfassenderen Emergenz, nämlich der Evolution des Universum und all der geordneten Strukturen und Prozesse, die sich darin entfalten. An einem bestimmten Punkt dieser Evolution, vielleicht vor etwa drei Milliarden Jahren, als die Bedingungen günstig waren auf dem noch jungen Planeten Erde – der sich aus dem interstellaren Staub gebildet hatte, welcher den in Entstehung befindlichen Stern umgab, den wir heute unsere Sonne nennen, einem Staub, der selbst wiederum das Ergebnis eines kolossalen Zerfalls früherer Sterne auf dem Weg über einen Gravitationskollaps war, in dem außer Wasserstoff eben die Atome entstanden, aus denen unser Körper und alles andere auf diesem Planeten gemacht ist –, konnte es gar nicht anders kommen als zur Synthese von Biomolekülen durch natürlich auftretende anorganische Prozesse in warmen Tümpeln und Ozeanen in Millionen und Abermillionen Jahren, vielleicht ausgelöst von Blitzen, von Tonerden und anderen unbelebten Mikroumgebungen, die auf verschiedene Weise zu solchen Prozessen beitragen können. In genügend langen Zeiträumen fanden diese verschiedenen Biomoleküle Möglichkeiten, entsprechend den Gesetzen der Chemie zu interagieren, was zur Entstehung rudimentärer Polymerketten von Nukleotiden (dem Stoff, aus dem die DNS und die RNS gemacht sind) und von Aminosäuren mit ganz bestimmten Eigenschaften führte.

      Ihrer Natur nach besitzen Polynukleotidketten die Fähigkeit, mittels der Sequenz der vier Basen, aus denen sie bestehen, große Mengen an Informationen zu speichern; außerdem können sie sich selbst durch Replikation mit hoher Präzision verdoppeln und dabei diese Informationen bewahren, oder es kann unter bestimmten Bedingungen zu kleinen Veränderungen kommen, wodurch als Mutationen bezeichnete Varianten erzeugt werden, die in seltenen Fällen einen selektiven Vorteil im Wettstreit um natürliche Ressourcen haben können. Diese Informationen in den Polynukleotidketten werden in die lineare Sequenz von Aminosäuren übersetzt, die jene Polynukleotidketten bilden, die, wenn sie eingefaltet sind, Proteine genannt werden, sozusagen die Arbeitspferde der Zelle, die all ihre Tausende von chemischen Reaktionen ausführen, in welchem Fall sie Enzyme genannt werden; und die eine Myriade struktureller Schlüsselbausteine zur Verfügung stellen, aus denen die Zellen erzeugt werden, in welchem Fall sie strukturelle Proteine genannt werden.

      Was genau geschehen ist, dass überhaupt eine organisierte Zelle entstand, wenn auch eine äußerst primitive Zelle, lässt sich bis heute nicht erklären. Aber in der Biologie ist man der Meinung, dass es im Prinzip verstanden werden kann und eines Tages auch wird – und alles, was nötig sein wird, um es zu verstehen, wird ein tieferes Verständnis komplexer Systeme aus Molekülen sein, die selbst keine Lebenskraft besitzen außer dem Vermögen, unter günstigen Bedingungen und im Zusammenwirken mit vielen anderen solcher Moleküle unvorhersehbare neue Phänomene emergieren zu lassen, einschließlich, und das ist wichtig, der Stabilisierung, Speicherung und Wiederherstellung von Informationen und der Modulation des Informationsflusses. In diesem Sinne ist das Leben eine natürliche Erweiterung der Evolution des Universums, sobald einmal Sterne und Planeten entstanden sind, welche die notwendigen Bedingungen bereitstellen, unter denen auf chemischen Prozessen basierende lebende Systeme emergieren können. Und Bewusstsein, das dann in lebenden Systemen emergiert, welche denselben Gesetzen der Physik und Chemie gehorchen, wenn die Bedingungen günstig sind, es genügend Zeit dafür gibt und der Selektionsdruck groß genug ist, damit sich eine solche Ebene der Komplexität entwickeln kann, wird deshalb als eine natürliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche Emergenz aus einem evolutionären biologischen Prozess betrachtet, der leer von einer treibenden Kraft, leer von Teleologie und ganz und gar nicht mystisch ist.

      Wenn Bewusstsein, zumindest ein chemisch begründetes Bewusstsein, bereits als potenzielle Möglichkeit in ein sich entwickelndes Universum eingebaut ist, und es sich aus diesem Potenzial entwickelt, sofern geeignete Anfangsbedingungen gegeben sind und genügend Zeit vorhanden ist, dann könnte man sagen, dass das Bewusstsein in lebenden Organismen eine Weise des Universums ist, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu sehen, ja sogar sich selbst zu verstehen. Wir könnten sagen, dass in der unermesslichen Weite allen Seins diese Gnade uns zuteil geworden ist, dem Homo sapiens sapiens, zumindest allem Anschein nach in stärkerem Maße als allen anderen Spezies auf diesem unendlich winzigen Staubkorn, das wir in der unvorstellbaren Weite des sich ausdehnenden Universums bewohnen, in diesem Universum, in dem unsere Art von Materie, aus der unser Körper ebenso besteht wie die Planeten und sämtliche Sterne, nur einen winzig kleinen prozentualen Anteil der Substanz und Energie des Universums auszumachen scheint.3 Dieser Ansicht zufolge ist unsere Fähigkeit zu Bewusstsein uns nicht aufgrund irgendeiner moralischen Tugend zugefallen, sondern durch reinen Zufall, durch die Wechselfälle des evolutionären Selektionsdrucks auf die Spezies der baumbewohnenden Primaten, von denen sich einige, als sie sich in die Savannen hinausbewegten, sich zum aufrechten Gehen hin entwickelten, wodurch ihre Arme und Hände zu anderem Gebrauch frei und ihr Gehirn vor die Aufgabe gestellt wurde, mit einem größeren Spektrum an Herausforderungen umzugehen. Hier ist natürlich von unseren direkten Vorfahren die Rede.

      Wie wir unsere ererbte Empfindungsfähigkeit verstehen und was wir individuell und kollektiv als Spezies damit anfangen, ist ohne Zweifel eine der entscheidendsten Fragen der heutigen Zeit. Der biologischen Sicht auf lebende Systeme mit ihrer ganz unpersönlichen Natur zufolge wohnt der Entfaltung des Lebens keine mystische Dimension inne. Sie besagt, dass Bewusstsein den Prozess nicht etwa lenkt, sondern aus dem Prozess emergiert, wenn auch das Potenzial für seine Emergenz die ganze Zeit latent vorhanden war. Nichtsdestoweniger kann Bewusstsein, wenn es erst einmal hoch genug entwickelt ist, tiefgreifenden Einfluss auf alle Bereiche des Lebens haben, und zwar durch unsere Entscheidungen darüber, wie wir leben und worin wir unsere Energie investieren wollen, und dadurch, dass wir anerkennen, welchen Einfluss wir auf unsere Welt haben. Empfindungsfähigkeit konnte nur durch die passenden Ursachen und Bedingungen emergieren, und dass diese eintreten, war keineswegs zwangsläufig. Wären sie allerdings nicht vorhanden gewesen, dann wäre auch niemand von uns da, um ihre Abwesenheit überhaupt bemerken zu können.

      Wenn wir selbst also ein Produkt unpersönlicher Ursachen und Bedingungen sein sollen, die den Gesetzen von Physik und Chemie unterliegen, wie komplex auch immer diese sein mögen, und wenn es keine »Lebenskraft« hinter all dem gibt, dann können wir sehen, warum der Antivitalismus der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, zu der Behauptung führt, dass es so etwas wie die Seele als ein entscheidendes Zentrum in einem fühlenden Wesen, das anderen Gesetzen gehorcht als denen der Physik und Chemie, nicht gibt. Im 17. Jahrhundert behauptete