Jon Kabat-Zinn

Das heilende Potenzial der Achtsamkeit


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und damit, ersteren zu maximieren und letzteren zu minimieren. Dann könnten wir vielleicht durch diesen von uns selbst erzeugten Schleier, der auf subtile oder nicht so subtile Weise auf jeden Aspekt unserer Erfahrung abfärbt, hindurchsehen. Wir könnten uns selbst vielleicht sehr viel besser hören. Wir würden uns und die Geschichten, die wir darüber erfinden, wie die Dinge sein müssten, damit wir glücklich sein können und damit sie nach »unseren Vorstellungen« laufen, vielleicht weniger ernst nehmen.

      Würden wir das tun, dann würden wir vielleicht auch mit einem größeren Gefühl von Leichtigkeit unseren Körper bewohnen und in der Welt leben, dann würden wir vielleicht sehr viel mehr über die bloße Tatsache unserer Existenz, die bloße Tatsache des Erkennens staunen, ohne uns allzu sehr in das feste Gefühl eines »Erkennenden« verrennen zu müssen, das sich von dem Erkannten abspaltet und damit sowohl ein Subjekt (ein Ich) als auch ein Objekt da draußen (das vom Subjekt erkannt wird) erzeugt sowie Distanz schafft zwischen den beiden statt Nähe in ihrer Wechselseitigkeit, einem gemeinsamen Entstehen mit dem Gewahrsein und im Gewahrsein. Stellen Sie sich vor, wir wären auf diese Weise weniger mit uns selbst beschäftigt, wir müssten nicht ständig unsere engstirnigen Pläne vorantreiben, weil wir sähen und wüssten, dass die Ichempfindung an sich leer ist von inhärenter Existenz, dass sie nur den Anschein der Existenz erweckt und dass eine starke Identifizierung mit ihr uns gefangenhält in einer verzerrten, verarmten und eklatant unvollständigen Sicht auf unser Sein und auf unser Leben, insbesondere in Beziehung mit dem Leben anderer und auf unseren Pfad in dieser Welt.

      Was das angeht, so ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, dass unsere Ichempfindung uns die ganze Zeit glauben macht, wir seien nicht vollständig. Sie sagt uns, dass wir anderswohin gelangen müssen, dass wir etwas Erstrebenswertes erlangen müssen, dass wir ganz werden, glücklich werden, etwas verändern, weiterkommen müssen – und all das mag zum Teil richtig und im relativen Sinne wahr sein, und in diesem Maße sollten wir diese Stimmen auch ernst nehmen. Aber unsere Ichempfindung vergisst, uns daran zu erinnern, dass auf einer tieferen Ebene, jenseits der Erscheinungen und der Zeit, all das, was es zu erreichen gilt, bereits jetzt hier ist, und dass es nicht möglich ist, das Selbst zu verbessern. Wir können lediglich seine wahre Natur als gleichermaßen leer wie voll und als ausgesprochen nützlich erkennen.

      Wenn wir das zutiefst erkennen, wenn wir es mit unserem ganzen Sein erkennen – eine Fähigkeit, die die sich durch beständige Achtsamkeitspraxis entwickelt – dann vermögen wir in diesem Wissen selbst zu ruhen und können wesentlich weniger egozentrisch in der Welt handeln, zum Wohle anderer Lebewesen, mit einer gewaltlosen Haltung und ohne etwas erzwingen zu wollen. Wir sind dazu in der Lage, weil wir auf einer grundlegenden Ebene erkennen, dass die »anderen« immer auch wir selbst sind. Diese wechselseitige Verbundenheit ist ursprünglicher Natur. Sie ist der Geburtsort von Einfühlung und Mitgefühl, unseres Gefühls für die anderen, unseres Impulses und unserer Veranlagung, uns an die Stelle eines anderen zu setzen, mit einem anderen zu fühlen. Das ist die Grundlage von Ethik und Moral, auf der wir wahrhaft menschlich werden können – jenseits des potenziellen Nihilismus und des unbegründeten Relativismus, der aus einer rein mechanistischen und reduktionistischen Sichtweise des Geistes und des Lebens entspringt.

      Von diesem Standpunkt aus gesehen, sind Sie in einem ganz wirklichen Sinn nicht diejenige, die Sie zu sein glauben. Und alle anderen Menschen sind auch nicht das, was sie zu sein glauben. Wir alle sind viel größer und viel geheimnisvoller. Haben wir das erst einmal erkannt, erweitern sich unsere kreativen Fähigkeiten enorm, weil wir verstehen, wie wir uns letztlich selbst im Weg stehen und uns klein machen durch unsere zwanghafte Beschäftigung mit uns selbst und unsere Selbstzentriertheit, unser Beschäftigtsein mit dem, was wir für wichtig halten, was aber in Wahrheit nicht wesentlich ist.

      Das ist keine Kritik. Es ist bloß eine Tatsache.

      Es ist also nicht persönlich gemeint, darum fassen Sie es bitte nicht so auf.

       Ich bin nicht ich.

       Ich bin der,

       der neben mir geht

       und den ich nicht sehe,

       den ich gelegentlich zu besuchen vermag

       und den ich zu anderen Zeiten vergesse…

      JUAN RAMÓN JIMÉNEZ

      (nach der englischen Übersetzung von Robert Bly)

       Genug. Diese wenigen Worte genügen.

       Wenn nicht diese Worte, dann dieser Atem.

       Wenn nicht dieser Atem, dann dieses hier Sitzen.

       Diese Öffnung für das Leben,

       der wir uns verweigert haben,

       wieder und immer wieder,

       bis jetzt.

       Bis jetzt.

      DAVID WHYTE

      3 In der Tat sind Kosmologen heute der Ansicht, dass das Universum zu etwa 30 Prozent aus »dunkler Materie« besteht, die vielleicht in schwarzen Löchern eingefangen ist, und zu mehr als 65 Prozent aus »dunkler Energie«, die möglicherweise für die Kraft hinter der Ausdehnung des Universums, eine Art Anti-Schwerkraft, verantwortlich ist.

      Selbst unsere Moleküle berühren sich

      

Der Kognitionswissenschaftler, Neurobiologe, neurophänomenologische Philosoph und engagierte Dharma-Praktizierende Francisco Varela war Mitbegründer des Mind Life Institute, das regelmäßig Symposien mit Dialogen zwischen Naturwissenschaftlern und dem Dalai Lama organisiert. Er starb 2001 im Alter von 54 Jahren. Francisco Varela pflegte jene Eigenschaften des Immunsystems zu betonen, die über dessen Rolle als effektives Verteidigungssystem gegen Eindringlinge von außen hinausgehen. Denn das Immunsystem dient auch als ein System der Selbstwahrnehmung, und es verfügt über Mechanismen, die es dem Körper erlauben, durch molekulare Berührung ständig seine »Selbstheit« zu überwachen und zu bestätigen, also die völlig einzigartige molekulare Identität all der Strukturen, aus denen er besteht. Gleichzeitig betonte Varela, dass diese »Selbstheit«, die die Einzelne als »ihre« körperliche Identität bezeichnen würde, tatsächlich nicht mehr unabhängige Existenz besitzt als wir selbst, sondern dass sie dynamisch aus den komplexen Interaktionen zwischen den verschiedenen Bestandteilen des Körpers entsteht.

      Manchmal wird das Immunsystem auch das »zweite Gehirn« des Körpers genannt, weil es in der Lage ist, zu lernen und sich zu erinnern, und weil es sich an sich verändernde Bedingungen anpassen kann. Anatomisch gesehen, ist es teilweise in der Thymusdrüse, im Knochenmark und in der Milz angesiedelt, ist aber auch insofern nicht lokalisiert, als seine Lymphozyten und die Antikörper-Moleküle, von denen diese produziert werden, selbstständig im Blut und in der Lymphe zirkulieren können. Lymphozyten haben spezialisierte Rezeptormoleküle (einschließlich der Antikörper), die in ihre Membran eingebettet sind und es ihnen erlauben, die Konturen und die Architektur des Körpers auf der molekularen Ebene zu »fühlen«, die Topologie seiner zirkulierenden Moleküle, seiner Zellen, Organe und Gewebe, und die es dem Körper dadurch erlauben, sich selbst zu erkennen und nicht zum Selbst gehörige »fremde Eindringlinge« durch ständige Überwachung und hoch spezialisierte Molekülerkennung aufzuspüren.

      Selbst in Abwesenheit von fremden Eindringlingen oder Krankheitsprozessen scheint es einen ständigen Dialog zwischen allen Mitgliedern des Zellverbundes, die den Körper bilden, zu geben, einem Dialog, der mit Hilfe der Sprache und der Signale des Immunsystems geführt wird. Durch diese Kommunikation werden all die verschiedenen Funktionen des Körpers auf der zellulären Ebene koordiniert. Ohne einen solchen Dialog würde der Körper zerfallen. Francisco Varela bemerkte dazu:

      »Sinnesorgane wie Augen und Ohren, die das Gehirn mit der Umwelt verbinden, haben Parallelen in einer Reihe von Lymphorganen. Das sind ganz bestimmte Regionen, die als Sensoren fungieren und mit Reizen interagieren, zum Beispiel Bereiche im Darm, die ständig