zumal es keinen Grund gibt, eine dauerhafte Entität oder Energie zu postulieren, die immateriell ist und dem Organismus innewohnt oder mit diesem irgendwie verbunden ist und dessen Weg durchs Leben lenkt. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Leben und die Fähigkeit zu Empfindungen nicht ein großes Mysterium sind und damit heilig, so wie auch das gesamte Universum ein großes Mysterium ist. Es heißt auch nicht, dass wir nicht von der Seele sprechen können, wenn wir damit das meinen, was sich tief in der Psyche und im Herzen bewegt, und auch nicht von der Quelle der Erbauung und Wandlung, die wir »Geist« im spirituellen Sinne nennen. Es impliziert ebenfalls nicht, dass unsere persönlichen Gefühle und unser persönliches Wohlergehen unwichtig wären und dass es keine Basis für ethisches und moralisches Handeln oder für die Empfindung des Numinosen gäbe. Tatsächlich könnten wir sagen, dass es unsere Natur und Berufung als fühlende Wesen ist, unsere Situation mit Ehrfurcht und Staunen zu betrachten und uns tiefe Fragen über das Potenzial zur Erweiterung unserer Empfindungsfähigkeit zu stellen und diese einzusetzen für das Wohlergehen anderer und dessen, was in dieser lebendigen Welt das Schönste und das Heiligste ist – so heilig, dass wir uns weit effektiver davor hüten würden, der Welt so respektlos zu begegnen oder sie womöglich sogar durch unsere Unreife zu zerstören.
Die Buddhisten haben ein ähnliches Verständnis von der unpersönlichen Natur der Phänomene. Wie wir schon am Beispiel der Herz-Sūtra gesehen haben (siehe Band 1 im Kapitel Leere), hat der Buddha auf der Grundlage seiner eigenen persönlichen Forschungen und Erfahrungen gelehrt, dass die gesamte erfahrbare Welt – also das, was er die fünf skandhas (Aggregate, Anhäufungen) nannte, nämlich Form, Empfindung, Wahrnehmung, psychische Formkräfte und Bewusstsein – leer ist von jeglichen dauerhaften und aus sich selbst existierenden Eigenschaften. So sehr man auch danach suchen mag, es wird einem nicht gelingen, eine dauerhafte, unveränderliche Selbstheit in oder unter den Phänomenen aufzufinden, den unbelebten und den belebten einschließlich unserer selbst, weil alles wechselseitig miteinander verknüpft ist und jede Manifestation einer Form oder eines Prozesses in ihrer individuellen Emergenz und in Bezug auf ihre charakteristischen Eigenschaften von einem sich ständig wandelnden Gefüge von Ursachen und Bedingungen abhängt. Der Buddha fordert uns heraus, selber hinzusehen und nachzuforschen, ob dem so ist oder nicht, ob das Selbst oder Ich nicht einfach ein Konstrukt ist, so wie unsere Sinne irgendwie zusammenwirken, um sowohl die Welt, die »da draußen« zu sein scheint, als auch die Empfindung einer Person »hier drinnen«, die die Welt wahrnimmt, zu konstruieren.
Nun, wie könnten wir aber dann das Gefühl haben, dass es ein Selbst gibt, dass wir ein Ich sind und dass das, was geschieht, »mir« geschieht; – dass jeden Morgen dasselbe Ich aufwacht und sich als solches im Spiegel wiedererkennt? Sowohl die moderne Biologie und Kognitionswissenschaft als auch der Buddhismus würden sagen, dass dies in gewisser Weise eine Fehlwahrnehmung ist, die zu einer beständigen individuellen und kulturellen Gewohnheit geworden ist. Wenn Sie sich jedoch auf den Prozess einer systematischen Suche nach diesem Ich oder Selbst einlassen, so behaupten beide, dann werden Sie kein beständiges, eigenständiges Selbst finden, ob Sie nun in »Ihrem« Körper – einschließlich seiner Zellen, spezialisierten Drüsen, seinem Nervensystem, Gehirn und so weiter – oder in »Ihren« Gefühlen, Überzeugungen, Gedanken, Beziehungen oder sonstwo suchen.
Und der Grund dafür, dass Sie nirgendwo ein dauerhaftes, isoliertes, aus sich selbst existierendes Ich finden können, das »Sie« sind, besteht darin, dass dieses Ich ein Trugbild ist, eine holographische Emergenz, ein Phantom: das Produkt eines an Gewohnheiten gebundenen und emotional aufgewühlt denkenden Geistes. Dieses »Ich« wird ständig, von Moment zu Moment, konstruiert und wieder dekonstruiert. Es ist andauernd dem Wandel unterworfen und deshalb im Sinne von etwas Identifizierbarem und Isolierbarem weder dauerhaft noch wirklich. Es ist eher virtuell als solide, zumindest metaphorisch vergleichbar mit den virtuellen Elementarteilchen, die für kurze Augenblicke im Quantenschaum des leeren Raumes aus dem Nichts aufzutauchen scheinen und sich sofort wieder in das Nichts auflösen. Das, was wir das Selbst nennen, könnte man in der Welt der Chaostheorie auch als einen »seltsamen Attraktor« bezeichnen, ein dynamisches Muster, das sich ständig verändert, aber immer selbst-ähnlich bleibt. Mehr oder weniger sind Sie, wer Sie auch gestern schon waren, aber doch nicht genau die oder der Gleiche.
Lassen Sie uns ein wenig mit dieser Vorstellung spielen und unter die Lupe nehmen, was wir meinen, wenn wir von »meinem Körper« sprechen. Wer sagt das? Wer behauptet da, einen Körper zu »haben« und damit von ebendiesem Körper getrennt zu sein? Das ist doch ziemlich mysteriös, nicht wahr? Unsere Sprache selbst ist selbst-referentiell – sie verweist auf ein Selbst. Sie verlangt, dass wir von »unserem« Körper sprechen – zählen Sie nur einmal, wie oft ich auf dieser Seite ein Personalpronomen benutzen muss, um Irgendetwas über uns auszusagen –, und wir gewöhnen uns daran, zu denken, dass es eben das ist, was wir sind, oder doch zumindest ein großer Teil dessen, was wir sind. Das wird zu einem nicht hinterfragten Teil unserer konventionellen Realität. Auf der Ebene der Erscheinungen ist das, relativ gesprochen, natürlich auch der Fall.
In den meisten Fällen würden wir nicht »eine Hand« oder »ein Bein« oder »einen Kopf« sagen, sondern wir würden das Personalpronomen »mein« verwenden, weil, relativ gesehen, dieser unser Körper (da haben Sie es schon wieder) in einer Beziehung zu der Sprechenden steht, wer immer das ist. Sprächen wir von »unserer Hand« als »einer Hand«, erschiene uns das distanziert, entfremdet, irgendwie unverkörpert und krankhaft. Es gibt also eine geheimnisvolle Beziehung zwischen mir und meinem Körper, jedoch eine, die wir gewöhnlich in keiner Weise hinterfragen. Weil sie nicht hinterfragt wird, verfallen wir so leicht darauf, zu glauben, dass es »unser« Körper ist, ohne uns bewusst zu sein, dass wir gar nicht genau wissen, wer es ist, die da behauptet, die Besitzerin zu sein, und dass dieser Besitzanspruch nur eine Sprachfloskel ist und keine Tatsache. Natürlich ist das relativ wahr (schließlich ist es nicht der Körper von jemand anderem – würden wir das denken oder fühlen, dann wären wir in großen Schwierigkeiten und uns stünde wohl die Einweisung in eine Nervenklinik bevor), doch aus der absoluten Sicht gilt das nicht. Wenn das, was der Herz-Sūtra besagt, wahr ist, dann ist die Erscheinung an sich leer.
Dasselbe trifft auch auf den Geist zu. Wessen Geist ist es denn? Und wer macht sich die Mühe, einen Geist zu erfinden? Und wer will das wissen? Wer liest gerade diese Zeilen?
Nehmen wir einmal an, die Biologinnen und die Buddhistinnen hätten recht – obwohl der Geist für die Buddhistinnen durchaus einer anderen Dimension angehört, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit besitzt, und er zwar mit materiellen Phänomenen, also dem Gehirn, in Zusammenhang gebracht, jedoch nicht auf Materie reduziert werden kann. Als Lebewesen wären wir nach dieser Ansicht das Produkt von Chemie, Physik und Biologie, von gänzlich unpersönlichen Prozessen, die, sobald wir mit der Welt jenseits unserer Haut und mit dem Reich von Körper und Geist in Kontakt treten, unsere Erfahrung hervorbringen. Die Empfindung eines Selbst, eines »Ich«, das all diese Erfahrungen macht, das diese Gedanken denkt, diese Gefühle fühlt, das Entscheidungen trifft und auf diese oder jene Weise handelt, ist nur ein Epiphänomen: ein Nebenprodukt komplexer biologischer Prozesse. Sowohl die Ichempfindung als solche als auch unsere Persönlichkeit sind in einem tiefen Sinne unpersönlich, wenn auch eindeutig einzigartig und im relativen Sinne wirklich, so wie auch unser Gesicht einzigartig und relativ gesehen wirklich ist, wenn auch bei Weitem nicht alles, was wir sind.
Wenn dem so wäre, was würden wir verlieren? Und was könnten wir durch eine solch radikale Verschiebung des Blickwinkels hin zu einer größeren, umfassenderen und vielleicht grundlegenderen Sichtweise gewinnen?
Was wir verlieren würden, wäre unsere übertriebene Identifizierung mit praktisch jeglicher inneren wie äußeren Erfahrung als »ich«, »mich« und »mein« anstelle einer Sichtweise, für die sich die Phänomene entsprechend verschiedener Ursachen und Bedingungen entfalten oder sie, wie man sagen könnte, einfach geschehen. Wenn wir lernen könnten, die Art und Weise, wie sich eine Ichempfindung um Geschehnisse und Erscheinungen herum kristallisiert und sich dann, koste es, was es wolle, selbst behauptet, infrage zu stellen, wenn wir uns fragten, ob diese Ichempfindung grundlegend real ist und nicht bloß ein Konstrukt des Geistes, und wir untersuchen wollten, ob sie unveränderlich oder in ständigem Wandel begriffen ist, und bedenken würden, wie wichtig unsere Ansichten in jedem Moment in Relation zum größeren Ganzen sind, dann wären wir vielleicht nicht