Werner Huemer

Über den Kopf hinaus


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gesagt, habe ich nie geglaubt, dass man überhaupt Wissenschaft nur zum Selbstzweck betreiben könnte. Es ist mir bis heute eine ganz absurde und gruselige Vorstellung, dass es Menschen gibt, die einfach Wissenschaft betreiben um der Wissenschaft wegen. Das ist ähnlich wie Künstler um der Kunst willen Kunst machen. Ich glaube, dass wir soziale Wesen sind und auch das ganze Leben lang soziale Wesen bleiben, wenn wir nicht Pech haben und aus unseren sozialen Gemeinschaften hinausgejagt werden. Es mag Künstler gegeben haben, die ganz einsam geworden sind, weil sie keiner mehr mochte und weil sie nirgendwo mehr richtig dazugehören durften. Es mag in der Vergangenheit auch Wissenschaftler gegeben haben, die sich in die Wissenschaft geflüchtet haben, weil sie mit den Menschen nichts mehr zu tun haben wollten.

      Wir sind aber in einem viel stärkeren Maße, als wir uns das zuzugestehen bereit sind, sozial organisierte Wesen. Es gibt uns eigentlich in Einzahl gar nicht. Kein Mensch könnte, wenn er wirklich alleine aufwachsen würde, irgendetwas. Er könnte nicht nur nicht sprechen – wir brauchen da gar nicht über Lesen und Schreiben oder über die Nutzung moderner Medien reden –, der Mensch hätte auch keine Mimik und Gestik, mit der er sich verbal und nonverbal verständigen könnte. Noch nicht einmal auf zwei Beinen würden wir alleine laufen lernen, wenn nicht irgendjemand da wäre, der uns zeigte, wie das geht, wenn wir nicht unseren Eltern nacheifern würden oder älteren Kindern, die schon auf zwei Beinen gehen können. Also haben wir uns möglicherweise mit unserer sehr individualistischen Vorstellung aus dem vorigen Jahrhundert doch ziemlich geirrt. In Wirklichkeit gibt es uns als Einzelwesen gar nicht – was nicht heißen soll, dass nicht jeder von uns ein einzigartiges, soziales Wesen ist. Das ist das Besondere am Menschen: Wir bilden keine Ameisenstaaten, wo alle gleich sind, sondern wir haben über die gesamte Evolution hinweg etwas entwickelt, was uns wahrscheinlich auch die Möglichkeit geschaffen hat, die wunderbaren Kapazitäten in unserem Gehirn auszubilden. Das nennt man individualisierte Gemeinschaft. Individualisierte Gemeinschaft ist etwas anderes als die Herde, wo alle hinter einem Leit-Büffel her rennen. Es ist auch etwas anderes als ein Ameisenoder Bienenstaat, wo über Botenstoffe alle so aneinander gekettet werden, dass sie wie ein einziger Organismus reagieren. Individualisierte Gemeinschaft heißt: auf jeden kommt es an. Wenn einer was will, kann er das allen anderen mitteilen und gleichzeitig kann keiner allein irgendwo auch nur einen Tag überleben.

      Wir haben uns eingeredet, dass wir alleine leben könnten. Daraus ist eine sehr egozentrische Weltsicht geworden. Die Ergebnisse dieser bedauerlichen Entwicklung können wir heute ja überall auf der Welt besichtigen. So werden wir nicht mehr lange überleben können.“

       Was müssten wir gesellschaftsweit ändern, um eine neue Richtung einzuschlagen, Potentiale zu entfalten und von der Egozentrik wegzukommen? Welche Ansatzpunkte sehen sie?

      Hüther:

      „Wissenschaft kann niemals sagen, wie man es machen muss. Wissenschaft kann nur helfen zu begreifen, worauf es ankommt. Was die Hirnforschung in den letzten Jahren herausgearbeitet hat, ist, dass es vielleicht darauf ankäme, anders miteinander umzugehen, dass wir eine andere Beziehungskultur entwickeln und dass wir vor allen Dingen damit aufhören sollten, uns gegenseitig wie Ressourcen zu behandeln. Das ist es ja, was uns passiert ist, weil wir in der Vergangenheit im wesentlichen alles, was es draußen gab, als Ressourcen ausgenutzt haben. Das gilt nicht nur für die Bodenschätze, das gilt auch für Pflanzen und Tiere, die wir als Nahrungsmittel-Ressourcen züchten und verwerten, das gilt sogar für Menschen. Wir haben andere Menschen zu Ressourcen gemacht – schon lange. Die Sklaven waren Ressourcen. Manche Menschen machen heute ihre eigenen Kinder zu Objekten ihrer Erziehungsmethoden. Wenn man aber als Mensch erleben muss, dass man zu einem Objekt gemacht wird – ist man nur noch ein Arbeiter, der dazu beizutragen hat, dass der Gewinn im Unternehmen steigt, oder man ist nur noch ein Schüler, der seine Pflicht als Schüler zu tun hat –, dann ist man nicht mehr eine Persönlichkeit, sondern nur noch als Funktion in einem System abgestempelt.

      In diesem System kann sich aber kein Mensch halten, da kann keiner seine Potentiale entfalten, da bleibt ihm, wenn er überleben will, eigentlich nichts anderes übrig, als sich anzupassen. Indem ich mich aber anpasse, höre ich auf, etwas Eigenes zu wollen. Ich fange an zu denken wie alle anderen, eigne mir dasselbe Wissen an wie alle anderen und werde Teil dieses kollektiven Breis Angepasster.

      Eine Gesellschaft versucht natürlich, ihre nachwachsende Generation immer wieder in diesen kollektiven Brei hineinzuziehen, weil dieser vertraut ist und auch ein bisschen Stabilität bietet … Besitzstandswahrung heißt das Stichwort dazu. Also werden die Objekte, die Kinder und Jugendlichen, mit Hilfe von Belohnung und Bestrafung angepasst, bis sie ihre eigenen Kinder auch wieder mit Belohnung und Bestrafung anpassen an das, was schon vorgegeben ist. Das ist eine Ressourcenausnutzungsgesellschaft, die den anderen als Objekt behandelt. Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, diese Art von Umgang miteinander zu beenden. Sie musste ja auch kommen, weil wir alle wissen, dass wir die Ressourcen, die es auf der Welt gibt, nicht beliebig lang ausbeuten können. Irgendwann sind sie verbraucht. Deshalb erleben wir jetzt einen neuen Übergang von der Kultur, die bisher alles beherrscht hat – der Kultur der Ressourcenausnutzung mit richtig schönen Hierarchien, die für das Funktionieren dieses Systems sorgen, zu einer Kultur, in der die Menschen anfangen, das zu machen, was das Schönste ist, was Menschen überhaupt machen können, nämlich sich gegenseitig helfen, um die in ihnen angelegten Potentiale zu entfalten.“

       Wie Sie es einmal in einem Gespräch formuliert haben: „Zitronenbäume pflanzen statt Zitronen ausquetschen …“

      Hüther:

      „Wenn man ein Gleichnis für diese andere Kultur sucht, dann ist es schon sehr zutreffend, dass man sich als Bild beispielsweise eine Zitronenpresse vorstellt, die in der Vergangenheit Zitronensaft hergestellt hat. Dabei wurde immer nur das Auspressen von Zitronen optimiert, alle Ernten wurden zusammengekauft und es wurde Saft produziert. Was jetzt anstünde, wäre eben, dass man merkt: so viele Zitronenbäume, um weiter Saft produzieren zu können, gibt es nicht mehr. Jetzt wäre es an der Zeit, damit anzufangen, neue Zitronenbäumchen zu pflanzen, damit wieder Zitronen heranwachsen. Das ist Potentialentfaltung. Es ist eine andere Kultur, die sich nicht von oben nach unten entwickelt, die auch keiner anordnen kann.

      Damit andere Menschen ihre Potentiale entfalten können, kann man sie nur einladen, ermutigen, ihnen die Gelegenheit bieten, selbst die Erfahrung zu machen, was noch alles in ihnen drinsteckt. Das heißt, es wird eine sehr liebevolle Kultur, in der nicht mehr einer auf Kosten von anderen lebt und sich ständig irgendwie hervortun muss.

      Im Augenblick definieren sich schon Kinder dadurch, dass sie sagen: „Ich bin der, der das besser kann als die anderen.“ In Zukunft wird das anders gehen, in Zukunft wird man sagen: „Ich bin der, der mit diesen besonderen Begabungen, mit diesen besonderen Fähigkeiten, mit diesem besonderen Wissen, auf diese besondere Weise dazu beiträgt, dass das, was wir alle gemeinsam tun, nämlich diese Erde zu erhalten, auch wirklich gelingt.“

      Diese potentialorientierte Ich-Positionierung führt uns zurück zu dem berühmten Zitat von René Descartes, das dieses Kapitel eingeleitet hat: „Ich denke, also bin ich“. Die Praxis zeigt, dass Gedanken sich kaum von persönlichen Erlebnissen und Empfindungen trennen lassen. Sie stehen also mit bewussten Erfahrungen in Verbindung. Aber wer erfährt? Was ist das „Ich“, von dem wir so selbstverständlich sprechen? Woher kommt dieses Etwas, das uns die Welt – und auch uns selbst – erleben lässt? Das sich einerseits Tag für Tag mit den Erlebnissen und Erfahrungen zu verändern scheint – und andererseits in seinem sonderbaren Eigenleben doch unberührt verbleibt von den Wachstums- und Alterungsprozessen des Körpers?

      Diese Frage wird uns in der Folge noch öfter begegnen. Sie hat in der Vergangenheit schon viele Gelehrte und Theologen beschäftigt.

      David Hume (1711–1776) zum Beispiel, ein schottischer Philosoph, formulierte etwa ein Jahrhundert nach Descartes sinngemäß, dass es sich beim menschlichen Ich um gar nichts Feststehendes, Unveränderliches handle, sondern um ein Bündel verschiedener Bewusstseinsinhalte. Mit dieser Ansicht könnte man Hume als Wegbereiter für die heutige Sichtweise bezeichnen, der zufolge unsere Ich-Wahrnehmung kein klar abzugrenzendes Bewusstseinsphänomen ist,