Werner Huemer

Über den Kopf hinaus


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Kulturleistungen, die wir uns offenbar immer wieder gegenseitig beibringen und auch unseren Kindern, ist die Abtrennung des Denkens vom Fühlen. Praktisch geht das gar nicht. Wir würden in dem Strom der Sinneswahrnehmungen ertrinken, allein schon durch das, was wir hier alles in diesem Raum wahrnehmen können, wenn wir nicht in der Lage wären, einzelnen Wahrnehmungen eine Bedeutung zu geben. Bedeutsam wird für uns immer dann etwas, wenn es affektiv aufgeladen wird, das heißt, wenn sich irgendetwas mit einem Gefühl verbindet. Dann wird auf einmal das, was ich dort sehe, wichtiger als jenes – weil ich damit etwas verbinde, was auch an Gefühle gekoppelt ist.“

       Gemeinhin hat man lange unterschieden zwischen dem physischen Körper und einer nichtphysischen Seele. Heute verorten viele Wissenschaftler die Seele im Gehirn und sagen, Seele ist gleich Gehirntätigkeit. Was für ein Menschenbild haben Sie als Gehirnforscher?

      Hüther:

      „Es ist schwer, diese alten, gewachsenen, ewig diskutierten Vorstellungen „Was ist der Geist? Was ist die Seele? Und was ist das Gehirn?“ so auseinander zu teilen, wie man das eigentlich machen müsste.

      Etwas, das mir sehr, sehr wichtig ist: Ich verstehe den Menschen als ein Wesen, das auf der Suche ist. Und seine Suche ist, wie bei allen Lebewesen, von den bisherigen Erfahrungen geprägt. Im Laufe seines Lebens macht jedes Lebewesen Erfahrungen. Diese Erfahrungen werden dann in innere Strukturen verwandelt. Das ist, nebenbei gesagt, genau so, wie wenn man in einem Staat eine Verwaltungseinheit aufbaut. Erst einmal wird das Verwaltungssystem aufgebaut, es gewinnt eine eigene Struktur, und die bestimmt dann, wie es im Staat weitergeht. Und so werden im menschlichen Gehirn Erfahrungen in Netzwerkstrukturen verwandelt, und die bestimmen dann, wie man handelt. Das heißt, das menschliche Hirn verwandelt gewissermaßen Immaterielles, nämlich Erfahrungen, in Strukturen, Netzwerkstrukturen. Und dann werden diese Netzwerkstrukturen wieder benutzt und aktiviert, um etwas Immaterielles, nämlich Gedanken, Worte, Ideen hervorzubringen, so dass wir wahrscheinlich mit der alten Trennung – dies ist körperlich und das ist geistig – sowieso nicht weiterkommen. Die Physiker haben uns das schon längst gelehrt. Wahrscheinlich kommen wir auch mit dem alten, aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Ursache-Wirkungs-Denken nicht mehr weiter. Wir sind keine Maschinen. Wir sind Wesen, die sich selbst organisieren.

      Der wunderbare neue Begriff der Selbstorganisation ist zwar schon sehr alt, aber man versteht ihn erst jetzt zunehmend. Steckt in diesem Selbstorganisationsprozess doch etwas, das mit der Seele zu tun haben könnte, wie wir sie in der Vergangenheit beschrieben haben, nämlich die Intentionalität. Es kann sich ja nur etwas selbst organisieren, wenn es irgendwas will. Selbst ein Hefekloß, den ich mit ein bisschen Butter, Wasser, Milch und Mehl anrühre, damit er aufgeht, würde, wenn ich ihn fragen könnte „Was willst du?“, antworten: „Ich will wachsen, ich will es weiter warm haben.“ Alles, was lebt, ist intentional unterwegs. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, der Mensch ist ein Suchender. Seine Intention ist, nach Formen des Zusammenlebens zu suchen, die sich mit den Erfahrungen decken, die er vorher schon gemacht hat.

      Am Anfang seines Lebens sind das zwei ganz einfache Erfahrungen. Die eine heißt Verbundenheit – schon vor der Geburt waren wir mit der Mutter so eng verbunden, wie man sich das gar nicht mehr vorstellen kann – und die zweite Grunderfahrung aller Menschen heißt Wachstum, eigene Weiterentwicklung und auch Kompetenzerwerb, heißt: immer autonomer werden und auch immer freier. Deshalb suchen Menschen nach etwas, was sehr schwer zu finden ist, nämlich nach einem Zustand, nach einer Art von Beziehung, in der sie gleichzeitig verbunden sind und frei.“

      Sie haben in einem Interview einmal sinngemäß gesagt, unser Gehirn wird so, wie wir es benutzen. Gleichzeitig aber stehen Sie den Möglichkeiten, das Gehirn in einer bestimmten Art zu trainieren, wie man einen Muskel trainiert, skeptisch gegenüber und weisen eher auf die Bedeutung von Begeisterung hin, auf die Notwendigkeit, sich als Mensch für etwas einzusetzen. Warum ist dieser Impuls der Begeisterung so wichtig?

      Hüther:

      „Wir haben im vorigen Jahrhundert ja geglaubt, das menschliche Hirn würde sich gar nicht ändern, es wäre durch genetische Programme zusammengebaut, also fast wie in einer Autofabrik: Man hat Einzelteile, Nervenzellen, man hat einen Bauplan, ein genetisches Programm – und dann kriegt man ein fertiges Auto oder ein fertiges Hirn. Damit fährt man eine Zeitlang rum, bis es sich abnützt. Zuletzt kommt das Auto auf den Schrottplatz und der Mensch ins Altersheim.

      Das war ein sehr lineares Denken, das für das Leben so nicht funktionieren kann. Tatsächlich haben die Hirnforscher Ende des vergangenen Jahrhunderts mit Hilfe neuer bildgebender Verfahren viele Befunde zu Tage gefördert, die gezeigt haben: Nein, das menschliche Gehirn ändert sich – bis ins hohe Alter. Wenn der Mensch was anderes macht, bilden sich neue Netzwerke. Sie können jonglieren lernen oder ein Musikinstrument spielen – und ein halbes Jahr später kann man zeigen, dass da neue Schaltungen im Hirn entstanden sind. Allerdings hat man dann im Wahn der damaligen Zeit – dem einer Leistungsgesellschaft – geglaubt, das Hirn sei ein Muskel. Man muss es nur viel benutzen, damit es schön dick wird. Also hat man Hirntrainings verordnet.

      Alle Menschen haben sich eingebildet, sie müssen sich nur richtig anstrengen, dann wird aus ihrem Gehirn auch noch mal etwas anderes werden. Und das war wieder falsch. So funktioniert das Hirn auch nicht, es ist keine Maschine, es ist auch kein Muskel, man kann es nicht allein auf Leistung trainieren, sondern das Hirn ist ein besonderes Organ, das aufpasst, dass es mir gut geht. Deshalb hat es eine Art Sensor für Wichtigkeit. Eine Sache muss wirklich wichtig sein, und zwar nicht für die anderen, sondern für mich, dann ändert sich das Gehirn.

      Etwas wirklich Wichtiges erkennen wir daran, dass es uns unter die Haut geht, dass es uns begeistert, dass es uns interessiert, dass es uns etwas angeht. Immer, wenn das passiert, werden im Hirn bestimmte Zellgruppen aktiviert, im Mittelhirn, also tief unten, die haben wunderbare, lange Fortsätze – und immer, wenn die aktiviert werden, weil uns etwas unter die Haut geht, werden an den Enden dieser langen Fortsätze sogenannte „neuroplastische Botenstoffe“ ausgeschüttet. Die wirken tatsächlich wie Dünger auf das Netzwerk dahinter, das man im Zustand der Begeisterung so intensiv genutzt hat, zum Beispiel, um Probleme zu lösen, ein Tennisspiel zu gewinnen oder irgendetwas Schönes, Gestalterisches zustande zu bringen. Deshalb wird man bei dem, was man mit Begeisterung tut, so schnell so viel besser. Deshalb kann man sich das, was einem unter die Haut geht, auch so gut merken.

      Deshalb ist es so wichtig, dass auch in unserem Schulsystem und in den Bildungseinrichtungen endlich diese Botschaft ankommt: dass es nichts nützt, wenn man sich anstrengt, dass man sich noch so sehr anstrengen kann mit den Hausaufgaben und mit dem Auswendiglernen – das geht rein und kommt gegenüber wieder raus –, wenn es nicht wirklich unter die Haut geht, wenn es nicht gedüngt wird. Wir müssten eigentlich eine Kultur entwikkeln, in der wir uns nicht gegenseitig dauernd entgeistern, sondern wir müssten versuchen, uns ein bisschen gegenseitig zu begeistern, müssten uns einladen und inspirieren, uns noch einmal auf etwas Neues, vor allen Dingen auf etwas, was uns unter die Haut geht, einzulassen.“

       Meinen Sie, kann man Begeisterungsfähigkeit erlernen, indem man sich bewusst mit Dingen beschäftige? Oder ist die Begeisterungsfähigkeit von vornherein im Menschen angelegt?

      Hüther:

      „Das Interessante ist ja, dass sich Kinder offenbar schon mit einer unendlichen Begeisterungsfähigkeit auf den Weg machen. Kleine Kinder haben am Tag fünfzig- bis hundertmal einen Begeisterungsschub in ihrem Hirn, da wird fünfzig bis hundertmal diese Düngergießkanne mit den neuroplastischen Botenstoffen aktiviert, deshalb lernen sie auch so viel.

      So, und nun schicken wir sie in die Schule, und dann müssen sie zum Studium, und dann geht der Mensch zur Arbeit. Sie ahnen schon, was passiert … Man muss eher etwas dafür tun, dass die Begeisterungsfähigkeit nicht verschwindet. Es wäre gut, wenn sie nicht so schnell verschwinden würde! Aber natürlich kann man sie bis ins hohe Alter wieder entdecken. Aber neu produzieren braucht man sie nicht. Jeder Mensch kommt mit einem riesigen Rucksack voller Begeisterung auf die Welt, aber bedauerlicherweise wird ihm der oft leergeräumt.“

       Sie sind bekannt dafür, dass Sie Erkenntnisse aus der Gehirnforschung praktisch nutzbar machen wollen. Wie sind Sie denn auf diesen Weg gekommen?