Interessanterweise können einzelne dieser Ich-Erlebnisse ausfallen, ohne dass die anderen davon betroffen sind. Es gibt beispielsweise Gehirntumor-Patienten, die ihre selbstreflexive Ich-Wahrnehmung verloren haben. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind und erkennen sich selbst nicht im Spiegel. Dennoch können sie als Ich ihre Umwelt wahrnehmen, ihren Körper spüren oder Zukunftspläne schmieden.
Manche Schlaganfallpatienten wiederum wissen sehr gut, wer sie sind oder wo sie sich befinden, aber sie haben jeden Bezug zu ihrem Körper verloren, fühlen sich als „Geister ohne Hülle“. Und dann gibt es beispielsweise Menschen mit neurologischen Störungen, die „nur“ ihre persönliche Verortung in Raum und Zeit eingebüßt haben. Sie erleben dadurch, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, finden das aber durchaus normal.
Auch wenn bei einem gesunden Menschen alle diese unterschiedlichen „Ich-Verknüpfungen“ funktionieren, stehen im Alltag abwechselnd immer wieder andere Wahrnehmungsfacetten im Vordergrund: Wir denken beispielsweise über etwas nach, bei anderer Gelegenheit verspüren wir Durst, irgendwann einen Schmerz, danach führen wir ein Telefonat, wir rufen uns ein schönes Erlebnis in Erinnerung – und so weiter. Streng genommen sind all das unterschiedlichste Bewusstseinsleistungen, die wir aber wie selbstverständlich als einheitliches Ich-Erlebnis erfahren.
Die Fähigkeit des Gehirns, Einzelbilder oder Audio-Sequenzen zu einem Gesamterlebnis zu verknüpfen, zeigt sich übrigens auch beim Betrachten jedes Spielfilms: In Wirklichkeit werden dem Zuschauer dabei ja immer nur einzelne Szenen präsentiert, die unabhängig voneinander gedreht und dann in einer Abfolge von Nahaufnahmen, Totalen, „subjektiven“ und „objektiven“ Blickwinkeln aneinander gefügt wurden, wobei die inhaltliche Kontinuität aus dramaturgischen Gründen manchmal sogar gezielt durchbrochen wird. Dennoch gelingt es uns mühelos, den fertigen Film als geschlossene Erzählung zu erleben (es sei denn, der Regisseur hat versagt). Das Gehirn fügt die einzelnen „Puzzleteilchen“ selbsttätig zusammen und ist damit im Grunde der eigentliche „Filmproduzent“ – so, wie es inmitten der Vielzahl alltäglicher Eindrücke, Aufgaben und Erfahrungen das Erleben einer „Ich-Kontinuität“ ermöglicht.
Erstaunlich ist übrigens auch, wie das Gehirn arbeitet, damit sich für das Ich eine Erlebniskontinuität formen kann. Die objektive Wirklichkeit – soweit es eine solche ohne subjektives Bewusstsein überhaupt gibt [Anm.: siehe dazu Kapitel 5] – findet nämlich nicht als kontinuierlicher Strom über die Sinnesorgane Eingang in unser Bewusstsein, sondern in einem Takt von ungefähr drei Sekunden. In diesem Rhythmus entwickelt das Gehirn aus den verfügbaren Informationen jeweils eine neue „Insel der Gegenwart“, wie es der deutsche Psychologe Ernst Pöppel ausdrückt. Ein subjektiver Moment entsteht. Auf diesen Drei-Sekunden-Takt ist die gesamte menschliche Wahrnehmung abgestimmt. Man hat festgestellt, dass alle Verszeilen in der Lyrik, egal aus welchem Land, und auch musikalische Werke in diesem Rhythmus schwingen. In jedem Gespräch versuchen wir unbewusst, diesem „lebendigen Takt“ gerecht zu werden und setzen, sobald wir etwas sagen, unbewusst im Drei-Sekunden-Rhythmus kurze Pausen, die üblicherweise allerdings kaum bemerkt werden. Bewusst wird uns die Notwendigkeit dieses Takts allenfalls, wenn jemand, um ihn einzuhalten, unbewusst allzu viele „Äähs“ oder „Mmms“ in seine Rede einfügt – oder überhaupt keinen Rhythmus findet, weil er vom Blatt liest. Derart „taktlosen“ Vorträgen kann man auch bei geschliffenster Rhetorik nur schwer folgen. Viele Zuhörer suchen in solchen Fällen deshalb das Weite – entweder physisch oder indem sie einschlafen.
Solche Befunde aus der Gehirnforschung zeigen die enge Verknüpfung von Gehirnleistungen mit unserem Bewusstsein. Dennoch wurde das bewusste Ich des Menschen bis in die jüngste Zeit hinein immer als etwas Nicht-Physisches betrachtet.
Descartes meinte zum Beispiel, dass der immaterielle Geist, der allein den Menschen intelligent und bewusst mache, mit dem Körper verbunden und das Gehirn daher nur eine Kontaktstelle für den Geist sei. Theologen und Dichter wie Angelus Silesius (1624–1677) sahen im „mystischen Ich“ eine geistige Verbindungsmöglichkeit mit Gott. Und auch für die Wissenschaftler der Neuzeit stand bis vor wenigen Generationen außer Frage, dass es sich beim menschlichen Ich um nichts Körperliches handelt, sondern um etwas Geistiges, um etwas Freies, das über einen Willen verfügt und das befähigt ist, Verantwortung zu übernehmen.
Diese Sichtweise konnte zwar bis heute nicht widerlegt werden, weil ein Gegenbeweis – etwa durch die Erzeugung eines künstlichen Ich-Bewusstseins auf materieller Grundlage – nicht geführt werden konnte. Dennoch aber gehen viele Forscher davon aus, dass auch das Bewusstsein von einem Ich im Gehirn generiert wird, dass es also ebenfalls im Körper seinen Ursprung hat.
Die Quälerei mit den „Qualia“
Welche konkreten Belege gibt es nun aber dafür, dass unser Ich-Bewusstsein im Gehirn entsteht und seinen Sitz doch nicht, wie man so lange glaubte, in einer immateriellen Seele hat?
Mit Hilfe der modernen Visualisierungstechniken entdeckte man ein Phänomen bei konzentrierter Wahrnehmung: Es wurde dokumentiert, dass sich bei bewussten Tätigkeiten große Verbände von Nervenzellen zusammenschließen und gleichartige Signale aussenden. Bewusstsein zeigt sich demnach – im Unterschied zum Unbewussten – durch das Senden von elektrischen Impulsen im Gleichtakt. Das ist zwar kein Beweis dafür, dass unser Gehirn Bewusstsein generiert, zumindest aber dafür, dass Bewusstsein deutliche Spuren im Gehirn erzeugt.
Allerdings kommen solche Signal-Sendungen im Rahmen der gesamten Hirntätigkeit nur selten vor. Man weiß heute zuverlässig, dass uns die allermeisten Vorgänge unter unserer Schädeldecke – wahrscheinlich sogar über 95 Prozent! – überhaupt nie zu Bewusstsein kommen. Der bei weitem überwiegende Teil aller Denkprozesse läuft unbewusst ab. Dabei übernimmt unter anderem das, was wir gelernt haben oder was uns geprägt hat, das Steuer. Und es wäre ja auch ein Jammer, müssten wir zum Beispiel jeden Schritt steuern, bewusst immer ein Bein vor das andere setzen, um laufen zu können. Indem das Gehirn alle Alltagsroutinen unbewusst erledigt, kann das Bewusstsein sich auf das Wesentliche konzentrieren – auf das, was ihm wesentlich ist.
Allerdings bleiben wir dabei bis zu einem gewissen Grad im Bannkreis des großen Unbewussten gefangen: Alte Prägungen beeinflussen neue Entscheidungen, und es kostet gewöhnlich viel Mühe, eingefahrene Alltagsroutinen, festzementierte Haltungen oder gar Süchte zu durchbrechen.
In einem einfachen Bild: Wir erleben uns in einem „Bewusstseinsraum“, den wir mit den „Bausteinen“ der eigenen Wünsche und Entschlüsse mit konstruiert haben, dessen Kellertür allerdings in einen unermesslichen „Untergrund“ führt – oder, um das Bild nicht düster zu zeichnen, hinter dessen „Eingangstür“ sich eine unermessliche Weite auftut, die ebenfalls zu unserem „Ich“ gehört.
Dabei sollte vielleicht auf einen Begriffsunterschied hingewiesen werden, der im Alltagssprachgebrauch manchmal nicht berücksichtigt wird: Das Unbewusste ist nicht unbedingt das Gleiche wie